Pfingsthymnus

Pfingsthymnus

Der Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“ (zu deutsch: "Komm, Schöpfer Geist") ist eine lateinische Dichtung, mit welcher die gläubige Gemeinde den heiligen Geist um Beistand bittet. Sie erinnert an die erste Herabkunft des Heiligen Geistes an Pfingsten (Apg 2 EU) und an die Gaben des Heiligen Geistes.

Der Text stammt aus dem 9. Jahrhundert und wird traditionsgemäß Rabanus Maurus zugeschrieben. Die ursprüngliche gregorianische Vertonung wurde um das Jahr 1000 in Kempten überliefert.

Im Gegensatz zu den meisten Hymnen der katholischen Kirche gehorcht der Hymnus „Veni creator spiritus“ den Regeln der klassischen Verslehre. Es liegt ein jambischer Dimeter vor.

Es kursieren mehrere leicht voneinander abweichende Versionen des Textes. Der „Liber Usualis Missae et Officii“, kurz: der Liber Usualis (1896-1964) enthält eine metrisch verbesserte Version des Hymnus. Das katholische Gesangbuch Gotteslob (Nr. 240) folgt der aktuellen Version des Graduale Romanum von 1973 (Nachdruck 1979), das nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Liber Usualis ersetzt hat.

Im Gotteslob sind drei Übertragungen ins Deutsche (Nr. 241, 242 und 245). Im evangelischen Gesangbuch steht Martin Luthers Übertragung (Nr. 126).

Gustav Mahler vertonte eine Fassung des lateinischen Textes als ersten Satz seiner 8. Sinfonie. In diesem Werk setzt Mahler den Hymnus in Beziehung zu der mehr als 1000 Jahre später entstandenen Schlussszene aus Goethes Faust II, die die Textgrundlage des zweiten Satzes darstellt.

Inhaltsverzeichnis

Das jambische Versmaß des Hymnus

Der Hymnus „Veni creator spiritus“ folgt dem jambischen Versmaß der lateinischen Metrik. Jeder Vers besteht aus vier Füßen , weswegen er auch Quaternarius heißt. Da die Griechen hier zwei Versfüße zu einem Metrum zusammenfassen, besteht jeder Vers aus zwei Metra und wird daher auch Dimeter genannt.

Der Hymnus „Veni creator spiritus“ nützt die Freiheiten, die ihm das jambische Versmaß bietet, bei Weitem nicht aus. Hier ist der zweite Versfuß jeden Metrums, also der zweite und der vierte Versfuß, ein Jambus (υ –), während der erste Fuß jedes der beiden Metra, d.h. der erste und der dritte Versfuß, entweder ein Jambus (υ –) oder ein Spondeus (– –) ist. Auch der mit „digitus“ (eigentlich ein Anapäst (υ υ –)) beginnende zweite Vers der dritten Strophe lässt sich letztlich als ein Spondeus (– –) auffassen, da man dort das Mittel-„i“ gewöhnlich beim Hymnengesang (als Anpassung an die Strophenmelodie) elidiert, wodurch „digtus“ entsteht; auch wenn nach den Regeln des jambischen Versmaßes selbst ein Anapäst (υ υ –) in diesem Fall zulässig wäre. Berücksichtigt man nun, dass die letzte Silbe auch dann als lang gebraucht wird, wenn sie kurz ist (man lässt sozusagen ausklingen), ergibt sich, dass jeder dimetrige, d.h. vierfüßige und nunmehr achtsilbige Vers folgende Eigenschaften hat: Die dritte und siebte Silbe jeden Verses ist kurz, die zweite, vierte und sechste ist lang, die achte ist wie die erste und die fünfte beliebig gedichtet, da sie, falls sie kurz ist, lang gebraucht wird. Diesem Schema folgt die Metrik des Hymnus exakt.

Der metrisch einwandfreie Text mit Metrik, Elisionsanweisungen und wörtlicher Übersetzung

Der folgende, metrisch perfekte Text aus dem Liber Usualis (1896-1964) war lange Zeit die offizielle Version in der katholischen Kirche (siehe dazu den Abschnitt Zur Versionsgeschichte im Graduale Romanum). Er dürfte, zumindest, was die siebte Strophe betrifft, die Textvorlage von Martin Luther und Angelus Silesius gewesen sein, denn die siebte Strophe entspricht exakt der Übertragung von Martin Luther und ziemlich genau der Übertragung von Angelus Silesius. Im Gotteslob-Text, der dem aktuellen Graduale Romanum (seit 1973) entnommen ist, fehlt die siebte Strophe. Dieser Text weicht an drei Stellen vom folgenden ab; er ist im darauffolgenden Kapitel auf der linken Seite der Übertragungen ebenfalls vollständig wiedergegeben.

Metrisierung Text im Liber Usualis Wörtliche Übersetzung

υ – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ x

– – υ – υ – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – υ – υ –

– – υ – – – υ x
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ x

– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –

– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – – – υ –
– – υ – υ – υ –

– – υ – – – υ –
– – υ – υ – υ –
– – k – – – υ –
– – υ – – – υ x

υ – υ – – – υ x
– – υ – – – υ –
– – υ – υ – υ –
– – υ – – – υ x

lange Silbe
υ kurze Silbe
x eigtl. kurz, aber
      lang gebraucht
k eigt. lang, aber kurz
      wg. Vokalkürzung

Veni, Creator Spiritus,
mentes tuorum visita,
imple superna gratia,
quae tu creasti, pectora.

Qui diceris Paraclitus,
altissimi donum Dei,
fons vivus, ignis, caritas
et spiritalis unctio.

Tu, septiformis munere,
dig[i]tus paternae dexterae,
Tu rite promissum Patris,
sermone ditans guttura.

Accende lumen sensibus;
infund[e] amorem cordibus;
infirma nostri corporis
virtute firmans perpeti.

Hostem repellas longius,
pacemque dones protinus:
ductore sic te praevio
vitemus omne noxium.

Per Te sciamus da Patrem,
noscamus atque Filium;
Tequ[e] utriusque Spiritum
credamus omni tempore.

Deo Patri sit gloria
et Filio, qu[i] a mortuis
surrexit, ac Paraclito
in saeculorum saecula.

Eckig eingeklammerte
Vokale elidieren
(werden nicht ausgesprochen).

Komm, Schöpfer Geist,
die Gesinnungen der Deinen besuche;
erfülle mit oberer Gnade
die Herzen, die Du geschaffen hast!
 
Der Du der Beistand genannt wirst,
des höchsten Gottes Geschenk,
lebendige Quelle, Feuer, Liebe
und geistliche Salbung.
 
Du Siebengestaltiger im Amt,
Finger der väterlichen Rechten,
Du nach heiligem Brauch Versprochenes des Vaters,
mit Rede bereichernd die Kehlen.
 
Zünd’ an das Licht den Sinnen,
gieß’ ein die Liebe den Herzen,
das Schwache unseres Leibes
stärkend durch ununterbrochene Tugend!
 
Mögest den Feind weiter zurückstoßen
und den Frieden sofort schenken!
Mit Dir so als vorausgehendem Lotsen
mögen wir alles Schädliche meiden!
 
Gib, dass wir durch Dich den Vater verstehen
und auch den Sohn erkennen
und an Dich, beider Geist,
zu jeder Zeit glauben!
 
Gott, dem Vater, sei Ehre
und dem Sohn, der von den Toten
auferstanden ist, und auch dem Beistand
in die Zeitalter der Zeitalter!

(Übersetzt von Martin Bachmaier)

Lateinischer Text und Übertragungen in deutschen Gesangbüchern

Es folgt die derzeit verwendete lateinische Textfassung, wie sie im Graduale Romanum (1973) und im Gotteslob steht. Auch dieser Text folgt dem jambischen Versmaß der lateinischen Metrik, wenn man eine eigentlich kurze Silbe (die erste von „digitus“) lang gebraucht. Der Text verzichtet jedoch auch auf zwei Elisionen, die die lateinische Metrik vorschreibt. Die siebte Strophe fehlt in dieser Textversion.

Neben dem lateinischen Text stehen Übertragungen ins Deutsche, wie sie in älteren katholischen Gesangbüchern zu finden sind. Da in Martin Luthers Übertragung im evangelischen Gesangbuch die dritte und die vierte Strophe vertauscht sind, steht diese nicht neben, sondern unter dem lateinischen Text in einem Extra-Abschnitt.

Die siebte Strophe der Übertragungen von Martin Luther und Angelus Silesius kann nur auf die eingangs niedergeschriebene metrisch einwandfreie Version, die von der wörtlichen Übersetzung begleitet ist, bezogen werden.

Der lateinische Text im Gotteslob mit Übertragungen in katholischen Gesangbüchern

Lateinischer Text im Gotteslob Heinrich Bone 1847 Angelus Silesius 1668

Veni, Creator Spiritus,
mentes tuorum visita,
imple superna gratia,
quae tu creasti, pectora.

Qui diceris Paraclitus,
donum Dei altissimi,
fons vivus, ignis, caritas
et spiritalis unctio.

Tu, septiformis munere,
dextrae Dei tu digitus,
Tu rite promissum Patris,
sermone ditans guttura.

Accende lumen sensibus,
infunde amorem cordibus,
infirma nostri corporis
virtute firmans perpeti.

Hostem repellas longius,
pacemque dones protinus:
ductore sic te praevio
vitemus omne noxium.

Per te sciamus, da, Patrem
noscamus atque Filium,
te utriusque Spiritum
credamus omni tempore.

(Deo Patri sit gloria
et Filio, qu[i] a mortuis
surrexit, ac Paraclito
in saeculorum saecula.)

Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein,
besuch das Herz der Kinder dein:
Die deine Macht erschaffen hat,
erfülle nun mit deiner Gnad.

Der du der Tröster wirst genannt,
vom höchsten Gott ein Gnadenpfand,
du Lebensbrunn, Licht, Lieb und Glut,
der Seele Salbung, höchstes Gut.

O Schatz, der siebenfältig ziert,
o Finger Gottes, der uns führt,
Geschenk, vom Vater zugesagt,
du, der die Zungen reden macht.

Zünd an in uns des Lichtes Schein,
gieß Liebe in die Herzen ein,
stärk unsres Leibs Gebrechlichkeit
mit deiner Kraft zu jeder Zeit.

Treib weit von uns des Feinds Gewalt,
in deinem Frieden uns erhalt,
dass wir, geführt von deinem Licht,
in Sünd und Elend fallen nicht.

Gib, dass durch dich den Vater wir
und auch den Sohn erkennen hier
und dass als Geist von beiden dich
wir allzeit glauben festiglich.

Dem Vater Lob im höchsten Thron
und seinem auferstandnen Sohn,
dem Tröster auch sei Lob geweiht
jetzt und in alle Ewigkeit.

Komm, Heilger Geist, o Schöpfer du,
sprich den bedrängten Seelen zu:
erfüll mit Gnaden, süßer Gast,
das Herz, das du geschaffen hast.

Der du der Tröster bist genannt,
des allerhöchsten Gottes Pfand,
du Liebesglut, du Lebensbronn,
du Herzenslabung, Gnadensonn.

Du siebenfaches Gnadengut,
du Hand des Herrn, die Wunder tut;
du lösest aller Zungen Band,
gibst frei das Wort in alle Land.

Zünd unsern Sinnen an dein Licht,
erfüll uns mit der Liebe Pflicht,
stärk unser schwaches Fleisch und Blut
mit deiner Gottheit Kraft und Glut.

Den Feind aus unsrer Mitte treib,
mit deinem Frieden bei uns bleib,
führ’ uns auf deiner lichten Bahn,
wo uns kein Unheil schaden kann.

Lehr uns den Vater kennen wohl
und wie den Sohn man ehren soll;
im Glauben mache uns bekannt,
wie du von beiden bist gesandt.

Ehr sei dem Vater, unserm Herrn,
und seinem Sohn, dem Lebensstern,
dem Heilgen Geiste gleicherweis,
sei jetzt und ewig Lob und Preis.

Die eingeklammerte siebte Strophe des lateinischen Textes steht nicht im Gotteslob; sie stammt aus dem Liber Usualis und ist hier aufgeführt, da sich alle Übertragungen auf sie beziehen.

Die sechste Strophe der Übertragung von Heinrich Bone ("Gib, dass durch dich den Vater wir...") ist im Gotteslob (GL 245) geändert, wohl zum einen zwecks eines besseren Deutsch, zum anderen aber auch, um Elemente der in GL 245 fehlenden siebten Strophe ("Dem Vater Lob im höchsten Thron...") mit einfließen zu lassen. So steht folgende sechste Strophe in GL 245:

Den Vater auf dem ewgen Thron
lehr uns erkennen und den Sohn.
Dich, beider Geist, sei’n wir bereit,
zu preisen gläubig alle Zeit.

Die besondere Beliebtheit der Übertragung von Heinrich Bone (GL 245) liegt weniger an ihrer bescheidenen literarischen Qualität als daran, dass die zugehörige Melodie kein modaler Choral ist, bei dem der Rhythmus schwebend und die Tonfolge nicht dem Kadenzgesetz unterworfen ist (wie GL 241), sondern ein jüngeres Kirchenlied im 4/4-Takt mit barocker Harmonik. Das Gotteslob gibt hier als Quellenangabe Köln 1741 an.

Die Übertragung von Martin Luther (1524) im Evangelischen Gesangbuch

Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist,
besuch das Herz der Menschen dein,
mit Gnaden sie füll, denn du weißt,
dass sie dein Geschöpfe sein.

Denn du bist der Tröster genannt,
des Allerhöchsten Gabe teuer,
ein geistlich Salb an uns gewandt,
Ein lebend Brunn, Lieb und Feuer.

Zünd uns ein Licht an im Verstand,
gib uns ins Herz der Lieb Inbrunst,
das schwach Fleisch in uns, dir bekannt,
erhalt fest dein Kraft und Gunst.

Du bist mit Gaben siebenfalt
der Finger an Gotts rechter Hand;
des Vaters Wort gibst du gar bald
mit Zungen in alle Land.

Des Feindes List treib von uns fern,
den Fried schaff bei uns deine Gnad,
dass wir deim Leiten folgen gern
und meiden der Seelen Schad'.

Lehr uns den Vater kennen wohl,
dazu Jesus Christ, seinen Sohn,
dass wir des Glaubens werden voll,
dich beider Geist zu verstehn.

Gott Vater sei Lob und dem Sohn,
der von den Toten auferstand;
dem Tröster sei dasselb getan
in Ewigkeit alle Stund.

Neuere Übertragungen

Das Gotteslob enthält zwei weitere Übertragungen von Friedrich Dörr (1969; GL 241) und Markus Jenny (1971; GL 242), die hier aus Copyright-Gründen nicht wiedergegeben werden. Beide Übertragungen sind etwas freier als die von Martin Luther und Heinrich Bone. Die Fassung von Markus Jenny ist stellenweise sogar eher Neudichtung als Übertragung, sie verzichtet aber, entsprechend dem lateinischen Original-Text, auf Endreime.

Die drei Unterschiede des lateinischen Textes im Gotteslob zur metrisch perfekten Version im Liber Usualis

  • Strophe 2, Vers 2: „donum Dei altissimi“ im Gotteslob gegenüber „altissimi donum Dei“ im Liber Usualis

In der Gotteslob-Version aus dem aktuellen Graduale müsste das „i“ bei „Dei“ elidieren, da auf den Endvokal „i“ von „Dei“ der Anfangsvokal „a“ von „altissimi“ folgt. Nach dieser Elision würde dann eine ganze Silbe fehlen. In der Liber-Usualis-Fassung „altissimi donum Dei“ elidiert nichts. Wegen der geschlossenen Wortstellung ist dieser Vers auch dichterischer; das zusammengehörende „altissimi Dei“ schließt nämlich das „donum“ ein.

  • Strophe 3, Vers 2: „dextrae Dei tu digitus“ im Gotteslob gegenüber „digitus paternae dexterae“ im Liber Usualis

Das „di“ von „digitus“ ist (nach klassischem Latein gemessen) kurz; in der Gotteslob-Version widerspräche das dem jambischen Versmaß, da der dritte Fuß „tu di-“ nun ein Trochäus wäre. Um das zu verhindern, muss man das erste „i“ von „digitus“ lang gebrauchen.

Da „digitus“ eine Silbe zu viel hat, ist im Liber Usualis das Mittel-„i“ elidiert, obwohl es vom Versmaß nicht nötig wäre. Der Vers hätte auch mit „digitus“ als Anapäst (υ υ –) beginnen dürfen. Elisionen dieser Art sind aber normal (vgl. „dextrae“ statt „dexterae“). Ungewöhnlicher scheint für ungeübte Leserschaft die Elision des „u“ bei „spiritualis“ in Strophe 2, Vers 4. Die Form „spiritalis“ ist im Lateinischen, vor allem im Kirchenlatein, jedoch nichts Ungewöhnliches. Sie findet sich auch in der Prosa der kirchlichen Schriften, wo man sich nicht unbedingt gezwungen fühlen muss, der klanglichen Eleganz halber die Technik der Elision anzuwenden. Auch in diesem Fall liegt keine gesonderte Form der Elision vor. Also heißt das Wort hier einfach „spiritalis“ ohne „u“, auch wenn für unsere Ohren „spiritualis" vielleicht in der Tendenz wohl "richtiger", weil irgendwie "spirituell", klingen mag.

Schade ist vor allem, dass in der Gotteslob-Fassung das Wort „paternae“ für „väterlich“ fehlt und somit ein wunderbares Bild der Dreifaltigkeit abhanden kommt. Man stelle sich Gott Vater als einen Menschen vor. Seine Hand ist Gott Sohn, dessen Finger wiederum, der nun sowohl aus Gott Vater (dem Menschen) und Gott Sohn (dessen Hand) hervorgeht, ist der Heilige Geist, von dem das Konzil von Nizäa-Konstantinopel lehrt: „qui ex Patre Filioque procedit“ („der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht“).

  • Strophe 6, Vers 3: „Te utriusque spiritum“ im Gotteslob gegenüber „Teque utriusque spiritum“ im Liber Usualis

In der Gotteslob-Fassung wird – entgegen den Elisionsregeln – auf die Elision des ersten „e“ in „Te“ verzichtet. In der Version im Liber Usualis heißt es: „Teque utriusque spiritum“; es elidiert das zweite „e“. Beachtete man bei „utriusque“, dass das "tr" nach der „muta cum liquida“-Regel prosodisch nicht getrennt ausgesprochen darf, so ergäbe sich nach der Elision die Sprechweise „Te-quu-tri-us-ques-pi-ri-tum“ (– υ – – – – υ –), wonach die zweite und dritte Silbe falsche Länge hätten, denn das „i“ von „utriusque“ ist eigentlich lang. („Te-quu-tri-us-que“ für sich allein gesehen ergäbe den Rhythmus – υ – – υ ; eine rhetorische Klausel, wie man sie in Cicero-Reden entdeckt, die allerdings hier nicht gefragt ist.) In der Tat lässt sich aber das „i“ von „utriusque“ auch kurz aussprechen, wenn die Textgattung als Dichtung gekennzeichnet ist; auch bei „muta cum liquida“ drückt man ein Äuglein zu, wenn es um Poesie geht. Schließlich hat sich solche prosodische Freiheit auch der klassische Dichter Vergil erlaubt. Mit diesen Freiheiten ergibt sich die Sprechweise: „Te-quut-ri-us-ques-pi-ri-tum“, die sich nach Kürzung des "i" bei "utriusque" mit – – υ – – – υ – metrisieren lässt und damit dem jambischen Versmaß gehorcht.

Der vermutete Urtext

Herkunft des Textes

Nach den Quellenforschern und Sammlern der Original-Versionen lateinischer Hymnendichtung des Mittelalters, Dreves und Blume (1909), sind die Gedichte des Rabanus Maurus zuerst von Chr. Browerus als Anhang seiner zweiten Auflage seiner Fortunatus-Ausgabe aus einer alten Fuldaer Handschrift unter dem Titel „Hrabani Mauri, ex Magistro et Fuldensi Abbate Archiepiscopi Moguntini, poemata de diversis“ (Moguntiae 1617) veröffentlicht worden. Weiter bemerken Dreves und Blume (1909): „Die Handschrift, der Browers diese Gedichte entnahm, ist heute in Verlust geraten bis auf ein wenig umfangreiches Bruchstück, das jetzt einen Teil des Einsiedler-Miscellan-Codex 206 ausmacht und uns zeigt, dass Browerus’ Quelle im zehnten Jahrhundert geschrieben war. Da die Handschrift verloren, muss uns der Abdruck die Quelle ersetzen.“

Die vermutete Original-Fassung des Textes

Das in diesem Abdruck vermutete Original gleicht, was die genannten Differenzen zwischen den Versionen im Liber Usualis und Graduale Romanum betrifft, in allen Punkten der Version des Gotteslobs, weist aber insgesamt noch weitere drei Unterschiede auf.

Die drei Unterschiede zur Version im Gotteslob:

  • ’’Strophe 2, Vers 1: „Qui Paracletus diceris“ im vermuteten Original gegenüber „Qui diceris Paraclitus“

In diesem Original-Vers werden, entsprechend dem Versmaß, die zweite und vierte Silbe, also die erste und dritte Silbe von „Paracletus“ lang gemessen, obwohl die erste von "Paraclitus" eigentlich kurz ist.

Die dritte Silbe des griechischen Begriffs „Paracletus/Paraclitus" wird mit „η“ (Eta [æta]), als einem langen, offenen „e“, beschrieben: Παράκλητος, und ist somit vom Grundsatz her tatslächlich lang. Schon in der Antike veränderte sich der Laut von [æ] auf [i]; daher die alternative Schreibung "Paraclitus“. Im Neugriechischen wird der Buchstabe phonetisch mit einem kurzen [i] wiedergegeben. Mag diese Art der Kürzung der Aussprache bereits zum Teil in der antiken Volkssprache als wahrscheinlich anzunehmen sein, so steht dennoch fest, dass weiterhin in der byzantinischen Epoche der theoretische Kenntnisstand bezüglich der Prosodie und der Metrik keineswegs verloren ging. Man kann also wohl annehmen, dass die dritte Silbe jenes Begriffes auch von den Personen mit entsprechendem Bildungsstandard als lang angesehen wurde. Dass auch im damaligen „Westen“ zur Genüge Gelehrte existierten, die über diesen Kenntnisstand des Griechischen verfügten, darf ebenfalls als gesichert gelten. Wendet man die „gelehrte“ Aussprache entsprechend der griechischen Prosodielehre auch auf diesen Begriff „Παράκλητος“ an, was bezogen auf das Wort selbst υ υ – – ergibt (und bei Lockerung der „muta cum liquida“-Regel, siehe oben bei „utriusque“, auch den Rhythmus υ – – – zuließe), so wird in diesem Vers nur eine Silbe, die erste von "Paraclitus" lang statt kurz gebraucht.

Anmerkung: Die letzte Silbe von „Παράκλητος“ wurde hier als lang metrisiert, da dem Wort im Vers ein Konsonant folgt, das Schluss-ς also nicht als Anfang der ersten Silbe des nachfolgenden Wortes dienen kann, sodass die letzte Silbe "τος" geschlossen und damit lang bleibt.

  • ’’Strophe 3, Vers 3: „Tu rite promisso Patris“ im vermuteten Original gegenüber „Tu rite promissum Patris“

Metrisch ändert das nichts. Jedoch ändert sich die Bedeutung des Satzes. Das „promissum“, das in den heutigen Fassungen im Vokativ steht, scheint im Original im Ablativ gestanden zu haben. Zusammen mit dem letzten Vers der dritten Strophe („sermone ditans guttura“) kann sie nun so übersetzt werden: „Du nach heiligem Brauch mit zugesagter Rede des Vaters bereichernd die Kehlen.“

  • ’’Strophe 7: Die komplette Strophe ist im Original anders, jedoch auch metrisch korrekt:
Metrisierung Vermutetes Original Wörtliche Übersetzung

– – υ – υ – υ x
– – υ – υ – υ x
– – υ – υ – υ –
– – υ – υ – υ –

lange Silbe
υ kurze Silbe
x eigtl. kurz, aber
      lang gebraucht

Praesta, Pater piissime
Patrique compar unice,
cum Spiritu Paracleto
regnans per omne saeculum.

Stehe voran, liebevollster Vater
und einzigartiger dem Vater Gleicher,
mit dem Geist, dem Beistand,
als Herrschender durch jedes Zeitalter!

(Übersetzt von Martin Bachmaier)

An dieser Strophe dürfte vor allem stören, dass der Vater und der dem Vater gleiche Sohn wie ein und dieselbe Person angesprochen werden.

Zur Versionsgeschichte im Graduale Romanum

Das Graduale Romanum in der Ausgabe von 1908 enthält zwei Fassungen des „Veni Creator Spiritus“. Zunächst wird eine Version angegeben, die bis auf

  • „promissum“ statt „promisso“ und einer
  • völlig neu gestalteten, metrisch perfekten siebten Strophe mit Endreimen

dem vermuteten Urtext entspricht. Die neu gestaltete siebte Strophe lautet:

Metrisierung Lateinische Reim-Version Wörtliche Übersetzung

– – υ – – – υ –
– – υ – υ – υ –
– – υ – – – υ –
υ – υ – – – υ –

lange Silbe
υ kurze Silbe

Sit laus Patri cum Filio
Sancto simul Paraclito;
nobisque mittat Filius
charisma Sancti Spiritus.

Es sei Lob dem Vater mit dem Sohn,
zugleich dem heiligen Beistand;
und uns sende der Sohn
das Charisma des heiligen Geistes.

(Übersetzt von Martin Bachmaier)

Diese Version des „Veni creator Spiritus“ enthält somit auch den sowohl nach klassischer Metrik als auch nach Akzentmetrik untragbaren Vers „Qui Paraclitus diceris“ (mit „Paraclitus“ statt „Paracletus“). Direkt im Anschluss an diese Version wird aber die metrisch perfekte Version unter der Überschrift „Secundum usum recentiorem“ („nach jüngerem Gebrauch“) wiedergegeben. Das Graduale 1937 bleibt bezüglich dessen unverändert.

Im Graduale 1957 dagegen ist die Reihenfolge umgedreht. Zuerst ist die metrisch perfekte Version angegeben, dann erst folgt unter der Überschrift „Secundum usum recentiorem“ diejenige, die bis auf die siebte Strophe und dem Wort „promissum“ statt „promisso“ dem Urtext gleicht.

Ab dem Jahr 1973 enthält das Graduale jedoch nur noch eine Version, die eine Art Kompromiss zwischen beiden Versionen zu sein scheint. Es ist diejenige, die auch im Gotteslob vollständig niedergeschrieben ist (siehe das Kapitel der Übertragungen). Die siebte Strophe (das „Ehre sei dem Vater“), die in beiden Versionen völlig verschieden ist, hat man einfach weggelassen. Dies ist in gewisser Weise gerechtfertigt, erwähnt ja schließlich schon die sechste Strophe die drei göttlichen Personen.

Siehe auch

Literatur

  • Guido Maria Dreves, Clemens Blume: Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung. Eine Blütenlese aus den Analektika Hymnika mit literarhistorischen Erläuterungen. O.R. Reisland, Leipzig 1909, Teil I, S. 76-77, 80.
  • W. J. Emmerig: Anleitung zur lateinischen Verskunst. Vierte viel verbesserte Auflage. J. M. Daisenberger, Regensburg 1825
  • Gottesdienst. Gebets- und Gesangbuch für das Erzbistum München und Freising. J. Pfeiffer, München 1958
  • Heinrich Lausberg: Der Hymnus „Veni Creator Spiritus“. Westdeutscher Verlag, Opladen 1979, ISBN 3-531-05078-8.

Weblinks


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