Politischer Neorealismus

Politischer Neorealismus

Der Politische Neorealismus ist eines der wichtigsten Paradigmen im Bereich der Internationalen Beziehungen. Die Theorie baut auf den Grundlagen des Klassischen Realismus von Edward Hallett Carr (The Twenty Years' Crisis, 1946) und Hans Morgenthau (Scientific Man versus Power Politics, 1947) auf.

Dabei lassen sich zwei Varianten des Neorealismus unterscheiden:

  • die "Hegemonie(zyklen)theorie", die wie der Klassische Realismus historisch argumentiert, jedoch auch die ökonomische Dimension betrachtet und mit quantitativen Daten arbeitet
  • der historische und strukturalistisch ausgelegte "Strukturelle Realismus" nach Kenneth Waltz, der auch als "Ökonomischer Realismus" bezeichnet wird, sofern die wirtschaftliche Dimension von Macht im Vordergrund steht.

Inhaltsverzeichnis

Historischer Hintergrund

Der Paradigmenwechsel vom Klassischen Realismus zum Neorealismus geschah aufgrund des relativen Niedergangs der USA ("American Decline") ab den 1960er Jahren, der eine Schwächung der amerikanischen Führungsrolle in der Welt befürchten ließ. Nach dem 2. Weltkrieg war Amerika die eindeutige Hegemonialmacht und garantierte der westlichen Welt Sicherheit (durch ihre Nuklearwaffen) und wirtschaftliche Stabilität (durch das Bretton-Woods-System), sowie den Zugang zu Öl. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Überlegenheit war die wirtschaftliche Grundlage von politischer und militärischer Macht in der vorherrschenden politischen Theorie des Klassischen Realismus nicht thematisiert worden. Jedoch sank ab den 1960ern der Anteil der USA an Weltsozialprodukt, Weltexport und Produktion, während die Defizite in Handelsbilanz und Haushalt (aufgrund des Rüstungswettstreits mit der UdSSR) immer weiter stiegen. Das Ende des Bretton-Woods-Systems (1973) führte zu einer Abwertung des Dollar gegenüber Yen, DM und anderen Währungen, der Jom-Kippur-Krieg (1973) brachte die erste Ölkrise mit sich, als die OPEC erstmals ihre Macht demonstrierte. Hinzu kamen noch die militärische Niederlage in Vietnam (1973), das Gleichziehen der UdSSR in den Bereichen Rüstung und Weltraumforschung, sowie das Desaster im Iran (1979). Diese Krise für Amerika brachte auch eine Krise für den Klassischen Realismus mit sich und so entwickelte sich der Neorealismus als neue Theorie, die auch die Ökonomie berücksichtigte. Das Ziel der Neorealisten war es somit eine Politik zu entwickeln, die dem amerikanischen Niedergang entgegenwirken sollte.

Der "Strukturelle Realismus" nach Waltz

Der Neorealismus nach Kenneth Waltz macht zunächst einige Grundannahmen zu Staaten und dem internationalen System:

  • Staaten sind einheitliche, uniforme, homogene und rationale Akteure. Das heißt es spielt für den Neorealismus keine Rolle, ob eine Demokratie oder einer Diktatur vorliegt. Diese subsystemischen Faktoren werden in der neorealistischen Logik bewusst ausgeklammert.
  • Der einzige Unterschied zwischen den Staaten ist ihr Machtpotential.
  • Staaten haben eine klare Präferenzordnung: Zunächst verfolgen sie die sog. "high politics" (=Sicherheit, Unabhängigkeit, Überleben, etc.), dann die "low politics" (=alles andere).
  • Das internationale System ist anarchisch, das heißt es gibt keine übergeordnete Regelungs- und Kontrollinstanz (etwa im Sinne einer Weltregierung).
  • Das System funktioniert nach dem Prinzip der Macht, sie ist das Einzige, was einem Staat hilft, seine Interessen durchzusetzen. In Abgrenzung zum klassischen, anthropologischen Realismus nach Morgenthau ist die Wahrung der eigenen Sicherheit jedoch die oberste Maxime des Staates (nicht die Macht an sich!).

Aus dem Gesagten leiten Neorealisten eine staatliche Selbsthilfestrategie und eine permanente Unsicherheit über die Absichten des anderen ab. Oder um es in den Worten Waltz' zu sagen:

You have to do it on your own; you can't count on someone else. Maybe he does it, maybe he doesn't....

Das Fehlen gegenseitigen Vertrauens ist also eine wichtige Annahme, die die Struktur des internationalen Staatensystems kennzeichnet. In Abgrenzung zum klassischen Realismus versucht Waltz in erster Linie, eine systemische neorealistische Theorie zu entwickeln. Waltz arbeitet die Zwänge heraus, die sich für die Staaten aus der Struktur des internationalen Staatensystems ergeben und geht damit deduktiv vor.

Es kommt darum und aufgrund der Tatsache, dass Macht das einzige wirksame Mittel zur Interessendurchsetzung ist, immer nur auf die relativen Gewinne an. Das heißt der andere (Staat) darf niemals mehr Machtgewinne einfahren als man selbst. Dementsprechend schließen Neorealisten die Möglichkeiten der Kooperation praktisch aus. Auch internationale Organisationen werden nicht als kooperative Strukturen begriffen. Denn sie spiegeln lediglich die Interessen der Staaten wider. (Dies kann am Beispiel der NATO anschaulich nachvollzogen werden.) Nur unter Hegemonial-Einfluss oder zur Bündnisbildung gegen eine Übermacht kommt Kooperation zustande. Aus letzterem lässt sich ableiten, dass Neorealisten vor allem eine Balance-of-Power-Strategie vorschlagen (während andere Autoren zum Beispiel Balance-of-Terror, Balance-of-interest oder Balance-of-Threat-Strategien voraussagen).

In dem Kontext verweisen die Neorealisten auf die Struktur des internationalen Systems. Nebst seinem anarchischen Charakter weist es unterschiedliche Polaritäten auf: Es kann multi-, bi- oder unipolar sein, je nach dem, wie viele Grossmächte vorhanden sind. Der Kalte Krieg war eine historische Konstellation eines bipolaren Systems. Heute kann von einem unipolaren System (USA) gesprochen werden. Allerdings schließt Waltz hieraus, dass sich die Welt in Richtung einer neuen Multipolarität entwickelt. Er verweist zur Begründung dessen auf die Entwicklungen in Europa und Asien sowie auf die Gefahr des "hegemonial overstrech" der USA.

Die wichtigste Weiterentwicklung innerhalb des neorealistischen Lagers ist dessen Aufteilung in offensive und defensive Neorealisten. Zu erstgenannten muss beispielsweise John Mearsheimer gezählt werden, zu letzteren zählt beispielsweise Kenneth Waltz. Die offensiven Realisten sehen den Kampf um Macht als eine Art Wettbewerb, da Macht ein knappes Gut ist. Demgegenüber meinen defensive Realisten, Macht sei genügend vorhanden und deshalb täten Staaten gut daran, den Status Quo (Balance-of-Power) zu verteidigen.

Kritik am Neorealismus

Kritik am Neorealismus kam vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges auf. Denn die Theorie besagt, dass bipolare Systeme (wie im Ost-West-Konflikt) äußerst stabil sind (was ja für fast ein halbes Jahrhundert auch zutraf). Vertreter des Neorealismus entgegnen diesem verbreiteten Einwand, dass diese ungewöhnlichen Situationen nicht zu den üblichen Phänomenen in den internationalen Beziehungen gehören. Kontinuitäten im Weltgeschehen seien weitaus wichtiger und häufiger als solche radikaler und sehr seltener Umbrüche. Um diese zu erklären, biete der Neorealismus jedoch gute Ansätze.

Des Weiteren bleibt fraglich, ob aus der Anarchie tatsächlich und logisch ein Selbsthilfesystem resultiert. Hierzu meint der Konstruktivist Wendt, dass "Anarchy is what states make of it". Wendt argumentiert, dass sich aus der Struktur des internationalen Systems nicht zwangsläufig ein Selbsthilfesystem und Rüstungswettläufe ergeben müssten. Denn die Einschätzungen über die Gefährlichkeit eines anderen Staaten basierten auf dem wahrscheinlichen Verhalten dieses Staates. Wenn sich Regierungen die richtigen Signale gäben und so Vertrauten aufbauten, könnten sich die zwischenstaatlichen Beziehungen ganz anders gestalten als Waltz annimmt. Sogar wenn die Staaten bereits in einem Kreislauf von Misstrauen und Argwohn verfangen seien und insofern ein Selbsthilfesystem etabliert sei, könnten die Staaten diese Struktur wieder aufbrechen.

Schließlich lässt sich zweifeln, ob die innere Verfasstheit eines Staates tatsächlich von untergeordneter Bedeutung ist. Dieser Einwand wird vor allem von Vertretern der konkurrierenden Theorien des Institutionalismus und des Liberalismus vertreten (Andrew Moravcsik liefert hierzu einen wertvollen Beitrag, ebenso wie diverse Autoren zum Theorem des demokratischen Friedens). In der Gegenwart wird der Neorealismus wieder durch eine interpretatorische Komponente erweitert. Es handelt sich um den neoklassischen Realismus, von William Wohlforth und Glenn Snyder vertreten.

In deutschsprachigen Raum vertreten Gottfried-Karl Kindermann, Werner Link, Alexander Siedschlag, Benjamin von Twardowski, Carlo Masala und Christoph Rohde diesen Ansatz. Die Konstellationsanalyse Kindermanns hat bereits in den siebziger Jahren wichtige methodische Innovationen geliefert.

Aus wissenschaftstheoretischer Sicht sind mehrere widersprüchliche Annahmen im neorealistischen Forschungsprogramm enthalten, wie z.B. dass Staaten sowohl in einem balancing- (Waltz) als auch in einem bandwagoning-Prozess (Stephen Walt, Randall Schweller) verwickelt sind. Diese Verhaltensweisen werden zeitlich pfadabhängig betrachtet. Ein kurzfristiges Bandwagoning kann zu einer Restrukturierung der Ressourcen und über lange Frist zu einem Gegenbalancing-Verhalten führen. Der von Kritikern indizierte innere Widerspruch der Theorie kann durch solche Erklärungsmodelle bestritten werden. Das große Problem liegt in der Quantifizierbarkeit der Ressourcen von Akteuren. Diese ist aber notwendig, um potenzielle Allianzen zu prognostizieren. Ein potenzielles Anwendungsfeld der Theorie findet sich im Bereich der Energiepolitik, die exotische, materiell bedingte Allianzen hervorbringen könnte.

Siehe auch

Literatur

  • Kenneth N. Waltz: Man, the State and War - A Theoretical Analysis. New York: Columbia University Press, 1965.
  • Siegfried Schieder und Manuela Spindler (Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen. Opladen: Budrich 2006 (2. Aufl.), ISBN 3-86649-983-3.
  • Alexander Siedschlag: Neorealismus, Neoliberalismus und postinternationale Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997.
  • Alexander Siedschlag (Hg.): Realistische Perspektiven internationaler Politik.. Opladen: Leske+Budrich, 2001.

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