Ousia (Aristoteles)

Ousia (Aristoteles)

Der griechische Begriff ousia (griechisch οὐσία) ist zentraler Ausdruck der antiken griechischen Metaphysik und Ontologie. Die geläufigste Übersetzung ist Substanz, andere sind: wahrhaftes Sein[1], auch Wirklichkeit oder Wesen[2]. Es handelt sich um ein vom Partizip seiend abgeleitetes Substantiv, eine wörtliche Übersetzung wäre Seiendheit.[3] Im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutet der Kollektivsingular ousia auch das Vermögen, d. h. die Gesamtheit der Einzeldinge, die einem Menschen gehören. Auch in der Alltagssprache verweist der Begriff demnach auf eine Einheit in der Vielheit.[4]

Inhaltsverzeichnis

Platon

Ousia als das wesenhafte Sein ist nach Platon nur der Vernunft (νοῦς, νόησις, φρόνησις), nicht aber der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich. Es meint das in sich selbst vollkommen Bestimmte (ὡρισμένον, πεπερασμένον), mit dem die Vollkommenheiten der Unvergänglichkeit, Unveränderlichkeit, Unteilbarkeit und Allumfassendheit verbunden werden. Der Begriff ist in sich festgefügt und zugleich in mannigfachige Beziehungen eingelassen.[5] Platon lässt sich kaum auf eine einheitliche Terminologie festlegen.[6] Ousia ist für ihn etwas ontologisch und erkenntistheoretisch Stabiles: „Über alles also, was viel ist, ist das Sein (he ousia) verteilt, und es verläßt nichts von dem Seienden (ton onton), weder das kleinste noch das größte.“[7] Ousia entsteht, wo das apeiron (Unbegrenzte) als das Nichtseiende (mê on) aus dem Einen (hen) als der Grenze (peras) Form, Bestimmtheit und Ordnung erhält.[8]

Unterscheiden lassen sich zwei Aspekte[9] von ousia, die miteinander sehr eng zusammenhängen:

  • das dauerhafte Wesen eines konkreten Einzeldings als das für das viele Einzelne einheitlich Eine, was das Einzelne selbst ist (αὐτὸ ὁ ἔστι)[10], im Gegensatz zur Erscheinung und den wechselnden Eigenschaften;
  • das Sein als das Ewige, Unveränderliche und als die Totalität aller Wesenheiten (πᾶσα ἡ οὐσία) im Unterschied nicht bloß zum Nichtsein (μὴ ὄν, μὴ οὐσία), sondern auch zum Werden (γένεσις).[11]

Ousia ist damit als Totalität das seiende Eine (ἓν ὄν), das als Einheit und Ganzheit (ἓν ὅλον τέλειον) alle Ideen umfasst. Damit bezieht sich ousia auf das, was in der Tradition als Ideenlehre bekannt ist, was jedoch von Platon mit verschiedenen Begriffen belegt wird, wobei ousia nur einer dieser Begriffe ist.[12] Die Idee ist das reine, mit anderem unvermischte Wesen. Sie lässt das Wassein oder die Wesenheit des einzelnen Sinnendings sehen (idein).[13] Der Idee kommt damit der Charakter des Unveränderlichen und Selbstidentischen zu.[14] Eine Idee in diesem Sinne ist ein real existierendes, unveränderliches und sinnlich nicht wahrnehmbares urbildhaftes Prinzip, das in einem bestimmten Verhältnis zu den konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen steht, obwohl es von diesen getrennt ist: Das Einzelding hat teil an der Idee (methexis), die Idee ist im Einzelding gegenwärtig (parousia). Die Idee des Menschen beispielsweise ist Ursache dafür, dass Sokrates ein Mensch ist. Eigentliches Wissen besteht nach Platon darin, diese Ideen zu erkennen. Da die Ideen nicht sinnlich wahrnehmbar sind, kann dies nur über die Vernunft, nicht aber durch Sinneswahrnehmung erfolgen.[15]

Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge nehmen eine ontologische Mittelstellung zwischen dem wahrhaft Seienden und dem Nichtseienden ein.[16] Sie sind nur, insofern sie etwas nicht sind, noch nicht sind oder nicht mehr sind.[17] Sie sind als solche zusammengesetzt und der ständigen Veränderung unterworfen:

Man muss nun nach meiner Meinung zuerst Folgendes unterscheiden und feststellen: Wie haben wir uns das immer Seiende (to on aei), das kein Entstehen an sich hat, und wie das stets Werdende zu denken, welches niemals zum Sein gelangt? Das eine, stets gemäß demselben Seiende ist durch Vernunft mit Denken zu erfassen, das andere dagegen durch Vorstellung vermittels vernunftloser Sinneswahrnehmung als entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend (ontós de oudepote on).[18]

Die Sinnendinge stellen demnach nur einen defizienten, scheinhaften Modus des Seins dar und gewinnen nur durch die Arete als Verwirklichung ihres Wasseins den ihnen zukommenden Anteil an der ousia.[19]

Aristoteles

In seiner frühen Schrift Kategorien setzt sich Aristoteles von der Ideenlehre Platons ab. Er argumentiert dafür, dass nicht Ideen, sondern sinnlich wahrnehmbare konkrete Einzeldinge ousiai sind, da von ihnen alles andere in seiner Existenz abhängt. Diese Einzeldinge weisen das Merkmal auf, hypokeimenon, ein Zugrundeliegendes (Subjekt oder Substrat) zu sein. So ist Sokrates gegenüber seinen zufälligen Eigenschaften, Akzidenzien ('weiß'). Zweite ousiai nennt Aristoteles bestimmte Eigenschaften, die nicht zufällig sind, und die allgemein sind, im Falle Sokrates Mensch, d.h. Arten und Gattungen. Sie antworten genauer darauf, was eine erste ousia ist.[20]

In der späteren Metaphysik treten Einzeldinge der Kategorien weiterhin als Substanzen auf, die zweiten Substanzen nicht mehr. Im Zentrum steht nun die Frage 'Was ist die ousia eines konkreten Einzeldings?' Aristoteles' Antwort lautet in Metaphysik Zeta: die Form, das eidos.[21]

Die allgemein übliche Übersetzung von ousia mit Substanz erklärt sich philosophiegeschichtlich damit, dass die Kategorien-Schrift im lateinisch geprägten Mittelalter als logische Lehrschrift einen großen Einfluss auf das philosophische Denken ausübte, während die in ontologischer Hinsicht wesentlich elaboriertere Schrift Metaphysik über Jahrhunderte nicht verfügbar war und erst wesentlich später ins Lateinische übersetzt wurde.

substantia (= das Zugrundeliegende) entspricht der oben dargestellten ontologischen Konzeption der Kategorien. Im Kontext der Metaphysik ist substantia bzw. Substanz jedoch eigentlich eine zu eingeschränkte Übersetzung für ousia, da hier eine differenziertere Theorie des Seienden erörtert wird, in der neben dem Zugrundeliegenden noch andere inhaltliche Bestimmungen der ousia eine Rolle spielen. Der Begriff Substanz hatte sich aber durch die große Verbreitung der Kategorien-Schrift als philosophischer Fachausdruck bereits fest etabliert.

Weitere Philosophen

Nach Boëthius ist ousia die Form. Nach den Stoikern ist ousia als oberste Kategorie die qualitätslose Materie. Nach Plotin ist ousia, was nicht in einem hypokeimenon ist [22], was sich selbst angehört. Das beharrliche Substrat der körperlichen Veränderungen ist die Materie. Als „Potenz der Begriffe“ ist die Seele ousia.[23]

Nach Johannes Scotus Eriugena ist ousia ganz und ungeteilt in den Arten derselben enthalten.[24] Sie ist unkörperlich.[25] Das Allgemeine ist nach Johannes Scotus Eriugena real, als Idee vor den Dingen und als Essenz in den Dingen. Die Dialektik als die Lehre von den allgemeinen Begriffen und Wesenheiten geht von den Gattungen zu den Arten und von diesen wieder zu den Gattungen. Die Kategorien stehen untereinander in Beziehung, wobei die Substanz (ousia) die Grundlage der anderen ist.[26]

Anmerkungen

  1. Wilhelm Pape: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Braunschweig 1914, Band 2, S. 420
  2. So Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 723; Kirchner u. a., Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, S. 692
  3. Wolfgang Schneider, Ousia und Eudaimonia, Walter de Gruyter 2001, S. 128
  4. Hermanus Hendricus Berger, Ousia in de dialogen van Plato, Leiden 1961, S. 9 ff.
  5. Stephan Grotz, Art. Sein/Seiendes (usia, on), in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, S. 258
  6. Michael Erler: Platon, Basel 2007, S. 31. Beispiele: Pol. 261e, Rep. 533d-e.
  7. Platon, Parmenides 144a f., übersetzt von G. Zekl, Hamburg 1972, S. 61
  8. Aristoteles, Met. I, 6; XIV, 1; Platon, Phileb. 16d, 24
  9. Stephan Grotz, Art. Sein/Seiendes (usia, on), in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, S. 259 spricht von den washeitlich-begrifflichen und den aitiologisch-seinsstiftenden Aspekten
  10. Platon, Phaedo 75d
  11. Jens Halfwassen, Art. Substanz; Substanz/Akzidens, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, S. 496
  12. Etwa: idea, morphê, eidos, paradeigma, auch genos, physis oft auch durch Ausdrücke wie to x auto, das x selbst. Christian Schäfer: Idee/Form/Gestalt/Wesen, in: ders. (Hg.): Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, S. 157.
  13. Detlev Pätzold, Art. Substanz / Akzidens, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, S. 485
  14. Platon, Phaedo 78 c–d
  15. Christoph Horn / Christof Rapp: ousia, in: dies. (Hgg.): Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, S. 321.
  16. Platon, Resp 478e
  17. Stephan Grotz, Art. Sein/Seiendes (usia, on), in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, S. 258
  18. Platon, Timaios, 27d - 28a
  19. Jens Halfwassen, Art. Substanz; Substanz/Akzidens, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, S. 497
  20. Christoph Horn / Christof Rapp: ousia, in: dies. (Hgg.): Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, S. 322
  21. Christoph Horn / Christof Rapp: ousia, in: dies. (Hgg.): Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, S. 323
  22. Plotin, Enneaden VI, 3, 5
  23. Plotin, Enneaden VI, 2, 5. vgl. VI, 3, 2
  24. Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, Buch I., 49
  25. Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, Buch I., 33
  26. Eisler, Philosophen-Lexikon, S. 303

Literatur

  • Hermanus Hendricus Berger: Ousia in de dialogen van Plato. Leiden, Brill 1961
  • Rudolf Eisler: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912
  • Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin 1904
  • Christoph Horn, Christof Rapp (Hrsg.): Wörterbuch der antiken Philosophie. München 2002
  • Friedrich Kirchner und Carl Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl., Leipzig 1907
  • Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe, Basel 1971 bis 2007
  • Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Meiner, Hamburg 1990
  • Christian Schäfer (Hrsg.): Platon-Lexikon. WBG, Darmstadt 2007
  • Wolfgang Schneider: Ousia und Eudaimonia. Walter de Gruyter, Berlin 2001
  • Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 1912

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