Postoperaismus

Postoperaismus

Operaismus ist sowohl eine marxistische Strömung als auch eine soziale Bewegung, die im industriellen Norden Italiens ab den frühen 1960er Jahren entstanden ist. Das Wort operaismo kommt von operaio bzw. operaia für Arbeiter bzw. Arbeiterin. In scharfer Abgrenzung zur Kommunistischen Partei Italiens, deren politische Strategie ganz auf die Eroberung des Staatsapparats ausgerichtet war, gaben sich die Operaisten strikt antistaatlich und propagierten den Kampf gegen die Fabrikarbeit. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht stets die Subjektivität der Arbeiter, deren nicht immer offensichtlicher Kampf gegen die Arbeit als treibendes Bewegungsmoment der Geschichte begriffen wird. Die Bewegungen der Kapitalseite und der kapitalistischen Gesellschaft sind als Reaktionen auf diesen Kampf der Arbeiter aufzufassen, nicht umgekehrt. Internationale Aufmerksamkeit erregten die Operaisten ab Anfang der 1970er Jahre mit groß angelegten und oft lang andauernden Bestreikungen von Automobilfabriken; wobei mitunter spektakuläre und rabiate Methoden bis hin zur Entführung von Managern angewendet wurden. Als Konsequenz ihrer Ablehnung der Fabrikarbeit gab es in der sozialen Bewegung einerseits eine intensive Hinwendung zu Themen der Reproduktion (vor allem Wohnverhältnisse und Krankenpflege). Andererseits entstand eine vielfältige und entsprechend unübersichtliche Medienproduktion (vor allem Zeitschriften und Radiosendungen). Von den zahlreichen centri sociali, die in den Hochzeiten der Bewegung als Treffpunkte aufgebaut wurden, haben einige in italienischen Großstädten bis heute überlebt.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung der Theorie

Theoretischer Ausgangspunkt

Theoretischer Ausgangspunkt war die Anfang der 60er Jahre u.a. von Raniero Panzieri gegründete Zeitschrift "Quaderni Rossi" (Rote Hefte). Die Entwicklung der Produktivkräfte folgt nicht automatisch einem historischen Gesetz (Geschichtsdeterminismus), sondern muss notwendig flankiert werden von einer beständigen Disziplinierung und Zurichtung der im Arbeitsprozess stehenden Personen. An dieser Stelle können daher Kämpfe zur Überwindung des Kapitalismus einsetzen. Arbeitsverweigerung, Krankfeiern, Sabotagen am Arbeitsplatz zersetzen die notwendige Disziplin, stören die Entwicklung der Produktivkräfte und führen so zu Krisen und zur möglichen Revolution. Als Mittel der Bewusstseinsbildung und Agitation wurde von den Operaisten auch der bereits von Marx erstmals entwickelte "Arbeiterfragebogen" verwendet. Über die teilnehmende Analyse der "Klassenzusammensetzung" in sog. "militante Untersuchungen" sollte der spezifische Ansatzpunkt effektiver Kämpfe durch die und mit der Arbeiterschaft entwickelt werden.

Historischer Ausgangspunkt

Die historische Situation zur Zeit der Entstehung des Operaismus in Italien stellte sich folgendermaßen dar: Junge Arbeiterinnen und Arbeiter fühlten sich damals von der kommunistischen Partei und den Gewerkschaften nicht mehr vertreten, da diese an ihren konkreten Problemen mit der Fabrikdisziplin nicht interessiert war und sich mit dem System arrangiert hatten. So kam es zu wilden Streiks in deren Folge eine breite soziale Bewegung entstand. Im Gefolge des massiven Aufschwunges der sozialen Bewegungen im "Heißen Herbst" von 1969 traten neue ProtagonistInnen auf die Bühne. Der Begriff "Massenarbeiter" wurde diskutiert. Aus der theoretischen und praktischen Kritik von StadtindianerInnen, FeministInnen und anderen AkteurInnen entwickelte sich die These vom "operaio/a sociale" (gesellschaftlicheR AbeiterIn). Diese Figur stand nach der Auflösung der linksradikalen Organisationen Anfang der 70er Jahre zunehmend im Zentrum von Theorie und Praxis der Autonomie. Die Bewegung der Autonomen agierte dezentral, vielfältig und militant. Nicht zuletzt über die Kriminalisierung (eine direkte Verbindung zwischen bewaffneten Gruppen wie den Brigate Rosse und den Autonomen wurde von Staat und Medien konstruiert) wurde die Bewegung der "autonomia" nach einem erneuten Aufflammen der sozialen Kämpfe 1977 schließlich durch den italienischen Staat massiv verfolgt und letztlich zerschlagen. Tausende wurden unter dem Vorwurf des Terrorismus oder auch nur der Sympathie mit Terroristen verhaftet, darunter auch der, nicht erst seit seinem gemeinsam mit Michael Hardt verfassten Bestseller Empire bekannte, politische Theoretiker Antonio Negri.

Theoretiker

Raniero Panzieri, Mario Tronti, Romano Alquati , Antonio Negri, Sergio Bologna, Danilo Montaldi, Franco Berardi

Postoperaismus

Der Postoperaismus steht zwar in der Tradition des italienischen Operaismus, verbindet dessen Ansätze jedoch mit theoretischen Aspekten des französischen Poststrukturalismus. Zentrale Begriffe des Postoperaismus sind : Empire, Bio-Macht und Bio-Politik, immaterielle Arbeit, Multitude und Souveränität

Bekannte Vertreter sind Antonio Negri, Michael Hardt, Maurizio Lazzarato

siehe auch: John Holloway, Neue Linke

Literatur

Geschichte

Originalwerke

  • Raniero Panzieri, in: Quaderni Rossi, Nr. 1, 1961 Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus
  • Romano Alquati: Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei OLIVETTI [1962/63]
  • Mario Tronti: Arbeiter und Kapital, Frankfurt am Main 1974
  • Libertini / Panzieri / Touraine: 7 Thesen zur Arbeiterkontrolle. Karin Kramer Verlag, 70er.
  • Wolfgang Rieland (Hg.): Fiat-Streiks-Massenkampf und Organisationsfrage, Schriften zum Klassenkampf 16, Trikont Verlag, München 1970, 216 Seiten
  • Mariarosa Dalla Costa/Selma James: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Internationale Marxistische Diskussion 36, Merve Verlag Berlin, 1973, 90 Seiten
  • Wolfgang Rieland: Organisation und Autonomie-Die Erneuerung der italienischen Arbeiterbewegung, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1977, 153 Seiten
  • Bergmann,Janssen,Klein (Hg.): Autonomie im Arbeiterkampf-Beiträge zum Kampf gegen die Fabrikgesellschaft, Trikont Verlagskollektiv, Verlag Assoziation, München 1978, 230 Seiten
  • Karlsruher Stadtzeitung (Hg.): Thekla 7-Arbeiteruntersuchung/Maschinen gegen Menschen, Karlsruhe 1985, Übersetzung versch. Texte der Quaderni Rossi
  • Trikont: Arbeiteruntersuchung und kapitalistische Organisation der Produktion, Quaderni Rossi-Schriften zum Klassenkampf 24, Trikont, München 1972, 150 Seiten
  • Wolfgang Rieland (Hg.): Romano Alquati: Klassenanalyse als Klassenkampf-Arbeiteruntersuchung bei FIAT und OLIVETTI, Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 1973

Operaismus in Deutschland

  • Geronimo: Feuer und Flamme ab Seite 51: "Wir wollen alles"-Betriebsprojektgruppen, ID Verlag, Berlin 1990, ISBN 3-89408-004-3
  • Gruppe Arbeitersache: Was wir brauchen müssen wir uns nehmen-Multinationale Betriebs- und Regionsarbeit der Gruppe Arbeitersache München, Schriften zum Klassenkampf 33, Trikont, München 1973, 179 Seiten
  • Betriebszelle Ford der Gruppe Arbeiterkampf: Streik bei Ford Köln, Rosa Luxemburg Verlagskollektiv, Köln 1973, 235 Seiten
  • Wir wollen alles 1971-1973, Monatliche Zeitung deutscher Betriebsprojektgruppen
  • Proletarische Front, vormals Trikont Hamburg: Programmatische Erklärung der Proletarischen Front, 1971, danach Abspaltung der Proletarischen Front-Gruppe westdeutscher Kommunisten
  • Proletarische Front-Gruppe westdeutscher Kommunisten: Zeitschrift: Doppelnummer 2/3, 1971; Dreifachnummer 4/5/6,Der gegenwärtige Imperialismus 1971; Nr. 7, 1972; Nr.8/9, 1972; Nr. 10, Arbeiterkampf in Deutschland-Klassenzusammensetzung und Kampfformen der Arbeiter seit dem Nationalsozialismus; Später Zeitschrift: Pflastersteine zum Kommunismus
  • Frombeloff (Hg.): ... und es begann die Zeit der Autonomie. Politische Texte von Karl Heinz Roth, Hamburg 1993 (mit vielen weiteren Nachweisen)
  • Detlef Hartmann: Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, Berlin 1988, zuerst Tübingen 1981, ISBN 3-924737-03-7
  • Autonomie im Arbeiterkampf, Beiträge zum Kampf gegen die Fabrikgesellschaft, Hamburg/München 1978
  • Karl Heinz Roth, Die "andere" Arbeiterbewegung und die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart ; Ein Beitr. zum Neuverständnis d. Klassengeschichte in Deutschland. Mit ausführl. Dokumentation zu Aufstandsbekämpfung, Werkschutz u.a., 2. Auflage, München: Trikont-Verlag 1976, ISBN 3-920385-55-1
  • Bernd Hüttner: Die Wiederkehr der Proletarität. Neuer klassenanalytischer Ansatz oder ökonomistische Fata Morgana? in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 21 (März 1995)

"Postoperaismus" und Debatte um Empire

  • Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998
  • Michael Hardt/ Antonio Negri: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin 1997
  • Antonio Negri und Michael Hardt(2002): Empire - die neue Weltordnung. Frankfurt/M, u.a.: Campus, ISBN 3-593-37230-4
  • Argument Heft 235, Immaterielle Arbeit, Hamburg 2000
  • Einführender Text zur Empire-Debatte aus der Zeitschrift grundrisse
  • Kerstin Stakemeier: "Der prekäre Wille zur Revolution. Über einige Schriften und Objekte des prekären Lebens" In: testcard # 16, S.169-178.
  • Robert Zion: Vom Ethos einer werdenden Menschheit (Episteme. Online-Magazin für eine Philosophie der Praxis, November 2008).

Weblinks


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