Oral History

Oral History

Oral History ist eine Methode der Geschichtswissenschaft, die auf dem Sprechenlassen von Zeitzeugen basiert. Dabei sollen die Zeitzeugen möglichst wenig vom Historiker beeinflusst werden. Nicht nur, aber gerade Personen aus der Unterschicht sollen auf diese Weise ihre Lebenswelt und Sichtweisen für die Nachwelt darstellen können.

Verwendet wird die Methode vor allem für die Alltagsgeschichte und Volkskunde, auch Lokalgeschichte. Der Begriff Oral History kam in den 1930er-Jahren auf und wird seit den 1960er-Jahren auch im deutschen Sprachraum verwendet. Fälschlicherweise wird er oft auf alle Formen des Gesprächs mit Zeitzeugen angewandt, obwohl die Methode gerade kein Gespräch, sondern das freie Sprechen beinhaltet.

Inhaltsverzeichnis

Ausgangspunkt

Historiker sind auf Quellen angewiesen. Da aber nur ein begrenzter Personenkreis (schriftliche) Quellen hinterlässt, besteht die Gefahr, dass Menschen außerhalb dieses Personenkreises von der Nachwelt unzureichend berücksichtigt werden. Dabei handelt es sich vor allem um Angehörige der Unterschicht; aber auch z. B. Manager haben nicht unbedingt von sich aus die Neigung, ihre Erinnerungen aufzuschreiben.

Eine herkömmliche Interviewtechnik, so die Befürchtung der Anhänger von Oral History, engt den Befragten zu sehr sein. Besser wäre es, den Zeitzeugen möglichst frei aus seinem Leben erzählen zu lassen, so dass der Zeitzeuge selbst entscheiden kann, was er für wichtig hält. Es geht dabei auch um Emotionen und Standpunkte, wie sie in anderen Quellen (Personenstandsakten, Nekrologe usw.) wenig vorkommen. Außerdem könne ein heutiger Historiker nicht wissen, welche Fragen einen Historiker in späteren Zeiten interessieren.

Vorgehensweise

Traditionell lässt man bei der Oral History seine Zeitzeugen frei erzählen. Das Erzählte wird mit einem Tonaufnahmegerät festgehalten. Schließlich muss der Historiker die Aufzeichnungen auf eine angemessene Weise in Schrift übertragen. Erst dann hat der Historiker eine schriftliche Quelle „selbst erschaffen“, aus der er zitieren kann. Allerdings bedeutet so ein Vorgehen einen erheblichen Arbeitsaufwand. Alternativ, um effizienter und zielgerichteter zu arbeiten, kann man

  • den Befragten vorbereiten,
  • mit Fragen lenken,
  • Erinnerungsstützen wie Fotoalben, persönliche Objekte, Tagebücher usw. einsetzen.

In einer Nachbearbeitung des Gesagten, eventuell mit dem Zeitzeugen, können Widersprüche geklärt oder Unklarheiten beseitigt werden.

Projekte

Steven Spielberg hat die Shoah Foundation gegründet, um möglichst viele Zeitzeugen zur Shoah aufzuzeichnen. Die Interviews mit Überlebenden sollen nach dem Aussterben dieser Generation die Erinnerung festhalten. Besonders in den Gedenkstätten zum Holocaust spielen authentische Interviews oder Filme mit Interviews eine zunehmende Rolle.[1]

Das Projekt Archimob (Archives de la mobilisation) des gleichnamigen Vereins um den Filmemacher Frédéric Gonseth, dem über vierzig Historiker und Filmschaffende angehören, sammelte zwischen 1999 und 2001 Zeugnisse über die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Aus 555 Videointerviews entstanden 22 Kurz-Dokumentarfilme sowie die Ausstellung L'Histoire c'est moi. Archimob ist das bisher grösste in der Schweiz durchgeführte Oral-History-Projekt.[2]

Das Kernteam von Archimob realisiert seit 2006 ein weiteres audiovisuelles Oral-History-Archiv mit dem Titel humem (von engl. humanitarian hemory). In den Jahren 2009 und 2010 wurden mit rund achtzig Persönlichkeiten aus der Entwicklungshilfe seit 1945 ganztägige Interviews geführt. Daraus entstanden ist der erste interaktive Dokumentarfilm der Schweiz, welcher an der Projektaustellumg "Die andere Seite der Welt" von 2011-2013 zu sehen ist.[3]

Kritik

Nur wenige Historiker betreiben die Oral History in der ursprünglichen, aufwändigen Weise, sondern benutzen durchaus Fragen und Nachfragen. Dies ist aber nichts anderes mehr als ein gewöhnliches Interview, wie es schon immer geführt wurde. Der Begriff Oral History wird mittlerweile oft als ein bloßes Synonym für Interviews in der Geschichtsforschung verwendet, oder für eine Geschichtsschreibung, die sich vor allem auf Interviews als Quelle stützt.

Gerade in der Frühzeit der Oral History wurden große Erwartungen mit der neuen Methode verknüpft: Eine „demokratische Geschichte“ wurde der „offiziellen Geschichte“ gegenübergestellt.[4] Dennoch sind auch die Interviews mit Zeitzeugen nur Quellen, die im Zusammenhang mit anderen Quellen interpretiert werden müssen. Quellentechnisch sind sie ebenso kritisch wie Autobiografien zu sehen.

Siehe auch

Literatur

  • Lutz Niethammer: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Bodenheim, 1987. ISBN 3-8108-0142-9
  • Alexander C.T. Geppert: Forschungstechnik oder historische Disziplin? Methodische Probleme der Oral History, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45.5 (Mai 1994), 303-323
  • Geschichte lernen, Heft 76 Oral History, Friedrich Verlag Seelze 2000 Geschichte lernen
  • Uwe Kaminsky: Oral History, in: Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, hg. v. H.J. Pandel u. Gerhard Schneider, Schwalbach/Ts. 2002, 451-467 ISBN 3879204306
  • Sarah Jäggi: Arbeit im Gespräch: oral history zum Wandel der Arbeit seit 1970, herausgegeben von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Lehrmittelverlag des Kantons Aargau. Buchs, 2007 ISBN 978-3-906738-74-1
  • Gregor Spuhler et al. (Hg.), Vielstimmiges Gedächtnis, Beiträge zur Oral History, Zürich 1994 ISBN 3905311453
  • Herwart Vorländer (Hg.): Oral history - mündlich erfragte Geschichte, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990, ISBN 3525335687
  • Paul Atkinson (Hrsg.): Narrative methods. Band 3: Oral history and testimony. SAGE Publications. London u.a., 2007 (ND)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Friedhelm Boll /Annette Kaminsky (Hrsg.) Gedenkstättenarbeit und Oral History, Berlin 1999 ISBN 3830500335 pdf-Datei
  2. http://www.archimob.ch
  3. http://www.humem.ch
  4. Siehe dazu die selbstkritischen Äußerungen von Selma Leyesdorff: De mensen en de woorden, Amsterdam: Meulenhoff, 2004, S. 26/27.

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