Palmtuch

Palmtuch

Das Fastentuch (auch Hungertuch, Palmtuch [vgl. Palmsonntag], Passionstuch oder Schmachtlappen, lateinisch velum quadragesimale) verhüllt während der Fastenzeit (Quadragesima) in katholischen Kirchengebäuden die bildlichen Darstellungen Jesu, in der Regel das Kruzifix. Es entstand aus dem jüdischen Tempelvorhang, der im Neuen Testament im Zusammenhang mit dem Kreuzestod Jesu mehrfach erwähnt wird (Mt 27,51 EU); (Mk 15,38 EU); (Lk 23,45 EU). In Deutschland haben gegenwärtig vor allem die Hungertücher, die das katholische Hilfswerk Misereor herausgibt, weite Verbreitung gefunden.

Inhaltsverzeichnis

Liturgie

Fastentuch im Freiburger Münster

Das Fastentuch kann während der gesamten Fastenzeit von Aschermittwoch bis Karsamstag im Chor hängen (daher lat. velum quadragesimale „Tuch der 40 Tage“, als Bezug auf den Tempelvorhang auch velum templi). In manchen Kirchen hängt es nicht in der ganzen Fastenzeit, sondern nur in den letzten ein oder zwei Wochen vor Ostern.

Das Tuch trennt die Gemeinde optisch von Altarraum und Reliquien und erlaubt es der Gemeinde lediglich, die Liturgie hörend zu verfolgen. Zur körperlichen Buße des Fastens tritt eine seelische. Der volkssprachliche Ausdruck am Hungertuch nagen bezieht sich somit nicht nur auf materielle Armut, sondern auch auf die als Bedrängnis empfundene Gottferne.

Fastentücher dieser Art gibt aus dem Ende des 13. Jahrhunderts sowie aus dem 15. Jahrhundert (Güglingen, Württemberg, und Dresden).

Kunstgeschichte

Bereits die „Consuetudines“ des Fafna erwähnten um das Jahr 1000 den Brauch des Fastentuchs. Bis ins 12. Jahrhundert blieb dieses ein rein symbolisches Objekt aus einfarbigem Stoff, der nur im Einzelfall durch ornamentale Stickerei verziert wurde. Danach wurde das Fastentuch als Form der Sakralkunst entdeckt, diese blieb über mehrere Jahrhunderte produktiv. Eine Beschreibung aus dem Jahr 1493 belegt, dass zwischen 1126 und 1149 im Kloster St. Ulrich und Afra zu Augsburg ein (nicht mehr erhaltenes) Fastentuch mit künstlerischen Darstellungen entstand.

Die Schwerpunkte der künstlerischen Entwicklung waren einerseits die Alpenregion, vornehmlich Kärnten und Tirol, andererseits in Norddeutschland Westfalen und Niedersachsen. Einheitlich blieb der Motivkreis der Darstellungen, die im Sinne einer Bilderbibel Szenen aus dem Leben Jesu Christi zeigten, im weiteren Verlauf die gesamte Heilsgeschichte, lokal beschränkt auch Szene aus dem Leben der Heiligen.

Mit seinen Maßen von zehn mal zwölf Metern und einem Gewicht von mehr als einer Tonne gilt das Freiburger Fastentuch als das größte erhaltene Fastentuch überhaupt.

Alpenländischer Kulturkreis

Millstätter Fastentuch, Detail: Gefangennahme Christi im Garten Getsemani
Ausschnitt des Fastentuchs im Museum Gröden, Südtirol

Die alpenländische Tradition veränderte die Werkstoffe; das Fastentuch bestand hier aus mehreren horizontal vernähten Bahnen fester Leinwand, die in der Praxis der sogenannten Tüchleinmalerei schon mit Temperafarben bemalt wurden. Dadurch entstand eine Frühform der Tuchmalerei, während der gebräuchlichste Malgrund noch bis ins 15. Jahrhundert hinein Holz blieb. Ein künstlerischer Höhepunkt ist das Fastentuch in der romanischen Basilika zu Gurk (1458), das 99 Einzelmotive in horizontal angeordneten Streifen zeigt. Es ist in seiner Motivverknüpfung und in der erzählerischen Bildstruktur ein typisches Beispiel sequenzieller Kunst. Das Fastentuch ist üblicherweise ein schlichtes oder in Weißstickerei gefertigtes, auch mit biblischen Darstellungen versehenes Tuch.

Norddeutscher Kulturkreis

Hungertuch aus dem ehemaligen Kloster Marienfeld

Die Schöpfer von Fastentüchern aus Westfalen und Niedersachsen behielten zwar Leinen als Material und Stickerei als Arbeitstechnik bei, veränderten jedoch die Gestaltung, indem sie einzelne Motive auf kleineren Rechtecken abbildeten, die durch Leinenstege verbunden sind – ein Flickenteppich bzw. textiles Mosaik. Vereinzelt wurde auf straff gespanntem Leinen aber auch Malerei versucht.

Ausgehend von der norddeutschen Tradition setzten sich allmählich Motive der Passion Christi durch. Ein zentrales Thema seit dem 16. Jahrhundert wurde die Darstellung der Kreuzigung Christi; die Bildkomposition nahm die Arma Christi (die Leidenswerkzeuge Christi) auf. Darin tritt ein Paradoxon zwischen theologischer und künstlerischer Idee zutage, hatte doch das Fastentuch bisher dazu gedient, den Anblick des Kruzifixes zeitweilig zu verhüllen.

Traditionspflege

Teile des Fastentuchs der Musikmittelschule und der Sportmittelschule Wendstattgasse in Wien

Das Fastentuch wurde als religiöses Brauchtum bis ins 18. Jahrhundert nur in katholischen Gegenden beibehalten, da sich Luther gegen diese Tradition der Sakralkunst als "Gaukelwerk" aussprach. Obwohl diese Tradition einst weit über die ursprünglichen Grenzen hinausreichte, ist es doch nach der Reformation nur in den Entstehungsbieten erhalten geblieben; vereinzelt existieren dort noch Kirchen, die diese Tradition pflegen. Allerdings zeigt sich, dass das Fastentuch als Kunstform neu entdeckt wird.

  • Das Hungertuch im Freiburger Münster von 1612 ist mit 1014×1225 cm das größte noch erhaltene Stück in Europa. Als spätes Werk aus nachreformatorischer Zeit zeigt es eine große Nähe zur Bildwelt Dürers.
  • Zittau (Oberlausitz) besitzt mit dem Großen Fastentuch (8,20×6,80 m) von 1472, das 90 Felder in 10 Reihen hat und in der eigens dafür als Museum gestalteten Kreuzkirche gezeigt wird, und dem Kleinen Fastentuch mit einer Arma-Christi-Darstellung (4,31×3,49 m) von 1573 im Nordflügel des Kulturhistorischen Museums Franziskanerkloster, beide in Tempera auf Leinen, zwei einzigartige Kunstschätze. Das Kleine wie auch das Große Zittauer Fastentuch sind die einzigen überlieferten Exemplare ihrer Art in Deutschland und gehören zu den bedeutendsten überhaupt.
  • Das von Konrad von Friesach 1458 geschaffene Fastentuch im Dom zu Gurk ist das größte (9x9 m) und älteste Fastentuch Österreichs.
  • Im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien ist ein 32 m2 großes Fastentuch mit 36 Feldern ausgestellt. Es stammt vermutlich aus dem Kärntner Raum und trägt die Jahreszahl 1640.
  • Das frühbarocke Fastentuch aus der St. Jakobskirche in St. Ulrich in Gröden ist im Museum Gröden in St. Ulrich in Gröden zu besichtigen. Das Tuch mit 24 Bildern ist 475 cm breit und 365 cm hoch.
  • In der ehemaligen Abteikirche in Marienfeld gibt es ein Hungertuch aus Filetstopferei und Leinenstreifen. Auf dem 3 m hohen und 6,80 m breiten Werk ist die Kreuzigung mit der Gottesmutter und dem Apostel Johannes dargestellt, vier Felder zeigen die Leidenswerkzeuge. Umrahmt ist das Fastentuch von einem breiten Fries mit Blattrankenmuster. Die eingestickte Jahreszahl 1867 stammt von einer Ausbesserung. Experten datieren die Entstehung des Tuches in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.
  • Die Pfarrkirche von Millstatt (Kärnten) beherbergt ein 1593 von Oswald Kreusel mit 41 Szenen bemaltes Werk, das im Original erhalten blieb.
  • Stubenberg in der Steiermark entdeckte erst im 21. Jahrhundert die Tradition des Fastentuchs neu.
  • Traun in Oberösterreich ist eher der norddeutschen Tradition verpflichtet, da es die Bildflächen von Kindern bemalen lässt.
  • Villach in Kärnten verwendet ein 2003 in einem Schülerprojekt entstandenes Fastentuch.
  • Die Pfarren Am Schüttel in Wien und St. Othmar in Mödling lassen jährlich Fastentücher von zeitgenössischen Künstlern erstellen.
  • Die katholische Kirchengemeinde Herz Jesu in Bernau bei Berlin erstellte mit Jugendlichen in einer 48-Stunden-Aktion das größte Hungertuch der Welt, das Hungertuch XXL mit über 220 m² Größe.
  • Dieser Rekord wurde im März 2008 von der Musikmittelschule und der Sportmittelschule Wendstattgasse im 10. Bezirk in Wien überboten. In dreiwöchiger Arbeit bemalten die Schüler der beiden Schulen ein 400 m² großes Tuch mit Motiven aus dem Leben Jesu sowie aktuellen Themen.
  • 2007 hing zum erstem Mal auch ein Fastentuch im Bonner Münster. Geschaffen hat die moderne Fotografik der Wormser Fotograf und Grafiker Norbert Bach. Es nahm Bezug auf das Elisabethjahr und verknüpft die Geschichte der Heiligen Elisabeth mit modernen Formen von Barmherzigkeitswerken.

Weblinks


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