Paradoxie des Haufens

Paradoxie des Haufens

Die Paradoxie des Haufens, auch Sorites-Paradoxie (von griechisch sorós: Haufen), ist ein Phänomen, das bei vagen Begriffen auftritt. Die Paradoxie zeigt sich, wenn versucht wird, etwas als Haufen zu bestimmen: Es lässt sich keine konkrete, nicht willkürlich beschlossene Anzahl von Elementen angeben, aus denen ein Haufen mindestens bestehen müsste, denn der Begriff „Haufen“ beinhaltet, dass etwas, das ein Haufen ist, auch ein Haufen bleibt, wenn man einen Teil seiner Elemente entfernt. Kehrt man diesen Gedanken um, so wird es schwierig zu sagen, ab wann eine Ansammlung von Elementen als Haufen gelten kann. Der Begriff „Haufen“, verstanden als abgezählte Anhäufung gleichartiger Teile, lässt sich anscheinend nicht klar definieren. Auch bei anderen ähnlich gelagerten vagen Prädikaten wird von Sorites-Fällen gesprochen, so z. B. beim Paradox vom Kahlköpfigen.

Die Formulierung als Haufenparadoxie geht vermutlich auf Eubulides[1], oder auf Zenon von Elea[2] zurück, wie auch eine Reihe weiterer berühmter Paradoxien.

Inhaltsverzeichnis

Problemstellung

Es gibt verschiedene Varianten der Haufenparadoxie, die jedoch alle auf das gleiche Problem hinweisen. Beispielhaft soll sie hier eine Version mit Sandkörnern vorgestellt werden:

Wir gehen davon aus, dass 100 Sandkörner ein Haufen sind (Falls dies bestritten wird, kann auch mit einer höheren Zahl begonnen werden). Entscheidend ist die zweite Prämisse (die auch als Axiom zu verstehen ist): Wenn wir von einem Haufen Sand ein Sandkorn entfernen, dann bilden die restlichen Sandkörner weiterhin einen Haufen. Somit lässt sich folgern: Weil 100 Sandkörner ein Haufen sind, sind auch 99 Sandkörner ein Haufen; weil aber 99 Sandkörner ein Haufen sind, sind auch 98 Sandkörner ein Haufen usw. Letztendlich gelangen wir so zu der Aussage, dass bereits ein Sandkorn ein Haufen ist. Das ist eine Aussage, die wir intuitiv nicht akzeptieren wollen.

Die Paradoxie lässt sich auch andersherum aufziehen; indem wir nämlich davon ausgehen, dass ein Sandkorn kein Haufen ist und sich durch das Hinzufügen eines Sandkorns kein Sandhaufen nicht in einen Sandhaufen verwandeln lässt. Dann entsteht niemals ein Haufen, auch wenn wir beliebig viele Sandkörner hinzufügen. Das ist ebenfalls kontraintuitiv, da es doch Haufen gibt.

Die gleiche Paradoxie entsteht auch, wenn wir versuchen Begriffe wie "groß" und "klein" z.B. in Bezug auf Körpergrößen zu definieren, oder wenn Farben definiert werden sollen: Sorites-Paradoxien sind eine typische Eigenschaft von allen vagen Prädikaten.

Die in der Problemstellung verwendete Methode ähnelt der vollständigen Induktion: Die Paradoxie besteht nicht im Ziehen eines einzigen Schlusses, sondern in der Aneinanderreihung von sehr vielen gleichförmigen Schlüssen. Es ergibt sich ein Kettenschluss:‚ Wenn n Körner ein Haufen sind, dann sind n-1 Körner ein Haufen; n Körner sind ein Haufen, also... -- Wenn (n-(n-1)) Körner ein Haufen sind , das ist 1 Korn ein Haufen; (n-(n-1)) Körner sind ein Haufen, also ist 1 Korn ein Haufen.‘ Kettenschlüsse wurden daher in der Tradition ebenfalls als Sorites Schlüsse bezeichnet. Allerdings ist die Eigenschaft, ein Haufen zu sein, nicht über die einzelnen Körner distribuiert.

Prinzipiell ließe sich die Konklusion auch einfach akzeptieren: Wir könnten ein Sandkorn bereits als Haufen definieren, da es sich um eine semantische und nicht um eine mathematische Definition handelt. Vom sprachphilosophischen Standpunkt her erscheint das jedoch wenig attraktiv: Hier geht es gerade darum, Begriffe so zu verwenden, dass sie Intuitionen einfangen.

Eher verbreitet sind Lösungen, die die zweite Prämisse bestreiten. Das hieße, dass wir durch das Wegnehmen eines Sandkornes von einem Haufen manchmal den Haufen als solchen auflösen. Diese Position hat ein schwerwiegendes Problem: Wo genau liegt die Grenze zwischen einem Haufen und einer Anordnung von Sandkörnern, die nicht mehr als Haufen zu bezeichnen ist?

Auflösungen

Es gibt verschiedene philosophische Möglichkeiten, mit dem Problem umzugehen. Zum Einen kann behauptet werden, dass es einen klaren Umschlagpunkt gibt, ab dem eine Ansammlung von Sandkörnern als Haufen zu bezeichnen ist. Zweitens lässt sich auch vertreten, dass es einen Graubereich gibt, in dem eine Ansammlung weder als Haufen noch als nicht-Haufen bezeichnet werden kann. Drittens lässt sich die Problemstellung kritisieren bzw. das Problem als einen partiellen Defekt der natürlichen Sprache verstehen.

Konkreter Umschlagpunkt

Hier wird behauptet, dass ab einer bestimmten Zahl von Sandkörnern ein Haufen entsteht. Eine konkrete Zahl wird dabei aber so gut wie nie genannt; eine Aussage wie "40 Sandkörner sind ein Haufen, dagegen sind 39 Sandkörner kein Haufen" wäre wohl auch schwer zu rechtfertigen. Allerdings hat Gottlob Frege die Hoffnung, dass sich eine solche Zahl doch irgendwie finden ließe:

„Durch eine geistige Arbeit [...] gelingt es oft erst, einen Begriff in seiner Reinheit zu erkennen, ihn aus den fremden Umhüllungen herauszuschälen, die ihn dem geistigen Auge verbargen. [...] Statt eine besondere Reinheit der Begriffe da zu finden, wo man ihrer Quelle Nahe zu sein glaubt, sieht man alles verschwommen und ungesondert wie durch einen Nebel.“ [3]

Frege kritisiert in diesem Zusammenhang heftig John Stuart Mill, der den Begriff des Haufens für nicht klar definierbar hielt. Er ist der Meinung, dass die Forschung auch bei der Bestimmung von Begriffen aufeinander aufbauend vorankommen kann und diese Begriffe schrittweise enträtseln könne.[4]

Anders als Frege ist Timothy Williamson nicht der Meinung, dass sich eine konkrete Grenze jemals finden ließe; dennoch gebe es sie. Auch Farbtöne seien von Menschen nur außerhalb einer "margin for error" zu unterscheiden, d.h. zwei sehr ähnliche Farbtöne werden von uns als gleich wahrgenommen, auch wenn sie physikalische Unterschiede aufweisen - erst bei etwas größeren Unterschieden zwischen den Farbtönen bemerken auch Menschen Unterschiede . Ähnlich sei es auch bei vagen Begriffen: Soweit ein großer Unterschied bestehe, sind wir in der Lage etwa zwischen "Haufen" und "nicht-Haufen" zu unterscheiden. Bei kleinen Unterschieden wie etwa zwischen 39 und 40 Sandkörnern sei unsere Fähigkeit zur Unterscheidung nicht fein genug um zu einem Ergebnis zu gelangen.[5] Diese Position wird auch als Epistemizismus bezeichnet.

Graubereiche

Falls ein konkreter Umschlagpunkt abgelehnt wird, kann auch behauptet werden, dass bestimmte Ansammlungen weder als Haufen zu bezeichnen sind, noch von ihnen gesagt werden könne, sie seien kein Haufen. Beispielsweise kann behauptet werden, dass die Aussage "40 Sandkörner sind ein Haufen" weder wahr noch falsch ist, sondern ihr ein anderer Wahrheitswert zukomme. Eine solche Lösung lässt sich nur mit einer mehrwertigen Logik vertreten.

Ein erster Versuch ist es, eine Penumbra einzuführen. Das ist ein Bereich, der zwischen der positiven und der negativen Extension des Begriffs "Haufen" liegt. In diesem Bereich kann weder gesagt werden, dass die Ansammlung von Sandkörnern ein Haufen ist, noch, dass sie kein Haufen ist. Diesen Aussagen würde dann im Sinne einer dreiwertigen Logik ein unbestimmter Wahrheitswert zugeordnet. Varianten dieser Lösung können auch mit verschiedenen Zwischenstadien vertreten werden, also zum Beispiel mit einer fünfwertigen Logik oder noch mehr Wahrheitswerten.[6]

Wenn jedoch von einer begrenzten Zahl von Wahrheitswerten ausgegangen wird ergibt sich ein weiteres Problem: Wo liegt die Grenze zwischen einer wahrerweise als Haufen zu bezeichnenden Ansammlung von Sandkörnern und einer Ansammlung, von der man dies weder wahrer- noch falscherweise sagen kann? Diese Grenze zu rechtfertigen ist kaum leichter als in der klassischen Betrachtung mit zwei Wahrheitswerten. Außerdem lässt sich auch durch Hinzunahme einer begrenzten Zahl weiterer Wahrheitswerte das Problem nicht lösen, sondern nur in immer mehr Graubereiche zergliedern.[7]

Schon eher eine Lösung ist die Verwendung der Fuzzylogik, bei der es unendlich viele Wahrheitswerte zwischen "wahr" und "falsch" gibt. Dann stellt sich die Frage nach einer exakten Grenze nicht mehr. Die Haufenparadoxie wird häufig als Argument für die Fuzzylogik angeführt, allerdings ist diese Logik wegen ihrer anderen Konsequenzen durchaus umstritten.[8]

Kritik der Problemstellung

Natürlichsprachliche Begriffe – in diesem Fall das Wort Haufen – bestimmten mathematischen Methoden und Forderungen auszusetzen, kann durchaus falsche Ergebnisse und Scheinprobleme produzieren. Umgangssprachliche Begriffe haben einen sehr weiten Bedeutungsumfang und müssen für ihre Verwendung in formalen Systemen, wie sie für Mathematik und Logik typisch sind, in ihrer Bedeutung stark eingeschränkt oder neu definiert werden. Eine notwendige ideale Definition lässt sich naturwissenschaftlich kaum begründen, sondern bleibt der Nützlichkeit im gewünschten System geschuldet.

Innerhalb eines formalen Systems besitzt ein Begriff auch nur eine formale Bedeutung. Nur der Mensch besitzt die Fähigkeit, einem formalen Gebilde eine weitere realweltliche, semantische Bedeutung zuzuerkennen. Dem formalen Symbol Haufen ordnet der Mensch unweigerlich eine realweltliche Bedeutung zu, die er in dem formalen System nicht besitzt. Hierin entsteht das Paradoxon. Tauschte man das Symbol Haufen durch Berg aus, das die gleiche formale Bedeutung trüge, ergäbe sich kein Paradoxon, sondern eine Menge von (realweltlich) nutzlosen Aussagen. Es darf nicht vergessen werden, dass die obige Aussagen sich in einem rein formal-abstrakten System befinden und per se nichts mit der realen Welt zu tun haben.

In den vorangegangenen Ausführungen wird zudem vorausgesetzt, dass allein die Anzahl der Sandkörner darüber entscheidet, was ein Sandhaufen ist. Aber selbst 100 Sandkörner, wenn sie in einer Reihe nebeneinander liegen, bilden eben gar keinen Haufen, das heißt, eine bestimmte geometrische Anordnung im Raum sowie die Anwesenheit der Gravitationskraft sind notwendig, um etwas herzustellen, was umgangssprachlich dem Begriff Haufen entspricht.

Einzelnachweise

  1. Laut Timothy Williamson, Vagueness, London 1998, S. 8 sowie Dominic Hyde, Sorites Paradox, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy [1]
  2. Laut Friedrich Kirchner, Carl Michaelis u. Johannes Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Leipzig 1944, S. 647 (unter Verweis auf Aristoteles, Physik, 250b)
  3. Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, Reclam S. 21.
  4. Vgl. Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, Reclam S. 21 sowie John Stuart Mill, System der Deduktiven und Induktiven Logik, Band 2, Braunschweig 1877, S. 249-252.
  5. Vgl. Timothy Williamson, Vagueness, London 1998, S. 216-247, insbes. S. 230-234.
  6. Vgl. R.M. Sainsbury, Paradoxien, Reclam S. 49-53.
  7. Timothy Williamson, Vagueness, London 1998, S. 111-113.
  8. Vgl. Timothy Williamson, Vagueness, London 1998, S. 113f., S. 120-122 und S. 127-131.

Literatur

  • Piotr Łukowski: Paradoxes, Studia Logica Library, Trends in Logic Bd. 31, Springer, Dordrecht u.a. 2011, S. 131-170.
  • Richard M. Sainsbury: Paradoxien, Übers. von Vincent C. Müller, Reclam, Stuttgart 1993, 2. Aufl. 2001, S. 39-72. (Übers. von: Paradoxes, Cambridge University Press, Cambridge, New York u.a. 3. Aufl. 2009, S. 40-48).
  • Timothy Williamson: Vagueness, Routledge, London 1998, S. 8-35 sowie der Rest des Buches zu verschiedenen Lösungsansätzen.

Weblinks


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