Paradigmatisch

Paradigmatisch

Das Wort Paradigma (gr. παράδειγμα parádeigma, aus παρὰ parà „neben“ und δεικνύναι deiknynai „zeigen“, „begreiflich machen“; Plural Paradigmen oder Paradigmata) bedeutet Beispiel, Vorbild, Muster oder Abgrenzung, Vorurteil.

In Aristoteles' Rhetorik ist das induktive Argument das Beispiel (paradeigma); in Gegensatz zu anderen induktiven Argumenten wird nicht von besonderen Fällen zu einem allgemeinen übergegangen, sondern von einem besonderen Fall zu einem anderen, wobei beide unter dieselbe Art fallen (Rhet. I.2, 1357b25 ff.).[1]

Inhaltsverzeichnis

Das wissenschaftliche Paradigma

Seit dem späten 18. Jahrhundert wird das Wort als erkenntnistheoretischer Ausdruck benutzt, um wissenschaftliche Denkweisen zu beschreiben.[2] Im klassischen Deutsch kann man den Begriff auch im Sinne unterschiedlicher (wissenschaftlicher) „Schulen” verwenden. Die gebräuchlichste Verwendungsweise des Wortes in diesem Zusammenhang geht jedoch auf den Wissenschaftstheoretiker Thomas Samuel Kuhn zurück, der darunter „Lehrmeinung” versteht und damit einen Satz von Vorgehensweisen beschreibt. In seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen definiert er ein wissenschaftliches Paradigma als:

  • das, was beobachtet und überprüft wird,
  • die Art der Fragen, welche in Bezug auf ein Thema gestellt werden und die geprüft werden sollen,
  • wie diese Fragen gestellt werden sollen,
  • wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung interpretiert werden sollen.

Kuhn meint mit Paradigma also ein vorherrschendes Denkmuster in einer bestimmten Zeit. Paradigmen spiegeln einen gewissen allgemein anerkannten Konsens über Annahmen und Vorstellungen wider, die es ermöglichen, für eine Vielzahl von Fragestellungen Lösungen zu bieten. In der Wissenschaft bedient man sich in diesem Zusammenhang auch oft Modellvorstellungen, anhand derer man Phänomene zu erklären versucht. (Leitbild)

Nach Kuhn ist ein Paradigma solange anerkannt, bis Phänomene auftreten, die mit der bis dahin gültigen Lehrmeinung nicht vereinbar sind. Zu diesem Zeitpunkt werden neue Theorien aufgestellt, die dann meist zwischen den Verfechtern der unterschiedlichen Lehrmeinungen ausgefochten werden. Setzt sich dann eine neue Lehrmeinung durch, spricht man vom Paradigmenwechsel.

Auf der Nymphenburgvorlesung von 1984 hat T. S. Kuhn sich nach ca. 34 erfolglosen Definitionsversuchen vom Paradigmen-Begriff öffentlich verabschiedet. Für weiteres siehe Kuhns Paradigmenbegriff.

Eine dies­be­züg­li­che Begriffsanalyse lieferte Margaret Masterman.[3]

Der Begriff „Paradigma“ in der Linguistik

In der Linguistik hat das Wort Paradigma folgende Bedeutungen:

  • ein Muster, gebildet durch geordnete Attribute und Werte, das die Menge der Formen eines Wortes modelliert und eine Formenklasse darstellt (Flexionsparadigma von Verben oder Substantiven; Konjugation, wie beispielsweise singen - sang - gesungen, bzw. Deklination),
  • eine Funktion, die bei gegebenem Wort und gegebener Wortklasse die Formbelegung der einzelnen Positionen des Paradigmas liefert,
  • eine (einzigartige) Sammlung von (auf vertikaler Ebene) austauschbaren Zeichen (Elemente) derselben (Wortart) Kategorie, wie beispielsweise „der Hund/Tiger/Fisch frisst" oder auch die Anlautkonsonanten in B-/G-/T-/Vier.

Varianten

  • onomasiologisches Paradigma: entsteht aus einem übereinzelsprachlichen Begriff beziehungsweise Designat und dessen einzelsprachlicher Umsetzung, beispielsweise Gehalt, Sold, Lohn, Einkommen usw.
  • semasiologisches Paradigma: ergibt sich aus bestimmten gemeinsamen Merkmalen von Lexemen, die durch Kommutation/Substitution ermittelt werden.

Siehe auch: Syntagma, Wortfeld, Synonymie

Weitere Verwendungen von „Paradigma“

Der Begriff Paradigma wird auch verwendet für eine Erzählung, die in „Beispielen eine moralische Lehre erläutert" (vgl. Worteintrag im Wahrig). So können z. B. Märchen im weiteren Sinne als Paradigmen bezeichnet werden.

Das Wort wird in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet; insbesondere beispielsweise im Computerbereich oder der Managementliteratur. Dabei steht es weniger für eine umfassende Weltanschauung oder -ansicht, wie im ursprünglichen (epistemologischen) Sinne, als für eine besondere, fokussierte Sichtweise auf einen (möglichst grundlegenden) Aspekt des jeweiligen Fachgebietes. So wird beispielsweise vom Paradigma der "Wiederverwendbarkeit von Software", vom Paradigma der Teamarbeit oder der schlanken Produktion (lean production) gesprochen.

Siehe auch: Programmierparadigma

Die Werbung beziehungsweise das Marketing nutzen den Begriff Paradigma, um Produkte als besonders neuwertig und innovativ erscheinen zu lassen, um damit eine größere Aufmerksamkeit zu gewinnen.

In der Organisationstheorie gibt es das Konzept der Unternehmenskultur. Eines der meist zitierten Modelle ist das Kulturnetz nach G. Johnson[4] (1998) beschrieben als Netzwerk interner Strukturen und Prozesse, welche die Selbstwahrnehmung einer Organisation kontinuierlich sowohl erzeugen als auch verstärken. Die sieben genannten Elemente des Kulturnetzes sind: Geschichten und Mythen, Symbole, Machtstrukturen, Organisationsstrukturen, Kontrollsysteme, Rituale und Routinen - und das Paradigma.

In der Verhaltenswissenschaft bezeichnet man mit dem Begriff Paradigma ein klassisches Vorurteil: Eine gefühlsbedingte, absolute Wertung (gut / schlecht) bevor eine verstandesmäßige Verarbeitung von Informationen stattfinden kann. Siehe auch Denkmuster. Neu wird auch der Begriff Paradigmenparalyse, eine Lähmung durch Vorurteile, verwendet. Damit wird beschrieben, dass logische Denkprozesse – und in der Folge konsequentes Handeln – durch Vorurteile (Paradigmen) unterbrochen, gelähmt (paralysiert) oder verhindert werden können.

In der Psychosomatischen Medizin wird der Begriff Maschinenparadigma durch Thure von Uexküll gebraucht, um damit die eher ganzheitliche Sichtweise der Psychosomatik von der rein organisch ausgerichteten Medizin zu unterscheiden. Die Organmedizin habe sich durch das Vorbild der Physik das reduktionistische Maschinenmodell zu eigen gemacht. Der Physik sei es gelungen, „eine in sich geschlossene Lehre der mechanischen Kräfte zu entwickeln und den Begriff der Kausalität von den ihm noch anhaftenden metaphysischen Vorstellungen zu befreien [5].“

Weiter wird das Wort Paradigma, besonders in der Entwicklungspsychologie, als eine Versuchsanordnung oder ein Versuchsdesign verstanden, welches auf Grundlage einer bestimmten Annahme oder Theorie entwickelt wurde.

In den 1980er Jahren hat der Physiker und Esoteriker Fritjof Capra den Begriff Paradigmenwechsel verwendet, um die von ihm postulierte Wende zu einem harmonischen freiheitlichen und ganzheitlichem neuen Zeitalter zu kennzeichnen.

Siehe auch

Weblinks

Literatur

  • Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962.
  • Alexander Peine: Innovation und Paradigma. Bielefeld 2006.
  • Rudolf-Robert Davideit: Betrachtungen zur Systemtheorie. Zittau 2003.
  • Rudolf-Robert Davideit: Kybernetik steckt den Osten an. Berlin 2007.

Quellen

  1. 5. The Three Means of Persuasion Aristotle's Rhetoric
  2. Der Begriff des Paradigma wurde von Georg Christoph Lichtenberg eingebracht; so behauptet Stephen Toulmin: Menschliches Erkennen, I: Kritik der kollektiven Vernunft. Übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt 1. Aufl. 1978, S. 131f (Human Understanding, Vol. I, The Collective Use and Evolution of Concepts, 1972)
  3. Margaret Masterman: The Nature of a Paradigm, in: Imre Lakatos, Alan Musgrave: Criticism and the Growth of Knowledge. Cambridge 1970, S. 59-90
  4. G. Johnson 1998; Rethinking incrementalism, Strategic Management Journal 1998, Vol. 9. pp. 75-91;
  5. Uexküll, Thure von (Hrsg. u.a.): Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg München, 3. Auflage 1986, ISBN 3-541-08843-5, Seite 3-4

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