Nuer (Volk)

Nuer (Volk)

Die Nuer (auch bekannt als Nei Ti Naath) sind ein nilotisches Volk, das in Südsudan und im Westen Äthiopiens lebt.

Sie bewohnen die Feuchtgebiete am Weißen Nil und zweier seiner wichtigsten Nebenflüsse. Durch die Feldforschung des Ethnologen Edward E. Evans-Pritchard erlangten sie einen großen Bekanntheitsgrad. Die Nuer unterteilen sich in verschiedenen Gruppen. Die wichtigsten sind: Garjok, Garjak, Jekiang (Nasser District), Lau (Abwong district), Gaweir (Fanjak District), Lak und Thiang (Zeraf Island, Fanjak District), Western Nuer (Yivrol District).

In Sudan leben 740.000 Nuer (1982) und in Äthiopien 64.907 Nuer (Volkszählung 1998), hier vor allem in der Gambela-Region. Die Nuer sind akephal organisiert und traditionell Rinderzüchter. Die Rinder spielen eine wichtige Rolle in allen Bereichen ihres Lebens, von der Wirtschaft bis zur Religion.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Im ersten Jahrtausend n.Chr. ließ sich das Volk in der Region Bahr al Ghazal nieder, wo günstige Bedingungen für die Entwicklung ihrer Landwirtschaft herrschten. Im Laufe der Zeit entwickelten die Niloten ein Hirtesystem, kombiniert mit Landwirtschaft. Die Art und Weise wie sie ein Hirtenvolk geworden sind, ist nicht bekannt. Ihre Auswanderung ab dem 15. Jahrhundert führte zur Aufsplitterung des Volkes in mehrere Gruppen, die sich unabhängig und ohne zentralisierte Institutionen in verschiedenen Regionen am Nil niederließen: die Dinka, die Nuer, die Schilluk und die Luo waren geboren.

Im 18. Jahrhundert wanderten die Nuer gegen Osten. 1821 wurden Handelsstraßen eröffnet, die den Norden mit dem Süden verbanden. Sie brachten aber auch Krankheiten und Sklaverei, so dass die Bevölkerungszahl im Süden des Sudans drastisch abnahm. Im 19. Jahrhundert gab es einen gewaltigen Konflikt zwischen Nord- und Südsudan, unter anderem wegen des ägyptischen Überfalls im Norden des Landes (1821). Im 20. Jahrhundert eroberten die Briten, trotz einiger Widerstände, erfolgreich das Land (1900). Die britische Autorität setzte sich schließlich durch und es kam zur Pazifizierung. Die Ankunft der Ägypter und Engländer stoppte den Migrationsprozess der Nuer. Diese lebten fortan in einer isolierten und unzugänglichen Region, welche sie lange von der Invasion schützte. Aber nur schon eine Generation nach der Ankunft der Briten im Sudan, fielen auch sie unter die britische Autorität. 1956 wurde der Sudan unabhängig. Die Veränderung der Regierung, die unstabile Wirtschaft und die Unruhen führten von 1995 bis 1972 zum Bürgerkrieg zwischen dem Norden und Süden. Viele Nuer wurden zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Sie flohen vor dem Krieg in Nachbarstaaten, wie Kenias, und verloren dabei einen großen Teil ihrer Herde.

Am Ende dieser Krise bekam der Süden eine gewisse Autonomie, aber nicht alle Spannungen waren aufgelöst, so dass 1983 ein zweiter Bürgerkriegs im Sudan ausbrach, an dem die einen Nuer auf der Seite der Regierung und die andere auf der Seite der Rebellen teilnahmen. Parallel zu diesem Konflikt, tauchten im Süden alte Auseinandersetzungen auf, wie zum Beispiel die zwischen den Nuer und den Dinka, die für die Zersplitterung der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) verantwortlich sind. 2005 wurde ein Friedensabkommen von der Regierung und der SPLA unterzeichnet.

Ökologie

Das Nuerland befindet sich im Süden des Sudans, in welchem das typische Klima der Savanne herrscht. Das Nuerland ist topfeben. Die Landschaft wird nur spärlich von Bäumen oder Strauchwerk unterbrochen. Während der Dürre ist der Boden lehmhaltig und ausgetrocknet. In der Regenzeit, von Juni bis zum Dezember, ist er bedeckt von hohen Gräsern und teils überflutet. Das Jahr beinhaltet also diese zwei Jahreszeiten von etwa gleicher Dauer.

Der strenge Rhythmus von Überschwemmung und Trockenheit zwingt die Nuer in allen Bereichen zu einer Anpassung. Die aus Gras, Lehm und Holzstämmen gefertigten Hütten, die sie während der Regenzeit bewohnen, stehen wenn möglich auf leichten Erhöhungen, die sie vor der Flut schützen. Die Gründe ihrer periodischen Wanderungen sind erstens der Wassermangel, zweitens die Invasion von Insekten, welche die Rinder bedrohen.

Wirtschaft

Die Wirtschaft der Nuer basiert auf Viehhaltung, Ackerbau und Fischfang. Für den Großteil des Jahres sind sie Viehhalter. Das Vieh ist der Nuers höchster Besitz, für deren Schutz sie sie sogar ihr Leben riskieren würden. Jede Familie hat ihre eigenen Kühe. Hierbei sind die Rollen klar verteilt. Die Frau ist für das tägliche Melken und der Mann für das Hüten der Tiere zuständig. Das Vieh wird in erste Linie nicht für den Verzehr, sondern aufgrund der Milch gehalten. Milch zählt zu den Grundnahrungsmitteln der Nuer. Fleisch wird nur an wichtigen Festen gegessen, welche meist mit Ritualen verbunden sind, die die Opferung eines Tieres erfordern.

In der Regenzeit, wenn die Nuer aufgrund reißender Flüsse und Überschwemmungen in höher gelegene Gebiete flüchten, wird überwiegend Landwirtschaft betrieben. Die Frau pflanzt Hirse und Mais an, während sich der Mann weiterhin um die Tiere kümmert. Der Ackerbau ist stark von den saisonalen Bedingungen, der Gegebenheit des Bodens, aber auch vom Reichtum an Rindern abhängig.

Im Dezember, bei Beginn der Trockenzeit, bringen die Nuer ihre Herden wieder näher an die Flüsse. In dieser Zeit leben sie vorwiegend vom Fischfang, da viele Fische aufgrund des schwindenden Wassers in den Lagunen festsitzen und mit Sperren, Hacken oder Fischernetzen gefangen werden können.

Die Nuer sind zu dieser gemischten Wirtschaft gezwungen, da weder Vieh, Getreide, noch Fisch alleine eine genügende Ernährung bieten. Der Wegfall einer dieser drei Nahrungsquellen stellt eine Gefahr für die Existenz dar. Allfällige Agrarüberschüsse werden deshalb mit Nachbarn geteilt. Keines der Nahrungsmittel ist für den Markt gedacht, sondern allein für den Eigengebrauch.

Neben der Subsistenzwirtschaft existieren nur wenige Berufsfelder. Einige Männer sind Schmiede und produzieren Speere und Schmuck oder spitzen u. a. alte Hacken und Speere. Andere finden Arbeit in den arabischen Siedlungen oder in der Mission, wo sie verschiedene Aufgaben erfüllen und somit etwas Geld verdienen können.

Politik

Segmentäre Gesellschaft

Die Nuer sind durch ihr politisches System weltweit bekannt geworden. Unter anderem hat sich der Ethnologe Evans-Pritchard von 1933 bis 1938 mit ihrer politischen Organisation beschäftigt. Er spricht von einer „ordered anarchy“, einer regulierten Anarchie, und von segmentärer Gesellschaft. Letzterer Begriff bezeichnet eine bestimmte politische Organisationsform von Gesellschaften ohne zentralisierte politische Autorität.

Die Ebenen politischen Handelns sind Territorialsegmente, die politisch gleichrangig und gleichartig unterteilt sind. Dörfer gruppieren sich zu tertiären Stammessegmenten, die sich zu sekundären und primären Segmenten verbinden können. Eine Spannung zwischen zwei Tertiärsegmenten wird auf der nächsthöheren Ebene, der der Sekundärsegmente, aufgehoben.

Mehrere primäre Segmente bilden einen Stamm, die größte politische Einheit der Nuer. Der Stamm umfasst das größte Gebiet, innerhalb dessen Fehden durch Schlichtung beigelegt werden können und das im Konflikt nach außen zusammenhält.

Der Stamm tritt jedoch nur in Opposition zu anderen Stämmen als eine Einheit auf. Dies geschieht häufig bei Kämpfen um natürliche Ressourcen, oder auch bei Raubzügen gegen Nachbarvölker. Nach SAHUNS (1961) bilden sich territoriale Segmente überhaupt nur durch äußere Umstände. Sobald sich die Konfliktsituation löst, hören die Segmente auf zu handeln.

Ein Stammessegment hat praktisch dieselben Eigenschaften wie ein Stamm: Zugehörigkeitsbewusstsein, eine dominierende Lineage, territoriale Unterscheidung, ökonomische Ressourcen usw. Jedes Segment stellt quasi einen Miniaturstaat dar. Vom Staat unterscheidet er sich nur durch seine Größe.

Gesetze und der „Leopardenfell-Häuptling“

Die Nuer haben keine Gesetze im engeren Sinne. Im Falle eines Schadens, eines Ehebruchs usw. existieren jedoch konventionelle Entschädigungen. In diesem Zusammenhang könnte man von einer Art ziviler Gesetze sprechen, deren Wirksamkeit jeweils auch von der Position des Betroffenen in der sozialen und politischen Struktur sowie von dessen Abstammung und Alter abhängt.

In der Tat gibt es im Nuer-Land keine Institution oder Person, die die Aufgabe der Legislative, Exekutive oder Judikative erfüllt. Die Nuer sind ein klares Beispiel eines egalitären Systems; ihr Leben ist stark von der ‚Demokratie‘ geprägt, oft besteht indes die Gefahr der unkontrollierten Gewalt. Solche Auseinandersetzungen werden normalerweise durch Familienoberhäupter geregelt. In schlimmeren Fällen jedoch wird der so genannte „Leopardenfell-Häuptling“ einbezogen, um den Streit zu schlichten. Seine Hauptfunktion ist das Vermitteln zwischen verschiedenen Parteien. Da er allerdings kein endgültiges Urteil erzwingen, sondern lediglich die Handlungen und Anschauungen der streitenden Parteien beeinflussen kann, kommt ihm, gemäß Evans-Pritchard, eine rein religiöse Bedeutung, jedoch keine politische Macht zu.

Diese Ansicht ist höchst umstritten, denn der „Leopardenfell-Häuptling“ vertritt in seiner Funktion jeweils ein Bündnis entfernter Verwandtern, die durch ihren Zusammenschluss Fehden verhindern wollen. Je mehr diesem Bündnis angehören, desto größer ist der Druck, der auf den Parteien lastet, den Streit möglichst schnell beizulegen. Aus dieser Sicht kann man dem „Leopardenfell-König“, als dem Oberhaupt dieses Verwandtschaftsbündnisses, eindeutig politische Macht zuschreiben.

Soziale Organisation

Lineage

Unter Lineage versteht man eine unilineare Abstammungsgruppe. Die Nuergesellschaft ist patrilinear. Das heißt, die Abstammung wird durch die väterliche Linie bestimmt, wobei alle Mitglieder von einem einzigen Vorfahren abstammen. Zudem sind die Lineages wichtig für die Kontrolle und Verteilung der Ressourcen, und neigen dazu in die territorialen Segmente über zu fließen. Die Segmentierung des Nuer-Klans weist viele Charakteristiken auf, welche auch in der Struktur des Stammes gefunden werden. Zwei Lineages, welche einander egalitär gegenüber stehen, setzen sich nur gegenüber einer dritten Lineage zusammen. Lineages sind extrem relative Gruppen wie Stammessegmente und wie diese auch, sehr dynamisch.

Ein Klan ist das System von verschiedenen Lineages. Das stärkste Charakteristikum einer Lineage ist, dass die Beziehung eines jeden Mitgliedes zu einem anderen anhand der Genealogie exakt definiert werden kann. Aber auch Beziehungen zu Mitgliedern einer anderen Lineage desselben Klans sind bekannt, da selbst die Lineages genealogisch verbunden sind und auf einen einzigen, gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Beispielsweise ist Klan A segmentiert in sog. maximale Lineages B und C. Diese gabeln sich weiter in die kleineren Lineages D, E, F und G. Diese spalten sich wiederum in noch kleinere auf usw., bis sogenannte minimale Lineages erreicht sind. Im Nuerland gibt es mindestens 20 solcher Klane.

Nuer-Klans und -Lineages sind keine lokal gebundenen Gemeinschaften. Sie sind überall sehr verstreut, so dass in jedem Dorf Angehörige verschiedener Klans gefunden werden können. Migration und Abspaltung von den Dinka sind mögliche Gründe für die Zerstreuung und Durchmischung der Klans.

In der politischen Organisationsform der Nuer geben die Lineages das vorherrschende Ordnungsprinzip ab. Politische Beziehungen sind in die Verwandtschaftsbegriffe eingebettet. Verwandtschaft legt reziproke Verpflichtungen fest, die Verwandtschaftsgruppe ist somit das Produkt von Interpendenz. Die verschiedenen Lineages müssen über genügend Vieh verfügen, um attraktiv für allfällige Verwandtschaftsallianzen mit anderen Lineages zu bleiben.

Altersklassen

Innerhalb der Sozialeinheiten herrscht das Senioritätsprinzip: jeder etwas ältere ist gegenüber dem etwas jüngeren weisungsbefugt. Die alten Männer sind die Vorsitzenden der Verhandlungen, die jüngeren werden allenfalls angehört. Diese Benachteiligung gleicht sich jedoch im Generationenwechsel aus. Außerdem wird das Prinzip zum Teil dadurch durchbrochen, in dem die militärische oder auch politische Macht jüngeren Gruppen zufällt.

Heirat

Bei den Nuer ist die Heirat das wichtigste Übergangsritual. Die Nuer sind exogam. Um ein Mädchen als Braut zu bekommen, muss die Familie des zukünftigen Ehemanns eine Aussteuer in Form von Rindern bezahlen. Es ist auch möglich, dass eine Heirat nur darum arrangiert wird, weil die Familie finanzielle Probleme hat und obwohl das Mädchen noch sehr jung ist. Während der Pubertät müssen sich die jungen Frauen zwischen fünf und sieben Löcher pro Ohr für die Ohrenringe und ein Loch in der Mitte der Lippe stechen lassen. Außerdem müssen sie lernen einen Haushalt zu führen. Kommt eine Frau ins Heiratsalter, schmückt sie ihren Körper mit verschiedenen Schmuckstücken und trägt ein Stirnband aus Perlen. So wissen die Männer, dass sie im heiratsfähigen Alter ist. Wenn sie noch an keinen Mann versprochen sind, können sich die Interessierten mit ihren Verwandten um sie bewerben. Sie setzten sich in einen Kreis und erklären, weshalb sie an der Frau interessiert sind und schlagen eine gewisse Anzahl von Rindern vor, die sie der Familie im Falle einer Heirat geben würden. Diese Verhandlungen können einige Tage dauern. Erst wenn sich die Familien einig sind, wird der Frau ihr Bräutigam vorgestellt; sie hat das Recht, Einspruch zu erheben, falls sie mit der Wahl nicht einverstanden ist. Dies geschieht jedoch sehr selten, da die Heirat für die Familie der Frau einen finanziellen Gewinn darstellt.

Die Heiratszeremonie wird in zwei Teile unterteilt. Der erste Teil findet im Dorf der Braut statt. Die Familie des Mannes bringt der Familie der Braut die versprochenen Tiere. Nach dem Fest, bei dem Frauen und Männer getrennt voneinander tanzen, wird die Ehefrau von ihren Freundinnen in das Dorf des Mannes begleitet. Hier verbringt die Frau eine Nacht mit ihrem Mann. Am darauffolgenden Tag findet nochmals ein großes Fest statt, am Ende dessen die Frau mit ihren Freundinnen wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrt.

Die ersten zwei Jahre nach der Heirat verbringt die Frau noch bei ihrer Familie, wo ihr Mann sie besuchen kann. Danach zieht sie definitiv zu ihm, wird jedoch die folgenden zwei Jahre getrennt von ihm essen. Die Hochzeit ist erst nach der Geburt des zweiten Kindes endgültig geschlossen. Und erst nach der Geburt des dritten werden die Frau und die Kinder zu vollen Mitgliedern des Klans des Mannes.

Aber auch Scheidung ist nicht gänzlich unbekannt. Der häufigste Grund dafür ist das Fehlen von Kindern. Gebiert eine Frau keine Kinder, verlangt der Mann das Vieh, also den Brautpreis, zurück und schickt seine Frau zu ihrer Familie zurück. Bei den Nuer kommen Heiratsallianzen zwischen zwei Frauen vor: Die gebärende Frau übernimmt in der Folge die soziale Mutterrolle, während die Ehefrau die Rolle des pater, des sozialen Vaters, erhält.

Residenz

Die Nuer kennen keine fixe Residenzregel. Die individuellen Wahl der Residenz, ist sowohl von ökologischen, demographischen, als auch ökonomischen Faktoren abhängig. Die weit häufigste Residenzform ist die allerdings patrivirilokale, d. h. das Ehepaar wohnt beim Vater des Ehemanns. Eine häufige Alternative dazu ist die der patriuxorilokalen, bei der das Paar bei der Mutter des Ehemanns wohnt. Laut Evans-Pritchard, soll es unter den Nuer nicht ungewöhnlich sein, wenn der Mann bei der Familie seiner Frau wohnt.

Kultur

Sprache

Die Nuer-Sprache hat einen Wortschatz von zirka 3100 Wörtern und weist in vielen Bereichen eine gewisse Ähnlichkeit mit anderen nilotischen Sprachen auf. Mit der Dinka-Sprache hat sie wahrscheinlich mehr Ähnlichkeit als mit den anderen benachbarten Sprachen. Es wurden schon viele Möglichkeiten ausprobiert, eine geschriebene Standard-Sprache der Nuer zu schaffen, aber keine dieser Möglichkeiten konnte die unterschiedlichen Erwartungen erfüllen und die offizielle Regierung befriedigen.

Religion

Gott

Die Nuer glauben an einen einzigen Gott „kwoth“. Er ist Vater und Schöpfer der Welt und Beschützer der Menschen. Er ist unsichtbar, aber überall in der Welt anwesend, beziehungsweise im Himmel, so dass er von den Menschen getrennt ist. Dieser Gott hat keine irdische Form (Prophet, Kirche) und in den Metaphoren der Nuer wird er vor allem mit dem Wind oder Luft, die auch überall sind, assoziiert. Die Religion der Dinka beeinflusste den Glauben der Nuer.

Der Gott der Nuer weiß alles und erklärt alles. Er hat das Recht über Leben und Tod und wenn ein Unglück geschieht, ist es immer Gottes Wille. Daher akzeptieren die Nuer diese Unglücke und resignieren. Gott hat ihre soziale Organisation gebaut und ihre Moral gebildet; ein bescheidenes und friedliches Verhalten in einer Gesellschaft zieht Gottes guter Wille an und hilft Unglück zu vermeiden. Um in Harmonie mit Gott zu sein, müssen die Nuer zuerst in Harmonie mit den anderen Menschen leben. Ein Fehler kann durch eine Opferung verziehen werden; Gott ist ein Freund der Nuer und sie vertrauen ihm. Mensch und Gott kommunizieren durch Opferungen und Gebeten, die die Nuer in ihrem Alltag gebrauchen.

Die Nuer glauben auch an andere Göttlichkeiten. Diese sind in zwei Gruppen aufgeteilt: einerseits gibt es die Geister des Himmels, die mächtigsten, und andererseits die Geister der Erde. Wenn die Nuer diese Geister verehren, verehren sie zur gleichen Zeit ihren Gott.

Geister des Himmels

Viele Geister im Himmel kommen aus dem Glauben der Dinka. Auch die Kinder dieser Geister werden mehr oder wenig verehrt. Obwohl sie mit materiellen Elementen auf der Erde assoziiert werden, befinden sich diese Geister im Himmel, nah bei Gott, sie sind aber weniger mächtig als er. Deng (mit Krankheiten assoziiert), Teny und Diu sind die drei großen Geister des Himmels, aber es gibt eine Vielfalt von anderen:

- Col wird mit Regen und Licht assoziiert,

- Rang (oder Rangdit) wird mit Wildtieren und Jagd, aber auch mit Licht assoziiert,

- Nai mit dem Strauß,

- Wiu, Geist des Krieges

- Buk, weiblicher Geist der Flüsse

Die Geister des Himmels sind von besonderen großer Bedeutung für die ganze Gesellschaft, aber sie können sich mit einer bestimmten Familie verbinden, in dem sie auf die Erde kommen und von einem Menschen Besitz ergreifen besessen. Die Propheten sind endgültig von einem Geist besessen. Bei anderen Leuten erscheint die Besessenheit in Form einer zeitweiligen Krankheit. Ein Besessener braucht die Hilfe des Propheten, um zu wissen, welcher Geist dafür verantwortlich ist und was er will. Der Geist drückt sich nämlich durch den besessenen Mensch aus. Dann wird die Person geheilt, in dem sie den Geist durch eine Opferung eines Ochsen oder durch die Gabe von Tabak und Bier befriedigt. Diese Besessenheit setzt eine dauerhafte Beziehung zwischen Menschen und Geist, denn nach seiner Heilung sollen der Mensch und seine Nachfahren immer wieder den Geist durch Opferungen verehren. Wenn jemand diesen Geist vergisst oder ihn verachtet, ruft der Geist den Mensch, durch Unglücke zur Erinnerung auf. Daher werden Ochsen an Geister gewidmet, in dem man ein Zeichen aus Asche auf das Fell des Tieres malt. Diese Tiere werden auch nach Geist benannt und sollen nicht verkauft werden. Die Nuer folgen diesen Regeln aber nicht immer so streng.

Colwic sind auch Geister des Himmels. Der Geist eines vom Blitz getroffenen wird von Gott zu sich genommen, worauf er zu einem Colwic wird. Ihm zu Ehren werden Ochsen geopfert, damit er nicht zurück kommt und ihnen Unglück bringt; um den Tod von der Familie fernzuhalten und um sie zu reinigen, denn die Leute haben Angst vor dem Tod. Das Begräbnis einer Person die vom Blitz getötet wurde, ist von gewöhnlichen Begräbnissen zu unterscheiden: das Opfertier wird nicht durch einen Schnitt am Hals, sondern durch eine Lanze getötet, um den jähen Tod der Person darzustellen. Danach wird das Fleisch aufgeteilt und gegessen. Ist ein Colwic unzufrieden mit den Handlungen eines Menschen, kann er von ihm Besitz ergreifen. Der Unterschied zu den anderen Geistern des Himmels ist, dass der Colwic ursprünglich ein Mensch war, während die anderen Geister direkt von Gott stammen, etwa wie Gottes Söhne.

Geister der Erde

Sie sind von geringer Bedeutung, nehmen aber aktiv am Leben der Menschen teil. Sie werden nach Evans-Pritchard eingeteilt in: “totemic spirits“ (für eine ganze Gruppe), “totemistic spirits“ (für ein Individuum) , “nature spirits“ (Biel) und “Fetiches“. Lienhardt und Johnson benutzten eine andere Einteilung: “clan divinity” und “tutelary Powers” (Totems) “Powers of magical substance”, “talking Powers” (Fetisch) und “nature sprites” (Biel).

Die Geister der Erde nehmen die Gestalt eines natürlichen Wesens an und sind Gottes Äußerung. Löwen, Schlangen, Krokodile, Vögel, Flüsse und Pflanzen werden von den Nuer als Totem benutzt, das heißt, dass ein Geist in der Gestalt eines natürliches Wesens mit einer Lineage verbunden ist und den Namen oder den Titel für den Klan gibt. Die Lineage verehrt den Geist, nicht das Tier, das nur ein materielles Symbol für den Geist ist. Trotzdem sollen sie es nicht töten oder essen, sonst wird der Geist der Familie Unglück bringen (Krankheit oder verzerrte Kinder). Auch Ochsen werden ihnen gewidmet. Andererseits sollen diese Tiere aber auch die Menschen respektieren und ihnen nicht schaden. Ein natürliches Wesen wird nach einem ungewöhnlichen Ereignis Totem einer Lineage, und zwar dann, wenn sich ein Tier in einer seltsamen Weise gegenüber einem Menschen verhält. Aber ein Tier wird vor allem Totem, weil Mensch und Tier einen gemeinsamen Vorfahren haben. Nach den Erzählungen der Nuer, werden Mensch und Totemtier als Zwillinge von einer Frau geboren.

Propheten der Nuer

Die Propheten gelten als Mittler zwischen Mensch und Gottheit. Die meisten von ihnen kommen aus Prophetenfamilien, das Amt wird also vererbt. nichtsdestotrotz muss die Divination erlernt werden. Nach Vorstellung der Nuer haben die Propheten eine Kraft in ihrem Körper, die Johnson „Flesh“ nannte. Diese verleiht ihnen Beredsamkeit und verhilft zu Einflussnahme auf andere Menschen. Vorrangige Aufgaben der Propheten sind Heilungen und Intervention in Konflikten, um somit die Moralvorstellungen der Nuer in der Gesellschaft zu erhalten. Während der Kolonialzeit verloren sie an Bedeutung, da ihre Rolle von den Siedler übernommen wurde.

Christentum

Missionare begannen ihre Arbeit bei den Nuer ab 1940. Kirchen und christliche Kongregationen wurden, trotz eines gewissen Widerstands, gebaut.

Tanz und Musik

Sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen der Nuer lieben die Musik. Manche sind auch gute Sänger. Sie improvisieren ihre Lieder je nach Gelegenheit. Mit ihren Liedern loben sie ihre Herde, sie handeln sich aber auch um Heirat oder Konflikte. Die Nuer haben auch ein Wiegenlied. Alle ihre Lieder haben eine ähnliche Struktur (Strophen von ein oder zwei Zeilen und einen Refrain): die Strophen werden in schrillem Ton gesungen, der Refrain in tiefem, niedrigem Ton. Sie wiederholen sich selten genau, aber sagen oft dasselbe mit anderen Begriffen.

Die Musik ist sehr stark mit Tanz verbunden. Es gibt drei wichtigen Musikarten und die damit verbundenen Tänze.

Der Bul ist die Trommel der Nuer. Sie benutzen sie ein paar Stunden vor Sonnenuntergang für ihre Rituale (Hochzeit und Beerdigung) in ihren Dörfern. Es gibt einerseits zwei kleine Trommeln, die mit Stöcken geschlagen werden (regelmäßiger Rhythmus), und andererseits eine große Trommel die mit der Hand geschlagen wird (unregelmäßiges Rhythmus). Der Tanz ist sehr ähnlich wie der des Dom Piny.

An Hochzeiten gibt es einen Tanz der Ehepaare, bei dem die Gruppen der zwei Ehepartner sich einander gegenüberstellen. Während der Trockenzeit ziehen die Nuer an die Flüsse. Dabei nehmen sie ihre Trommel nicht mit, sondern bauen ein anderes Instrument, den Dom Piny, an Ort und Stelle.

Dom Piny ist ein Instrument, das man im Sudan nur bei den Nuer findet. Es wird nicht für Rituale im Dorf benutzt, sondern ersetzt lediglich die Trommel während der Trockenzeit. Der Dom Piny ist ein Schlaginstrument als auch ein Saiteninstrument:

Die kürzere (linke) Saite gibt einen tiefen Ton, die (rechte) längere Saite einen höheren. Das Instrument benötigt zwei Musiker: der erste sitzt davor. Mit einem kleinen Stock schlägt er schnell und regelmäßig die rechte Saite. Auf der anderen Saite dämpft er den Ton, in dem er einen Stock auf die linke Saite bei jedem zweiten oder vierten Schlag der rechten Saite drückt, sodass zwei Rhythmen möglich sind, die je nach Stimmung des Musiker gewählt werden. Auf der Gegenseite schlägt der zweite Spieler bei jedem zweiten Ton des ersten Musikers das Fell über das Loch.

Mit Dom Piny ist ein Tanz assoziiert. Die Männer tanzen mit ihrer Lanze und ihrem Schild, die Frauen tragen Schmuck. Die Männer sammeln sich in einem Kreis um das Instrument herum. Luftsprünge sind ein wichtiges Element dieser Tänze. Durch ihren Gesang und ihr Schreien antworten sie dem „kiit“, dem Leiter, wie ein Chorus. Zwei Gruppen stellen sich einander gegenüber, wie in einem Krieg. Die Frauen spielen hierbei nur eine geringe Rolle, sie tanzen außerhalb des Männerkreises und dürfen sich den Männern nur nähern, um mit ihnen zu tanzen, solange sie die Hände auf ihre Köpfe legen.

Thom ist ein individueller Tanz, in dem die einzelnen Tänzer oder Paare jeder der Reihe nach drankommen. Der Thom selbst ist auch ein Instrument, ein Art Lyra mit sechs Saiten, die mit der linken Hand gespielt werden. Mit der anderen Hand klopft der Musiker regelmäßig auf die Holzoberfläche.

Siehe auch

Literatur

  • I. R. Buchler: A Note on Nuer Residence. In: American Anthropologist. New Series, Vol. 65, No. 3, part 1, 1963, ISSN 0002-7294, S. 652–655.
  • William M. Clements (Hrsg): The Greenwood Encyclopedia of World Folklore and Folklife. Volume 1: Topics and Themes, Africa, Australia and Oceania. Greenwod Press, Westport CT u. a. 2006, ISBN 0-313-32848-X.
  • Robert O. Collins: The Southern Sudan in Historical Perspective. Transaction Publishers, New Brunswick NJ 2006, ISBN 1-412-80585-6.
  • Edward E. Evans-Pritchard: Kinship and Marriage among the Nuer. Clarendon Press, Oxford 1951.
  • Edward E. Evans-Pritchard: Nuer Religion. Clarendon Press, Oxford 1970, ISBN 0-19-823106-7.
  • Edward E. Evans-Pritchard: The Nuer. A Description of the Models Livelihood and Political Institions of A Nilotic People. Clarendon Press, Oxford 1940 (Nachdruck: General Books, Memphis TN 2010).
  • Ray Huffman: Nuer Customs and Folk-Lore. International Institute of African Languages & Cultures, London 1931 (New Edition: Routledge, London u. a. 2007, ISBN 978-0-7146-2689-5).
  • The Diagram Group (Hrsg.): Encyclopedia of African Peoples. Fitzroy Dearborn, Chigago IL u. a. 2000, ISBN 1-57958-267-2.
  • Archibald Norman Tucker: Tribal Music and Dancing in the Southern Sudan (Africa), at Social and Ceremonial Gatherings. A Descriptive Account of the Music, Rhythm, etc., from Personal Observation. William Reeves, London, 1933.

Weblinks


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