Paranoiker

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Klassifikation nach ICD-10
F20.2 Paranoide Schizophrenie
F22.0 Wahnhafte Störung / Paranoia
F22.8 Sonstige wahnhafte Störung / Altersparanoia
F23.3 Paranoide Reaktion / Psychogene Psychose
F60.0 Paranoide Persönlichkeitsstörung
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Paranoia (gr. παράνοια paránoia, aus παρὰ parà „neben“ und νοῦς noûs „Verstand“; wörtlich also „neben dem Verstand“, „verrückt“, „wahnsinnig“) ist im engeren Sinn die Bezeichnung für eine psychische Störung, in deren Mittelpunkt Wahnbildungen stehen. Häufiger taucht der Begriff jedoch in seiner adjektivischen Form paranoid auf (s. Infobox ICD 10), der auf Verfolgungsängste oder Verfolgungswahn hinweist. Die Betroffenen leiden an einer verzerrten Wahrnehmung ihrer Umgebung in Richtung auf eine feindselige (im Extrem bösartig verfolgende) Haltung ihrer Person gegenüber. Die Folgen reichen über ängstliches oder aggressives Misstrauen bis hin zu der Überzeugung, man habe sich gegen sie verschworen.

Das Spektrum paranoider Reaktionen reicht von neurotischen Formen einer paranoiden Neigung bis zu schweren psychotischen Ausprägungen. Die neurotische paranoide Persönlichkeit ist durch übertriebene Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung, besondere Kränkbarkeit, Misstrauen sowie eine Tendenz, Erlebtes zu verdrehen, gekennzeichnet. Sie neigt dazu, neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich zu interpretieren (s. paranoide Persönlichkeitsstörung). Häufig findet man auch wiederkehrende unberechtigte Verdächtigungen hinsichtlich der sexuellen Treue des Ehegatten oder Sexualpartners (Eifersuchtswahn) und streitsüchtiges Bestehen auf eigenen Rechten. Betroffene neigen andererseits zu überhöhtem Selbstwertgefühl und übertriebener Selbstbezogenheit (ICD-10).

Überblick

Paranoide Symptome sind sehr vielfältig und gesellen sich vielen Grunderkrankungen bei, darunter Neurosen, Psychosen (insbesondere der Schizophrenie), vielen Persönlichkeitsstörungen und einigen degenerativen Erkrankungen. Die Verlaufsformen sind hier jeweils unterschiedlich. Sie zählen auch zur Symptomatik von Menschen, die lange unter echter oder gefühlter Verfolgung leiden mussten, aber nicht eigentlich psychotisch oder persönlichkeitsgestört sind. Paranoide Symptome können auch als Folge von anderen somatischen, neurologischen und/oder psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Beispiele sind:

Der klinische Begriff Paranoia bezieht sich jedoch immer auf eine endogene Psychose, mit einer ausgeprägten Positivsymptomatik, der auch andere Merkmale beigesellt sein können wie Fanatismus, oder schweres Querulantentum. Diese Psychose zeichnet sich auch „durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern; der Inhalt des Wahns oder des Wahnsystems ist sehr unterschiedlich“ (ebd.) aus. Schließlich ist die gravierendste Form, die paranoide Schizophrenie, „durch beständige, häufig paranoide Wahnvorstellungen gekennzeichnet, meist begleitet von akustischen Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen; Störungen der Stimmung, des Antriebs und der Sprache, katatone Symptome [hingegen] fehlen entweder oder sind wenig auffallend“ (ebd.). Bemerkenswerterweise bleiben die kognitiven Fähigkeiten der paranoiden Person erhalten, mit Ausnahme der verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung in Bezug auf den Wahntopos. Paranoia als wahnhafte Störung ist wesentlich durch die Präsenz „nicht-bizarrer“ Wahnvorstellungen charakterisiert, die mindestens einen Monat anhalten (DSM-IV-TR). Im Gegensatz zu bizarren, könnten diese Befürchtungen im Prinzip real sein, sind es aber regelmäßig nicht. Eine unter wahnhafter Störung leidende Person wurde früher oft „Paranoiker“ genannt.

Primär werden heute fünf Formen unterschieden: in der grandiosen, selbst-überwertigen Richtung sind dies Erotomanie (Liebeswahn) und Größenwahn. Dem gegenüber stehen Eifersuchtswahn (pathologische Eifersucht), Verfolgungswahn und somatischer Wahn (Hypochondrie); daneben gibt es eine Mischvariante und einen unspezifischen Typ. Die verbindlichen Definitionen finden sich im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Ausgabe Text Revision 2000 (DSM-IV-TR) und in der von der WHO herausgegebenen International Statistical Classification of Diseases, 10. Ausgabe 1992 (ICD-10). Paranoia kann eine eigenständige Pathologie oder auch Symptom anderer Krankheiten sein (z. B. Bipolare Störung, Altersdemenz oder organische Hirnschäden, Delirium tremens).

Paranoia als individualpathologisches, psychiatrisches Syndrom ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gut erforscht worden. Wegweisend war vor allem die Arbeit des deutschen Psychiaters Emil Kraepelin (1856–1926), dessen „Lehrbuch der Psychiatrie“ in der Ausgabe von 1899 die psychotische Ausprägung definierte als „die aus inneren Ursachen erfolgende, schleichende Entwicklung eines dauernden, unerschütterlichen Wahnsystems, das mit vollkommener Erhaltung der Klarheit und Ordnung im Denken, Wollen und Handeln einhergeht“. Auch Sigmund Freud beschäftigte sich mit der Paranoia. Früher wurden mit Paranoia eine allgemeine Geistesstörung oder die Paraphrenie (paranoide Verlaufsform der Schizophrenie) bezeichnet. Der Begriff der Paraphrenie wird heute noch von der Leonhardschen Klassifikation verwendet, in der er einer der drei systematischen Schizophrenien bezeichnet.

Der Patient hat das Gefühl, verfolgt zu werden, und entwickelt Verschwörungstheorien. Ein paranoider Mensch glaubt oft, dass andere beabsichtigen, ihn zu schädigen, zu betrügen oder auch zu töten. Oft kann er dafür auch „Beweise“ präsentieren, die für ihn völlig überzeugend scheinen, für Außenstehende dagegen überhaupt nichts besagen. Diese Überzeugungen sind wahnhaft. Der Patient ist durch nichts von ihnen abzubringen, rationale Argumente und Überzeugungsversuche von Außenstehenden haben keinen Erfolg und sind vielmehr kontraproduktiv, da sie das Misstrauen der paranoiden Person nur noch verstärken.

Sofern Paranoia nicht als eigenständiges, sondern als akzessorisches Symptom einer Grunderkrankung erscheint, wie etwa bei paranoider Schizophrenie oder der Bipolaren Störung, kann sie nur im Kontext dieser Erkrankung therapiert werden. Prinzipiell können Psychotherapie, medikamentöse Behandlungen oder sogar Operationen (z. B. bei Hirntumoren) notwendig werden.

Das Objekt des Verfolgungswahns ist von Fall zu Fall sehr verschieden. Manchmal wird beispielsweise der Geheimdienst des jeweiligen Landes hinter der Verfolgung vermutet. Die Methoden etwa der Überwachung im wahnhaften Szenario passen sich dabei tendenziell dem jeweils aktuellen Stand der Technik an. Bei Systemwechseln (z. B. nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Wiedervereinigung Deutschlands) wechselt oft auch der vermeintliche Verfolger (z. B. StasiBND). Hierin zeigt sich, dass der Verfolgungswahn vor allem in einer Veränderung der Denkvorgänge besteht, während die Denkinhalte variieren können.

Max Wertheimer, der Begründer der Gestalttheorie, hat mit dem deutschen Psychiater Heinrich Schulte ein sozialpsychologisches Modell zum Verständnis der Paranoia vorgeschlagen: Demzufolge wäre die Paranoia als Sonderform des Beziehungswahns zu verstehen – ein Mensch, dem es nicht gelingt, Teil eines Wir zu sein, und der diese Kluft zwischen sich und den anderen nicht ertragen kann, schlägt eine Brücke zu den anderen, indem er sich mit ihnen zumindest in einem „Ersatz-Wir“ von Verfolgern und Verfolgtem verbunden sieht. Dementsprechend wird die Chance auf Heilung auch primär in der Wiederherstellung guter sozialer Beziehungen gesehen. Hierbei handelt es sich allerdings nur um eines der vielen Modelle, die zum Begriff der „Paranoia“ entwickelt wurden.

Alternative Verwendungen des Begriffs

Trotz der Ernsthaftigkeit von paranoiden Wahrnehmungsstörungen und den oft verheerenden Folgen (vor allem im sozialen Zusammenleben) für die Betroffenen, hält insbesondere der Verfolgungswahn oft als „komisches“ Szenario für Fernsehserien, Verschwörungstheorien oder Spiele her. So gibt es zum Beispiel ein satirisches Pen-&-Paper-Rollenspiel namens Paranoia. Auch in der Literatur fand das Thema sehr oft Platz. Andy Grove, Mitbegründer von Intel, nannte eine seiner Publikationen Only the paranoid survive (zu dt.: Nur die Paranoiden überleben).

Seitdem technische Informationssysteme, insbesondere das Internet, ein reales Risiko für den Datenschutz und die Privatsphäre der Nutzer darstellen, wird der Begriff Paranoia auch umgangssprachlich verwendet, um die erhöhte Vorsicht sowie technische und soziale Maßnahmen zu beschreiben, mit denen technisch verständige Personen versuchen, ihre Computersysteme und Privatsphäre zu schützen. Diese Art von Vorsicht ist in der Regel rational begründet, also weder wahnhaft noch krankhaft. Dass der Begriff Paranoia auch umgangssprachlich nach wie vor mit Verfolgungswahn assoziiert wird, mag dazu beitragen, dass auch begründete Vorsicht von anderen Personen oft nicht ernstgenommen und gelegentlich ins Lächerliche gezogen wird. Häufig wird in diesem Zusammenhang auf das Zitat „Just because you’re paranoid doesn’t mean they’re not after you“ (Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind) aus dem Buch Strata von Terry Pratchett hingewiesen.

Literatur

  • Berke, Joseph H.; Pierides, Stella; Sabbadini, Andrea; Schneider, Stanley (Hg.), Even Paranoids Have Enemies. New Perspectives on Paranoia and Persecution, London [etc.], Routledge, 1998.
  • Freud, Sigmund, Remarques psychanalytiques sur l’autobiographie d’un cas de paranoïa (dementia paranoïdes). Le président Schreber, 1911, G. W. VIII, dans Cinq psychanalyses, Paris, PUF, 20e édition, 1997, p. 263-324.
  • Quentin Debray, L'Idéalisme passionné, Paris, PUF, 1989, ISBN 2-13-042160-1
  • Farrell John , Paranoia and Modernity: Cervantes to Rousseau, Ithaca, NY: Cornell University Press, 2006.
  • Jacques Lacan, De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité, Paris, Editions du Seuil, 1975 (1932)
  • Clérambault G. G. (de), Les délires passionnels : érotomanie, revendication, jalousie (présentation de malades), Bull. Soc. Cl. Ment., février 1921, p. 61 et dans OEuvres Psychiatriques, Paris, Frénésie Édition, 1987, p. 315-322.
  • Clérambault G. G. (de), Érotomanie pure, érotomanie associé (présentation de malade), Bull. Soc. Cl. Ment., juillet 1921, p. 230, et dans OEuvres Psychiatriques, Paris, Frénésie Édition, 1987, p. 352-355.
  • Schulte, Heinrich [& Wertheimer, Max], Versuch einer Theorie der paranoischen Eigenbeziehung und Wahnbildung, Psychologische Forschung, Jg. 5, 1924, Nr. 1, S. 1—23.
  • Serieux P. et Capgras J., Les folies raisonnantes. Les délires d’interprétations, Paris, Alcan, 1902.
  • Serieux P. et Capgras J., Délires systématisés choniques. Traité de Sergent. Psychiatrie, t. 1, Paris, Maloine, 1926.
  • Freud Sigmund, Communication d’un cas de paranoïa en contradiction avec la théorie psychanalytique (1915), traduit par D. Guérineau, dans S. Freud, Névrose, Psychose et perversion, PUF, 12e édition 2002, p. 209-218.
  • Sims A. et White A., Coexistence of the Capgras and De Clerambault syndromes a case report, British Journal of Psychiatry, 1973, 123, p. 653- 657.
  • Kretschmer E., Paranoïa et sensibilité, Imago Mundi, G. Monfort éditeur, 1918, 293 p.
  • Lacan J,. Écrits, Paris, Seuil, 1966.
  • Lacan J ,Séminaire, Livre III, Les psychoses (1955-1956), Paris, Seuil, 1981
  • Munro, Alistair, Delusional Disorder. Paranoia and Related Illnesses, Cambridge, Cambridge University Press, 1999.
  • Swanson, David W., Bohnert, Philip J., Smith, Jackson A., The Paranoid, Boston, Little, Brown and Company, 1970.
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