Neuplatonisch

Neuplatonisch

Neuplatonismus ist eine moderne, erstmals in den Philosophiegeschichten von Thomas Gale (1670) und Dietrich Tiedemann (1791) eingeführte und seit etwa 1900 allgemein gängige, Bezeichnung für die spätantike philosophische Schule oder Strömung, die im 3. Jahrhundert aus dem Mittelplatonismus entstand und bis zum Ende der Antike im 6./7. Jahrhundert zahlreiche bedeutende Vertreter hervorbrachte. Er basiert auf den Lehren Platons und des Platonismus, deutet Platon aber teilweise anders als seine Zeitgenossen.

Inhaltsverzeichnis

Antiker Neuplatonismus

Als Begründer des Neuplatonismus gilt in der Forschung zumeist Ammonios Sakkas (175-242 n. Chr.), der in Alexandria lehrte, der bis in die ausgehende Spätantike hinein größten und bedeutendsten Forschungsstätte der griechisch-römischen Welt [1]. Da Ammonios aber nichts Schriftliches hinterließ und seine Lehren daher schwer greifbar sind, gilt sein Schüler Plotin bis heute als der eigentliche Erschaffer dieses letzten großen Systems der antiken Philosophie [2]. Erst im hohen Alter legte Plotin seine Philosophie in 54 Einzeltexten nieder, die sein wichtigster Schüler Porphyrios redigierte und in sechs Neunergruppen anordnete, weshalb sie unter dem Gesamttitel Enneaden (von griechisch «Neun») bekannt sind. Diese neuplatonische Schule wollte dort beginnen, wo Platons "System" nach Ansicht ihrer Vertreter unvollendet geblieben war:

  • Inwieweit sind die platonischen Ideen sinnfällig?
  • Was macht die Vielheit der Ideen zu einer Einheit?
  • Das Denken ist dem Wesen nach Transzendenz
  • Die Ideen sind nicht das schlechthin Absolute (Gott)
  • Dichotomie von Polytheismus und Monotheismus: muss es einen Höchsten geben, so, wie es Platon z. B. im Timaios aufgezeigt hatte?
  • Wie ist das Jenseitige zu denken?

Plotins Lehre steht den Grundgedanken der Lehre Philos von Alexandria nahe und bewegt sich damit ganz in der Tradition der Alexandrinischen Schule. In dem Unterfangen, die griechische Philosophie mit der jüdischen Religion zu vereinbaren, hatte Philo (1. Jahrhundert) den jüdischen Gott von allen konkreten Bestimmungen und Vorstellungen entkleidet, was den Beginn einer negativen Theologie darstellte. Für Plotin steht das Eine oder Höchste als Göttliches jedoch noch schroffer als bei Philo jenseits aller Gegensätze und aller Fasslichkeit [3]. Für Plotin liegt das Göttliche nicht nur jenseits der Personalität und Wesenheit, sondern selbst «jenseits des Seins» (epekeina tês ousias), «jenseits des Geistes» (epekeina nou) und damit auch jenseits des Denkens, wodurch eine philosophische Mystik begründet wird (Halfwassen 2004, S. 12).

Diese "mystische" Lehre mit ihren All-Einen war der vorangegangenen griechischen Philosophie, die bis etwa 200 vor allem von den Lehren der Stoa dominiert worden war, weitgehend fremd, entspricht darin aber nach Ansicht einiger Forscher der Grundstimmung der indischen Philosophie [4]. Dafür, dass die indische Philosophie speziell über Ammonios Sakkas einen Einfluss auf die Alexandrinische Schule und damit den Neuplatonismus gehabt haben könnte, zumindest aber in Alexandria bekannt war, sprechen auch folgende Worte von Plotins Schüler Porphyrios, in denen er die Hochachtung Plotins für Ammonios in einen Zusammenhang mit der Philosophie der Perser und Inder bringt. In seiner Biographie über Plotin schreibt er über dessen erste Begegnung mit Ammonios: „'Das ist der, den ich suchte'. Und von jenem Tage an sei er ununterbrochen bei Ammonios geblieben und so tief in die Philosophie eingedrungen, dass er auch die bei den Persern und bei den Indern gebräuchliche und angesehene Philosophie kennenzulernen trachtete“. Dieses Ziel verwirklichte Plotin direkt nach dem Tod seines Lehrers, indem er Alexandria verließ und sich im Jahre 243 n. Chr. einem gefahrvollen Feldzug der Römer (und Kaiser Gordian III.) nach Persien anschloss. Dieser Feldzug scheiterte jedoch, und Plotin gründete danach in Rom seine philosophische Schule.[5]

Oft werden in der Forschung für die Zeit nach Plotin verschiedene neuplatonische Schulen unterschieden (neben der athenischen und der alexandrinischen vor allem die lateinische, die syrische und die pergamenische Schule), wobei der Begriff "Schule" in diesem Zusammenhang nicht unproblematisch ist, da sich die einzelnen Philosophen jeweils durchaus nicht als zusammengehörig begreifen mussten und auch nicht immer als Gruppe organisiert waren. Neuplatonische Philosophie kann dabei immer grob als "Denken des Einen" bezeichnet werden, wobei dieser Urgrund des Einen als unbedingt und absolut angesehen wird. Indem sich das Denken dann selbst übersteigt in dem Heraustreten aus sich selbst (ekstasis), das auch die körperlich-materielle Ebene betrifft, kommt es in dem mystischen Aspekt dieser Philosophie zu einer unterschiedslosen Einung (Halfwassen 200S. 12). Plotin lehrte das Bestehen eines unbeschreiblichen Einen (griech. hén), das in der absteigenden Reihenfolge eines Niedergangs in die Seinsstufen des Weltgeistes (griech. noûs) mit den platonischen Ideen, der Weltseele (griech. psyché) und schließlich der physischen Welt (griech. kosmos) ausströme (so genannte Emanation). Plotin lehrte hier als erster überhaupt, dass die Seele auch die Materie erst hervorbringe, und deutet so die Weltschöpfung als die zeitlose Hervorbringung der gesamten erscheinenden Welt durch die Seele (Halfwassen 2004, S. 112). In dieser Ansicht des Weltlichen als bloße Erscheinung in Hinblick auf das Absolute besitzt der Neuplatonismus Verbindungen sowohl zur mittelalterlichen Mystik besonders bei Meister Eckhart, aber auch zur neuzeitlichen Philosophie im Deutschen Idealismus (siehe auch die Gegenüberstellung von Realismus und Idealismus in der evolutionären Erkenntnistheorie).

Später fügten neuplatonische Philosophen, besonders Iamblichos von Chalkis (gest. 333 n. Chr.), Hunderte von "Zwischengöttern" und emanierten Wesen zwischen dem Einen und dem Menschen hinzu (womit sie sich dem Polytheismus bzw. Henotheismus annäherten) und bedienten sich auch der Theurgie; Plotins System war vergleichsweise viel einfacher. Ein weiterer wichtiger Vertreter des Neuplatonismus war Proklos, der die Schriften seiner Vorgänger im 5. Jahrhundert in ein "System" brachte.

Zu den bedeutendsten neuplatonischen Philosophen der Spätantike gehören (neben Plotin, Iamblichos und Proklos) Porphyrios, Hypatia, Ammonios Hermeiou (der Lehrer zahlreicher Neuplatoniker des 6. Jahrhunderts), Olympiodoros der Jüngere, Damaskios und Simplikios. Der wichtigste lateinische Vertreter war der christliche Philosoph Boëthius.

Neuplatonismus und Christentum

Der Neuplatonismus wurde häufig als philosophische Grundlage des Paganismus herangezogen und zur Verteidigung des Heidentums gegen das Christentum. Die neuplatonischen Schulen von Athen und Alexandria galten bis ins 6. Jahrhundert als Reservate des Heidentums, was einen Hauptgrund für die Schließung der athenischen Schule durch den oströmischen Kaiser Justinian (traditionell datiert auf das Jahr 529, vermutlich aber erst später) darstellte. Die athenischen Neuplatoniker, darunter Simplikios und Damaskios, verließen zunächst das Reich und wanderten nach Persien aus, kehrten aber bald ins Oströmische Reich zurück. Vielleicht führten einige von ihnen den Lehrbetrieb noch mindestens bis ins 7. Jahrhundert in Carrhae fort. Die Schule von Alexandria passte sich dem christlichen Umfeld besser an als die athenische und blieb bestehen.

Da die Kirchenväter selbst neuplatonisch bzw. die früheren Kirchenväter mittelplatonisch gebildet waren, beruhen trotz der ablehnenden Haltung Plotins und Porphyrios’ gegenüber dem Christentum (siehe Artikel über Porphyrios) weite Teile der christlichen Dogmatik auf neu- /mittelplatonischem Gedankengut; diese Anverwandlung des Neuplatonismus ist besonders gut bei Augustinus von Hippo zu fassen, der in seinen Frühschriften das Christentum geradezu als Vollendung der Lehre Platons beschreibt; sogar seine Bekehrung geschah unter dem Einfluss der Schriften Plotins. Erleichtert wurde diese Adaption durch den Umstand, dass auch der pagane Neuplatonismus starke monotheistische bzw. henotheistische Tendenzen aufwies; die meisten Neuplatoniker gingen von der Existenz einer höchsten Gottheit aus.

Der christliche Neuplatonismus setzte dann in einer negativen Theologie das Eine mit dem Christengott gleich. Als wichtigster Vertreter gilt der Mystiker Dionysius Areopagita (um 500), dessen Werk in Mittelalter einen erheblichen Einfluss insbesondere auf Meister Eckhart ausübte; spätere Vertreter sind Johannes Philoponos sowie Boëthius und andere.

In der Forschung wurde auch eine umgekehrte Beeinflussung des Neuplatonismus durch die christliche Theologie diskutiert, die jedoch zumindest in den Anfängen bei Plotin sehr unwahrscheinlich ist und sich - wenn überhaupt - auf die späten Neuplatoniker beschränkt. Ebenso gibt es Beziehungen zur Gnosis, gegen die sich Plotin jedoch ausdrücklich abgrenzt und die vielmehr ihrerseits Gedanken der Platoniker, Mittelplatoniker und Neuplatoniker sowie des frühen Christentums zur weiteren Ausgestaltung ihres Systems übernahmen.

Renaissance-Neuplatonismus

Der Neuplatonismus erfuhr in der Renaissance durch Persönlichkeiten wie die Italiener Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola eine Neubelebung.

Siehe auch:

Literatur

  • Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Klostermann, Frankfurt/M. 1985, ISBN 3-465-01637-8.
  • Mubabinge Bilolo: Fondements Thébains de la Philosophie de Plotin l'Égyptien (Academy of African Thought & African Institute for Future Studies, Sect. I, vol. 9), Kinshasa-Munich-Paris 2007. ISBN 978-3-931169-00-8
  • Alexander Fidora (Hrsg.): Vom Einem zum Vielen. Der neue Aufbruch der Metaphysik im 12. Jahrhundert. Klostermann, Frankfurt/M. 2002, ISBN 3-465-03209-8
  • Matthias Gatzemeier: Neuplatonismus. In: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 2, Stuttgart/Weimar 2004, S. 991ff.
  • John Gregory: The neoplatonists. A reader. Routledge, London 1999, ISBN 0-415-18785-0.
  • Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51117-1.
  • Raif G. Khoury, Jens Halfwassen: Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkstrukturen in Judentum, Christentum und Islam. Winter Verlag, Heidelberg 2005, ISBN 3-8253-5006-1.
  • Carlos Steel: The changing self. A study on the soul in later neoplatonism; Iamblichus, Damascius and Priscianus. Paleis de Academie, Brüssel 1978.
  • Clemens Zintzen (Hrsg.): Die Philosophie des Neuplatonismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977, ISBN 3-534-06669-3.
  • Lutz Bergemann: Kraftmetaphysik und Mysterienkult im Neuplatonismus. Ein Aspekt neuplatonischer Philosophie. Saur, München 2006, ISBN 978-3-598-77846-9.
  • Verena Olejniczak Lobsien, Claudia Olk: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen. De Gruyter, Berlin 2007, ISBN 3-11-019225-X.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. M. Clauss: Alexandria – Schicksale einer antiken Weltstadt. Stuttgart 2003, S. 92
  2. Bilolo, M.: La notion de « l’Un » dans les Ennéades de Plotin et dans les Hymnes thébains. Contribution à l’étude des sources égyptiennes du néo-platonisme. In: D. Kessler, R. Schulz (Hrsg.), "Gedenkschrift für Winfried Barta Htp dj n Hzj", (Münchner Ägyptologische Untersuchungen, Bd. 4), Frankfurt; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien: Peter Lang, 1995, pp. 67-91.
  3. Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 204
  4. Störig 1988, S. 205
  5. In jedem Fall ist zu konstatieren, dass die Neuplatoniker stets eine besondere Faszination für Indien und Persien empfanden; es sind bis ins 6. Jahrhundert hinein Fälle von Philosophen bekannt, die selbst auf der Suche nach orientalischer Weisheit in den Osten reisten.

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