Procyon lotor

Procyon lotor
Waschbär
Waschbär  (Procyon lotor)

Waschbär (Procyon lotor)

Systematik
Überordnung: Laurasiatheria
Ordnung: Raubtiere (Carnivora)
Überfamilie: Hundeartige (Canoidea)
Familie: Kleinbären (Procyonidae)
Gattung: Waschbären (Procyon)
Art: Waschbär
Wissenschaftlicher Name
Procyon lotor
(Linnaeus, 1758)

Der Waschbär (Procyon lotor), auch als Nordamerikanischer Waschbär oder altertümlich als Schupp bezeichnet, ist ein in Nordamerika heimisches mittelgroßes Säugetier. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist er als Neozoon auch auf dem europäischen Festland, dem Kaukasus und Japan vertreten, nachdem er dort aus Gehegen entkommen ist oder ausgesetzt wurde. Gewässerreiche Laub- und Mischwälder stellen das bevorzugte Habitat der überwiegend nachtaktiven Raubtierart dar, die aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit aber auch zunehmend in Bergwäldern, Salzwiesen und urbanen Gebieten anzutreffen ist.

Mit einer Körperlänge zwischen 41 und 71 cm und einem Gewicht zwischen 3,6 und 9,0 kg ist der Waschbär der größte Vertreter der Familie der Kleinbären. Typisch für den Waschbären sind das ausgeprägte haptische Wahrnehmungsvermögen der Vorderpfoten und die schwarze Gesichtsmaske. Hervorzuheben ist ferner das gute Gedächtnis der Tiere, die sich in Versuchen auch noch nach drei Jahren an die Lösung einer früher gestellten Aufgabe erinnern konnten. Waschbären sind Allesfresser und ernähren sich zu ungefähr 40 % von pflanzlicher Kost, zu 33 % von Weichtieren und zu 27 % von Wirbeltieren. In Gefangenschaft gehaltene Waschbären tauchen ihre Nahrung oft unter Wasser, was als „Waschen“ gedeutet wurde, sehr wahrscheinlich aber eine Leerlaufhandlung zur Imitation der Nahrungssuche an Fluss- oder Seeufern ist.

Während der Waschbär früher als Einzelgänger angesehen wurde, gibt es heute Belege dafür, dass er ein geschlechtsspezfisches Sozialverhalten zeigt. Miteinander verwandte Weibchen (Fähen genannt) teilen sich oft ein gemeinsames Gebiet; nicht verwandte Männchen (Rüden genannt) dagegen leben in lockeren, aus bis zu vier Tieren bestehenden, Kleingruppen zusammen um sich gegenüber fremden Rüden während der Paarungszeit oder anderen potentiellen Angreifern behaupten zu können. Die Größe der Streifgebiete variiert zwischen 0,03 km2 für Weibchen in Städten und 49,5 km2 für Männchen in der Prärie. Nach einer Tragezeit von etwa 65 Tagen bringt das Weibchen im Frühling, abhängig von der örtlichen Situation, durchschnittlich 2,5 bis 4,8 Junge zur Welt. Die Welpen werden anschließend von ihrer Mutter bis zur allmählichen Trennung im Herbst alleine aufgezogen. Obwohl in Gefangenschaft gehaltene Waschbären über 20 Jahre alt werden können, liegt ihre durchschnittliche Lebenserwartung in freier Natur nur zwischen 1,8 und 3,1 Jahre. Jagd und Verkehrsunfälle sind in vielen Gebieten die zwei häufigsten Todesursachen.

Inhaltsverzeichnis

Taxonomie

Namensgebung

Das englische Wort für den Waschbären, raccoon, geht auf ein Wort in der Sprache der Algonkin zurück, das von Häuptling Powhatan und seiner Tochter Pocahontas ahrah-koon-em – andere Schreibweisen existieren – ausgesprochen wurde und so viel wie „der mit seinen Händen reibt, schrubbt und kratzt“ bedeutet. Gleichermaßen leitet sich das von spanischen Kolonialisten eingeführte spanische Wort mapache vom aztekischen Wort mapachitli ab, was mit „der alles in seine Hände nimmt“ übersetzt werden kann. Außer in Deutsch wird auch in vielen anderen Sprachen zur Bezeichnung des Waschbären ein Wort verwendet, das sich aus einem Begriff für das typische „Waschen“ der Nahrung in Gefangenschaftshaltung und dem jeweiligen Wort für Bär zusammensetzt, zum Beispiel orsetto lavatore in Italienisch und araiguma (洗熊) in Japanisch. Die umgangssprachliche englische Abkürzung coon wird in Worten wie coonskin für Pelzkleidung und old coon als Selbstbezeichnung von Trappern verwendet.[1][2]

In den ersten Jahrzehnten nach der Entdeckung des Waschbären durch die Mitglieder der Expedition von Christoph Kolumbus, der als erster Mensch eine schriftliche Aufzeichnung über die Tierart verfasste, unterstellten Taxonomen eine Verwandtschaft zu vielen anderen Tierarten, unter anderem den Hunden, Katzen, Dachsen und vor allem den Bären. Carl von Linné, der Vater der modernen Taxonomie, ordnete den Waschbären ebenfalls der Gattung Ursus zu, zuerst als Ursus cauda elongata („langschwanziger Bär“) in der zweiten Ausgabe seiner Systema Naturae, und schließlich als Ursus Lotor („Waschbär“) in der zehnten Ausgabe. 1780 ordnete der deutsche Naturforscher Gottlieb Conrad Christian Storr den Waschbären einer eigenen Gattung mit dem Namen Procyon zu, was übersetzt sowohl „vor dem Hund“ als auch „hundähnlich“ bedeuten kann. Storr könnte aufgrund des nachtaktiven Lebensstils des Waschbären aber auch den Stern Prokyon als Namensgeber der Gattung ausgewählt haben.[3][4][5]

Evolution

Aufgrund von Fossilienfunden in Frankreich und Deutschland wird davon ausgegangen, dass die ersten Vertreter der Familie der Kleinbären vor etwa 25 mya (spätes Oligozän) in Europa lebten. Sich ähnelnde Zahn- und Schädelstrukturen deuten darauf hin, dass Kleinbären und Marder einen gemeinsamen Vorfahren besitzen, aber molekulare Analysen sprechen für eine nähere Verwandtschaft zu den Bären. Nach der Überquerung der Beringstraße mindestens sechs Millionen Jahre später lag das Zentrum des Verbreitungsgebiets der damals vorkommenden Arten vermutlich in Zentralamerika. Nasenbären (Nasua und Nasuella) und Waschbären (Procyon) gingen möglicherweise vor 5,2 bis 6,0 mya aus einer Art der Gattung Paranasua hervor. Dieser auf morphologischen Fossilienvergleichen basierenden Annahme steht eine 2006 durchgeführte genetische Analyse entgegen, nach der Waschbären näher mit den Katzenfretten verwandt sind.[6] Im Gegensatz zu den anderen Kleinbären, wie etwa dem Krabbenwaschbären (Procyon cancrivorus), verließen die Vorfahren des Waschbären tropische und subtropische Gebiete und zogen vor etwa 2,5 mya weiter nach Norden, was durch den Fund von Fossilien, die aus dem mittleren Pliozän stammen und in den Great Plains gefunden wurden, gezeigt wurde.[7][8]

Unterarten

Fünf ausschließlich auf kleinen zentralamerikanischen und karibischen Inseln vorkommende Waschbärarten wurden nach ihrer Entdeckung zumeist als eigenständige Arten angesehen. Dabei handelt es sich um den Bahamas-Waschbär und den Guadeloupe-Waschbär, die sich sehr ähnlich sind, den Tres-Marias-Waschbär, der überdurchschnittlich groß ist und sich durch einen auffällig quadratischen Schädel auszeichnet, den Cozumel-Waschbär, der nur 3 bis 4 kg wiegt und besonders kleine Zähne aufweist, und den ausgestorbenen Barbados-Waschbär. In den Jahren 1999, 2003 und 2005 durchgeführte morphologische und genetische Studien führten jedoch dazu, dass alle diese sogenannten Inselwaschbären mit Ausnahme des Cozumel-Waschbären (Procyon pygmaeus), in der dritten Ausgabe des zoologischen Standardwerks Mammal Species of the World (2005) als Unterarten des (nordamerikanischen) Waschbären aufgelistet wurden.[9][10][11][12]

Die vier kleinsten Unterarten, darunter zum Beispiel Procyon lotor marinus, mit einem durchschnittlichen Gewicht von 1,8 bis 2,7 kg leben entlang der Südküste Floridas und den angrenzenden Inseln. Die meisten der anderen 15 Unterarten unterscheiden sich nur geringfügig voneinander bezüglich Fellfarbe, Größe oder anderen physischen Merkmalen. Die zwei am weitesten verbreiteten Unterarten sind Procyon lotor lotor und Procyon lotor hirtus. Wie der größere P.l. hirtus weist auch P.l. lotor ein vergleichsweise dunkles, langhaariges Fell auf. P.l. lotor kommt in allen US-Bundesstaaten und kanadischen Provinzen nördlich von South Carolina und Tennessee vor. Das angrenzende Verbreitungsgebiet von P.l. hirtus umfasst alle US-Bundesstaaten und kanadische Provinzen nördlich von Louisiana, Texas und New Mexico.[13][14]

Merkmale

Körperbau

Portrait
Unterseite der Vorderpfote
Fährte
Penisknochen

Die Körperlänge des Waschbären liegt zwischen 41 und 71 cm, nicht eingerechnet der zwischen 19,2 und 40,5 cm lange buschige Schwanz, der normalerweise aber nicht deutlich länger als 25 cm ist. Die Schulterhöhe liegt zwischen 22,8 und 30,4 cm. Das Körpergewicht erwachsener Waschbären differiert je nach Verbreitungsgebiet und Jahreszeit zwischen 1,8 und 13,6 kg, wobei übliche Werte zwischen 3,6 und 9,0 kg liegen. Die kleinsten Individuen sind an der Südküste Floridas anzutreffen, die größten gemäß der Bergmannschen Regel an der nördlichen Grenze des Verbreitungsgebiets. Männliche Exemplare sind in der Regel 15 bis 20 % schwerer als Weibchen. Zu Winteranfang können Waschbären aufgrund des angefressenen Winterspecks mehr als doppelt so viel wiegen wie im Frühling. Der schwerste in freier Natur lebende Waschbär wog 28,4 kg, was das mit Abstand höchste je gemessene Gewicht eines Kleinbären darstellt.[15][16][17][18]

Die charakteristische Gesichtszeichnung des Waschbären mit der schwarz gefärbten Gesichtsmaske rund um die Augen, die sich scharf vom umgebenden weißen Fell absetzt, ähnelt der des Marderhundes. Auch die leicht abgerundeten Ohren werden von weißem Fell umrandet. Es wird angenommen, dass Waschbären den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung gegenüberstehender Artgenossen aufgrund der markanten Gesichtszeichnung in Zusammenspiel mit dem hell-dunkel gestreiften Schwanz schneller erfassen können. Die dunkle Maske könnte auch Blendeffekte reduzieren und dadurch die Nachtsicht verbessern. Am restlichen Körper ist das lange und wasserabweisende Oberfell in verschiedenen Grau- und, in geringerem Umfang, Brauntönen gefärbt. Waschbären mit sehr dunkel gefärbtem Fell sind vor allem in der deutschen Population vertreten, da sich in der Gründerpopulation einzelne Tiere mit derartiger Fellzeichnung befanden.[19] Das dichte Unterfell, das fast 90 % der Gesamtzahl an Haaren ausmacht, schützt die Tiere vor Kälte und besteht aus 2,0 bis 3,0 cm langen Haaren.[20][21][22][23]

Waschbären, die im Allgemeinen als Sohlengänger eingestuft werden, können sich auf ihre Hinterbeine stellen und Objekte mit ihren Vorderpfoten untersuchen. Weil Waschbären im Verhältnis zu ihrem gedrungenen Rumpf nur über kurze Beine verfügen, sind sie nicht dazu in der Lage, schnell zu rennen oder weit zu springen. Ihre Spitzengeschwindigkeit über kurze Strecken beträgt 16 bis 24 km/h.[24] Waschbären können mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 4,8 km/h schwimmen und mehrere Stunden im Wasser ausharren. Um einen Baum mit dem Kopf voraus hinunter zu klettern, eine ungewöhnliche Fähigkeit für ein Säugetier dieser Größe, verdrehen Waschbären ihre Hinterpfoten bis diese nach hinten zeigen. Waschbären können zur Regulation ihrer Körperwärme sowohl Schwitzen als auch Hecheln. Ihr Gebiss mit der Zahnformel 3142/3142 setzt sich aus 40 Zähnen zusammen, welche an ihre Lebensweise als Allesfresser angepasst sind. Weder ist die Kaufläche der Backenzähne so breit wie die reiner Pflanzenfresser, noch sind die Schneidezähne so scharf und spitz wie die reiner Fleischfresser. Der Penisknochen der Rüden ist etwa 10 cm lang und am vorderen Ende stark gebogen. Sieben der 13 bekannten Lautäußerungen werden in der Kommunikation zwischen Mutter und Jungtieren verwendet, darunter das vogelhafte Zwitschern von Neugeborenen.[25][26][27]

Sinneswahrnehmung

Der für den Waschbären wichtigste Sinn ist der Tastsinn. Die „hypersensiblen“[28] Vorderpfoten sind zu ihrem Schutz von einer dünnen Hornschicht umgeben, die unter Wasser aufweicht. Ungewöhnlich für ein Raubtier sind zudem die fünf freistehenden Finger, wobei die Beweglichkeit der Vorderpfoten aufgrund des nicht opponierbaren Daumens aber nicht mit der der Hände von Primaten vergleichbar ist. Nahezu zwei Drittel des für die Sinneswahrnehmung zuständigen Areals der Großhirnrinde ist auf die Interpretation taktiler Reize spezialisiert, mehr als bei jeder anderen untersuchten Tierart. Mit den Vibrissen über den scharfen, nicht einziehbaren Krallen können Waschbären Gegenstände schon vor dem Anfassen erkennen. Es ist unbekannt, weshalb es die taktile Wahrnehmung nicht negativ beeinflusst, wenn ein Waschbär stundenlang in weniger als 10° C kaltem Wasser steht.[29][30][31][32]

Es wird angenommen, dass Waschbären farbenblind sind oder Farben zumindest schlecht unterscheiden können, wobei vor allem grünes Licht gut wahrgenommen wird. Obwohl sie aufgrund des als Restlichtverstärker wirkenden Tapetum lucidum hinter der Netzhaut auch im Dämmerlicht gut sehen können und der Sehschärfenbereich von 11 Dioptrien mit dem des Menschen vergleichbar ist, ist die visuelle Wahrnehmung für Waschbären von untergeordneter Bedeutung. Außer für die Orientierung im Dunkeln ist der Geruchssinn vor allem bei der Kommunikation mit Artgenossen wichtig. Urin, Kot und Drüsensekrete, die zumeist mit der Analdrüse verteilt werden, kommen dabei als Duftmarken zum Einsatz. Mit ihrem Gehör, dessen Hörgrenze bei 50 bis 85 kHz liegt, sind Waschbären dazu in der Lage, sehr leise Geräusche wahrzunehmen, wie sie etwa im Boden eingegrabene Regenwürmer verursachen.[33][34][35]

Geistige Fähigkeiten

Von den wenigen durchgeführten Studien über die geistigen Fähigkeiten des Waschbären basieren die meisten auf seiner taktilen Wahrnehmung. In einem Versuch des Verhaltensforschers H. B. Davis im Jahr 1908 gelang es den untersuchten Waschbären elf von 13 komplexen Verschlüssen in weniger als zehn Versuchen zu öffnen und ihre Vorgehensweise anschließend anzupassen nachdem die Schlösser anders angeordnet oder auf den Kopf gestellt wurden. Davis zog den Schluss, dass sie das abstrakte Prinzip der Verschlussmechanismen verstanden hatten und dass ihre Lerngeschwindigkeit der von Rhesusaffen entspricht.[36] Bei Untersuchungen in den Jahren 1963, 1973, 1975 und 1992 wurde das Gedächtnis von Waschbären getestet und festgestellt, dass sie sich auch noch nach drei Jahren an die Lösung einer früher gestellten Aufgabe erinnern konnten. 1992 zeigte zum Beispiel B. Pohl, dass Waschbären drei Jahre nach der kurzen initialen Trainingsphase sofort wieder zwischen gleichen und verschiedenen Symbolen unterscheiden konnten. Stanislas Dehaene berichtet in seinem Buch Der Zahlensinn, dass Waschbären Behälter, die zwei oder vier Trauben enthalten, von solchen unterscheiden können, die drei enthalten.[37][38]

Lebensweise

Sozialverhalten

Waschbären beim gemeinsamen Fressen

Zwei in den 1990er Jahren von den Verhaltensforschern Stanley D. Gehrt und Ulf Hohmann geleitete Untersuchungen zeigten, dass Waschbären entgegen früherer Annahmen normalerweise nicht einzelgängerisch leben, sondern ein geschlechtsspezfisches Sozialverhalten zeigen.[39] Miteinander verwandte Weibchen leben in einer sogenannten fission-fusion society, das heißt sie teilen sich ein Streifgebiet und treffen sich dabei gelegentlich an gemeinsam genutzten Futterstellen oder Schlafplätzen. Nicht miteinander verwandte Männchen leben in lockeren Rüdenkoalitionen zusammen, um sich so gegenüber fremden Rüden während der Paarungszeit oder anderen potentiellen Angreifern behaupten zu können. Solch eine Gruppe besteht in der Regel aus nicht mehr als vier Individuen. Weil erwachsene Männchen aggressives Verhalten gegenüber nicht mit ihnen verwandten Jungtieren zeigen können, gehen Mütter anderen Waschbären aus dem Weg bis ihre Jungen groß genug sind um sich selbst verteidigen zu können. Aufgrund dieser drei unterschiedlichen Lebensweisen wird die Sozialstruktur des Waschbären von Hohmann auch als Dreiklassengesellschaft bezeichnet.[40] Samuel I. Zeveloff, Professor der Zoologie an der Weber State University und Autor der Monographie Raccoons: A Natural History (Waschbären: Eine Naturgeschichte) ist bei seiner Darstellung des Forschungsstands vorsichtiger und weist darauf hin, dass zumindest die Weibchen die meiste Zeit einzelgängerisch lebten und, unter Hinweis auf eine 1978 von Erik K. Fritzell in North Dakota durchgeführte Studie, ebenso Männchen in Gebieten mit geringen Populationsdichten.[41][42][43]

Bei ausreichendem Nahrungsangebot können sich die Aktionsräume von Waschbären stark überschneiden, ohne dass es zu Auseinandersetzungen kommt. Zum Informationsaustausch über ergiebige Futterstellen oder gut geschützte Schlafplätze treffen sich Waschbären an Sammelplätzen oder hinterlassen dort Nachrichten in Form von Duftmarken.[44] Waschbären treffen sich außerdem zum gemeinsamen Fressen, Schlafen und Spielen.

Ernährung

Waschbär bei der Nahrungssuche am Seeufer

Waschbären sind Allesfresser, deren Speiseplan sich zu ungefähr 40% aus Wirbellosen, zu 33% aus pflanzlicher Nahrung und zu 27% aus Wirbeltieren zusammensetzt.[45] Laut Zoologe Samuel I. Zeveloff dürfte der Waschbär zu den „omnivorsten Tieren der Welt“ gehören.[46] Während Waschbären im Frühjahr vorwiegend Insekten, Würmer und andere schon verfügbare Tiere fressen,[47] bevorzugen sie im Herbst kalorienhaltige pflanzliche Kost wie Obst und Nüsse um sich genügend Winterspeck anzufressen.[48] Was Wirbeltiere angeht, sind Fische und Amphibien die häufigsten Beutetiere.[49] Entgegen weitverbreiteter Ansicht fressen Waschbären nur vereinzelt Vögel und Kleinsäuger, da sich die vergleichsweise aufwendige Jagd zur Erbeutung dieser Tiere für sie nicht lohnt.[49] Bei großer Nahrungsauswahl können Waschbären starke individuelle Vorlieben für bestimmte Nahrungsmittel entwickeln.[50] Im Winter finden sie demgegenüber kaum noch Nahrung und müssen bei anhaltendem Frost sogar fasten.

Waschbären „waschen“ in Gefangenschaft häufig ihre Nahrung

„Waschen“ der Nahrung

Waschbären tasten Nahrungsmittel und andere Gegenstände mit ihren Vorderpfoten sorgfältig ab, um sich ein Bild von ihnen zu machen und unerwünschte Teile zu entfernen. Wenn die schützende Hornhaut unter Wasser aufgeweicht wird, erhöht sich zudem deren Sensibilität.[51] Während in freier Natur Waschbären an Land gefundenes Futter niemals zu einer Wasserstelle tragen um es dort vor dem Verzehr zu „waschen“,[52] kann dieses Verhalten bei in Gefangenschaft gehaltenen Tieren häufig beobachtet werden.[53] Der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) glaubte noch, dass Waschbären über keine ausreichenden Speicheldrüsen verfügten um das Futter anzufeuchten,[54] was definitiv falsch ist.[55] In Gefangenschaft gehaltene Waschbären „waschen“ ihre Nahrung besonders häufig, wenn eine Wasserstelle, die einen Grund ähnlich einem Flussbett aufweist, nicht weiter als 3,0 m entfernt ist.[56] Es wird weithin angenommen, dass es sich beim „Waschen“ der Nahrung um eine Leerlaufhandlung handelt, mit der die Nahrungssuche am Ufer nach Kleinlebewesen imitiert werden soll.[57] Die Beobachtung, dass aquatische Nahrungsmittel häufiger „gewaschen“ werden, unterstützt diese Theorie.[58] Das Säubern verschmutzter Nahrungsmittel scheint dagegen meistens keine Rolle zu spielen.[59] Strittig dagegen ist, ob sogar wild lebende Waschbären dazu neigen sehr trockenes Futter bei Gelegenheit unter Wasser aufzuweichen.[60]

Habitat

Waschbär auf einem Apfelbaum

Von verstädterten Tieren abgesehen sind gewässerreiche Misch- und Laubwälder mit einem hohen Eichenanteil der bevorzugte Lebensraum von Waschbären. Hier finden sie genügend Nahrung und Unterschlupfmöglichkeiten. Bei Gefahr flüchten sie auf einen Baum, sie meiden deshalb offenes Gelände. Waschbären sind gute Schwimmer und leben bevorzugt in der Nähe von Flüssen oder anderen Gewässern, sie finden dort einen Großteil ihrer tierischen Nahrung. In Amerika gelingt es dem Waschbären aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit zunehmend, für ihn als ungeeignet eingeschätzte Lebensräume wie Steppen oder kalte, weiter nördlich gelegene Gebiete zu besiedeln.

Schlafplätze

Waschbären sind gute Kletterer

Waschbären sind dämmerungs- und nachtaktive Tiere, was der Hauptgrund dafür ist, dass man sie nur selten zu Gesicht bekommt. Sie sind geschickte Kletterer und schlafen tagsüber mit Vorliebe in den Baumhöhlen alter Eichen. Wenn sich ein Waschbär außerhalb der Reichweite einer seiner bevorzugten Hauptschlafstätten befindet, bezieht er sein Taglager alternativ auch in alten Steinbrüchen, im dichten Gestrüpp oder in Dachsbauten. In den nördlichen Bereichen seines Verbreitungsgebiets hält der Waschbär eine Winterruhe, während der er seine Aktivitäten stark reduziert.

Fortpflanzung

Waschbärwelpe (etwa acht Wochen alt)

Damit die Aufzucht der Welpen nicht mit dem Beginn des nächsten Winters zusammenfällt, paaren sich Waschbären zumeist im Februar. Wenn ein Weibchen nicht trächtig wird oder seine Jungen frühzeitig verliert, wird es im Mai oder Juni manchmal erneut empfängnisbereit. Zur Paarungszeit ziehen die Männchen in ihren Streifgebieten rastlos umher und umwerben die an einigen Sammelplätzen zusammenkommenden Weibchen, deren drei- bis viertägige Empfängnisperioden zeitlich zusammenfallen. Die anschließende Paarung erstreckt sich über mehrere Nächte hinweg, während denen sich intensives Vorspiel, der eigentliche Akt und eine anschließende Ruhepause abwechseln. Die meisten Weibchen lassen sich dabei nur von einem Männchen begatten.

Um eine hohe, zum Beispiel durch Bejagung ausgelöste Sterblichkeitsrate auszugleichen, steigt der Anteil der trächtig werdenden Weibchen stark an. Während die Gesamtpopulation dadurch annähernd stabil bleibt, sinkt der Altersdurchschnitt rapide. Insofern erweist es sich fast immer als wirkungslos, Waschbären durch vermehrte Jagd aus einem Gebiet, das für sie einen günstigen Lebensraum darstellt, dauerhaft vertreiben zu wollen. Selbst wenn dies ausnahmsweise gelingen sollte, würden aber schon bald darauf andere Waschbären in die derart frei werdenden Territorien nachfolgen.

Entwicklung der Jungen

Nach etwa 65 Tagen Tragzeit bringt das nach der Paarung wieder allein lebende Weibchen im Frühling im Schnitt 2,5 bis 3,5 Junge zur Welt. Die Welpen sind bei der Geburt blind und mit einem gelblichem Flaum bedeckt. Das Geburtsgewicht der zehn Zentimeter großen Welpen beträgt 65 bis 75 Gramm. Während des ersten Lebensmonats nehmen die Welpen keine feste Nahrung zu sich, sondern werden ausschließlich von ihrer Mutter gesäugt. Nach zwei bis drei Wochen öffnen sie erstmals die Augen. Im Alter von sechs bis neun Wochen verlassen die zu diesem Zeitpunkt ungefähr ein Kilogramm wiegenden Jungen erstmals die Wurfhöhle, werden jedoch auch danach noch ein bis zwei Monate lang mit nachlassender Intensität gesäugt. Im Herbst erfolgt die allmähliche Trennung von der Mutter. Während die Weibchen schon vor dem Beginn der nächsten Hauptpaarungszeit die Geschlechtsreife erreichen, ist dies nur bei einem Teil der Männchen der Fall. Während viele weibliche Nachkommen zeitlebens in der Nähe ihrer Mutter bleiben, suchen sich die jungen Männchen ein weiter entferntes Territorium, was als instinktives Verhalten zur Vermeidung von Inzucht zu verstehen ist.

Lebenserwartung

Genauso wie in Gefangenschaft gehaltene Tiere können auch wild lebende Waschbären 16 Jahre und älter werden, aber die meisten leben nur wenige Jahre.[61] Es ist nicht ungewöhnlich, dass nur die Hälfte der in einem Jahr geborenen Jungtiere bis zu ihrem ersten Geburtstag überleben.[62] Anschließend fällt die jährliche Todesrate auf 10 bis 30 %.[63] Eine der häufigsten natürlichen Todesursachen für junge Waschbären außer dem Tod ihrer Mutter in den ersten Lebenswochen ist das Verhungern während des ersten Winters, gerade wenn dieser besonders kalt und lang ist.[64] Die häufigste natürliche Todesursache in Nordamerika ist die häufig epidemisch auftretende Krankheit Staupe, der ein Großteil der in einem Gebiet lebenden Waschbären zum Opfer fallen können.[65] In Gebieten mit viel Straßenverkehr und in denen Waschbären extensiv bejagt werden, können diese beiden Todesursachen für bis zu 90 % aller Todesfälle erwachsener Waschbären verantwortlich sein.[66] Natürliche Feinde wie Rotluchse, Kojoten und andere Raubtiere spielen normalerweise keine entscheidende Rolle als Todesursache, zumal größere Räuber in vielen Gebieten durch den Menschen ausgerottet wurden.[67] Alles in allem beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung wild lebender Waschbären daher abhängig von den lokalen Bedingungen bezüglich Verkehrsaufkommen, Jagddruck und extremen Witterungsbedingungen nur 1,8 bis 3,1 Jahre.[68]

Verbreitungsgebiet

Verbreitung in Amerika

Weltweite Verbreitung des Waschbären
 ursprüngliche Heimat
 eingeschleppt

Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet des Waschbären erstreckt sich von Panama über Mexiko und fast die gesamte USA bis zum Süden Kanadas. Hiervon ausgenommen sind nur Wüstengebiete und das Hochgebirge der Rocky Mountains.

Verbreitung des Waschbären in Deutschland: Bei der Jagd getötete oder von Jägern tot aufgefundene Waschbären in den Jagdjahren 2000/01, 01/02 und 02/03 in den deutschen Landkreisen.

Verbreitung in Europa

Alle in Europa vorkommenden Waschbären gehen auf Tiere zurück, die im 20. Jahrhundert aus Pelztierfarmen und Gehegen entkommen sind oder ausgesetzt wurden. Als derartiger Gefangenschaftsflüchtling sind sie der Gruppe der Neozoen zuzurechnen, wobei sie in Deutschland inzwischen zu den einheimischen Tierarten gezählt werden. Heute gibt es in weiten Teilen Deutschlands sowie Gebieten der angrenzenden Länder stabile Waschbärpopulationen. Weitere Vorkommen existieren im Süden Weißrusslands, dem Kaukasus und im Norden Frankreichs, wo im Jahr 1966 bei Laon einige Exemplare von amerikanischen Soldaten ausgesetzt wurden.

Das für die Verbreitung des Waschbären in Europa wichtigste Ereignis war das Aussetzen von zwei Waschbärpaaren am 12. April 1934 am hessischen Edersee[69] . Die vier Waschbären wurden vom Forstmeister Wilhelm Freiherr Sittich von Berlepsch auf Wunsch des Besitzers, dem Geflügelzüchter Rolf Haag, ausgesetzt, noch bevor er dazu zwei Wochen später die Genehmigung des Preußischen Landesjagdamts erhielt um dadurch „die heimische Fauna zu bereichern“. Obwohl es schon vorher ein paar Ansiedlungsversuche gegeben hatte, war nur dieser erfolgreich. Das Gebiet um den Edersee stellte einen für die ausgesetzten Waschbären fast optimalen Lebensraum dar, so dass die von diesem Zentrum ausgehende weitere Verbreitung schnell und dauerhaft erfolgen konnte. 1956 wurde der Bestand in Deutschland auf 285 Tiere geschätzt, 1970 auf etwa 20.000 Tiere und im Jahr 2005 auf eine niedrige bis mittlere sechsstellige Zahl. Obwohl durch diesen Gründereffekt ein genetischer Flaschenhals entstanden ist, scheint dies keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Waschbärpopulation gehabt zu haben.

Der Ausbruch von etwa zwei Dutzend Waschbären nach einem Bombentreffer auf ein Waschbärgehege in Wolfshagen (heute Ortsteil von Altlandsberg) bei Strausberg in Brandenburg im Jahre 1945 führte zu einem weiteren Verbreitungsgebiet. Die daraus entstandene Population lässt sich bis heute genetisch und parasitologisch von der mitteldeutschen unterscheiden. Während über 70 Prozent der Waschbären der mitteldeutschen Population mit dem Waschbärspulwurm infiziert sind, wurde bislang bei keinem Waschbär aus dem brandenburgischen Verbreitungsgebiet eine Spulwurminfektion diagnostiziert. In Sachsen-Anhalt wurde eine Infektionsrate von 39 Prozent gemessen, weswegen dieses Gebiet eine wichtige Rolle als Verschmelzungsgebiet der beiden großen Populationen zu spielen scheint.

Der Waschbär als Neozoon

Der Waschbär ist einer der erfolgreichsten Neozoen des europäischen Kontinents, da er sich innerhalb weniger Jahrzehnte über weite Teile Deutschlands ausgebreitet hat. Viele Jäger und Förster, sowie einige Naturschützer sind der Ansicht, dass die als unkontrolliert bezeichnete Ausbreitung äußerst negative Auswirkungen auf das Ökosystem der deutschen Wälder habe. Argumentiert wird dabei vor allem damit, dass der Waschbär heimische Raubtiere verdränge und geschützte Vogelarten ausrotte. Die Zoologen Ulf Hohmann und Frank-Uwe Michler, die sich mehr als sechs Jahre lang wissenschaftlich mit dem Verhalten und der Ausbreitung des Waschbären in Deutschland auseinandergesetzt haben,[70][71] widersprechen dieser Auffassung teilweise vehement und verteidigen den „Prügelknaben“ Waschbär.[72] Hohmann argumentiert, dass das Fehlen natürlicher Feinde im europäischen Raum alleine eine extensive Jagd nicht rechtfertige, da diese auch im nordamerikanischen Verbreitungsgebiet keine Rolle als wesentliche Todesursache spielten.[73] Zudem lägen die in der Presse angegebenen Populationsdichten manchmal mehr als zehn mal über den gemessenen.[74]

Michler weist darauf hin, dass es keinerlei Anzeichen dafür gebe, dass eine hohe Populationsdichte negative Effekte auf die Biodiversität eines Gebiets habe. Daher sei es „reine Spekulation“ und entbehre „jeder Seriosität“, wenn ohne vorherige wissenschaftliche Untersuchung ein kausaler Zusammenhang zwischen Waschbärvorkommen und dem Bestandsrückgang einer anderen Art in einem Gebiet hergestellt werde. Aus diesem Grund wird die Bekämpfung des Waschbären nach der Berner Biodiversitäts-Konvention von ihm abgelehnt, da diese besonders negative Auswirkungen eines Neozoons auf ein Ökosystem voraussetze. Zum eventuell notwendigen Schutz lokaler Vogelpopulationen wäre demgegenüber ein konsequenteres Vorgehen als üblich erforderlich, was jedoch einen hohen personellen und finanziellen Aufwand erfordere.[19]

Zudem weisen die Jäger Hohmann und Michler auf Tierschutz-Verstöße bei der Waschbärjagd hin.[75] So wird in einer Pressemitteilung des von Michler geleiteten „Projekt Waschbär“ zur Untersuchung des Waschbärvorkommens im Müritz-Nationalpark der Einsatz von Abzugeisen in Gebieten mit Waschbärvorkommen als „vorsätzliche Tierquälerei“ verurteilt, da durch die Aufnahme des Köders mit den Vorderpfoten kein Unterschied zur Wirkung verbotener Tellereisen bestehe.[76]

Verstädterte Waschbären

Aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit ist es dem Kulturfolger Waschbär gelungen, urbane Gebiete als Lebensraum zu nutzen. Die ersten Berichte über im städtischen Raum lebende Waschbären stammen aus den 1920er Jahren aus einem Vorort von Cincinnati, Ohio. Seit den 1950er Jahren sind Waschbären in nordamerikanischen Metropolen wie Washington D. C., Chicago und Toronto in großer Zahl anzutreffen.[77] Seit den 1960er Jahren beherbergt Kassel die europaweit erste und dichteste Waschbärpopulation in einem großen städtischen Gebiet mit ungefähr 50 bis 150 Tieren pro Quadratkilometer; eine Zahl vergleichbar mit denen in urbanen Habitaten in Nordamerika.[78][77] Hohe Populationsdichten werden auch aus anderen Ortschaften in Nordhessen und Südniedersachsen gemeldet. In vielen anderen Städten wie Berlin gibt es vereinzelte Sichtungen.[79]

Die Größe der Aktionsräume verstädterter Waschbären verringert sich auf etwa 0,03 bis 0,38 km² für Weibchen und 0,08 bis 0,79 km² für Männchen.[80] In Kleinstädten und Vororten schlafen viele Waschbären im nahen Wald nach der Nahrungssuche im Siedlungsgebiet.[81][77] Früchte und Insekten in Gärten und Speisereste im Müll sind leicht verfügbare Nahrungsquellen.[82] Außerdem gibt es eine große Anzahl zusätzlicher Schlaf- und Wurfplätze wie Baumhöhlen in alten Gartenbäumen, Gartenhäuschen, Garagen, verlassene Häuser und Dachböden. Die Anzahl der in Häusern schlafenden Waschbären schwankt von 15 % in Washington D. C. (1991) bis zu 43 % in Kassel (2003).[83]

Waschbär und Mensch

Konflikte

Waschbär auf dem Dach eines Wohnhauses in Albertshausen, Nordhessen

Die steigende Anzahl an Waschbären im menschlichen Siedlungsraum hat zu sehr unterschiedlichen Reaktionen geführt, die von totaler Ablehnung bis zur regelmäßigen Fütterung der Tiere reichen.[84] Die meisten Behörden und einige Wildtierexperten warnen davor, Wildtiere zu füttern, weil diese dadurch immer aufdringlicher oder von Menschen als Futterquelle abhängig würden.[85] Andere Wildtierexperten zweifeln dies an und geben in ihren Büchern Ratschläge für die Fütterung von Wildtieren.[86][87] Fehlende Scheu vor Menschen ist mit großer Wahrscheinlichkeit kein Anzeichen für Tollwut, sondern eine Verhaltensanpassung der seit vielen Generationen in der Stadt lebenden Tiere.[88]

Während ausgeräumte Mülltonnen und abgeerntete Obstbäume von den Hausbesitzern zumeist nur als lästig angesehen werden, kann die Reparatur von Schäden, die Waschbären bei der Nutzung von Dachböden als Schlafplatz verursachen, mehrere tausend Euro kosten.[89] Das Fangen oder Töten einzelner Tiere löst jedoch in der Regel nur Probleme mit sich besonders wild verhaltenden oder sogar aggressiven Exemplaren, da geeignete Schlafplätze entweder mehreren Waschbären bekannt sind oder bald wiederentdeckt werden.[90] Stattdessen sind vorbeugende Maßnahmen wie das Stutzen von Ästen, die verhindern, dass Waschbären überhaupt in das Gebäude gelangen, viel effektiver und kostengünstiger.[91]

Oft ist es nicht möglich, Waschbären durch starke Bejagung dauerhaft aus einem Gebiet zu vertreiben, das für sie einen gut geeigneten Lebensraum darstellt, da sie ihre Fortpflanzungsrate bis zu einer gewissen Grenze steigern können oder Tiere aus dem Umland in die frei gewordenen Streifgebiete einwandern. Junge Rüden reklamieren zudem kleinere Streifgebiete für sich als ältere, was einen Anstieg der Populationsdichte zur Folge hat.[19] Die Kosten, um aus einem größeren Gebiet auch nur zeitweise alle Waschbären zu entfernen, übersteigen in der Regel die Kosten der durch sie verursachten Schäden um ein Vielfaches.[19]

Waschbären als Krankheitsüberträger

Waschbärspulwurm-Larven

Aus dem verstärkten Kontakt zwischen Waschbär und Mensch ergeben sich Probleme bezüglich der Übertragung von Krankheiten. Im Gegensatz zu seiner amerikanischen Heimat weist der Waschbär in Europa ein stark eingeschränktes Parasitenspektrum auf. Während die Waschbärtollwut in Amerika eine ernstzunehmende Gefahr darstellt, ist diese in Europa erst vereinzelt nachgewiesen worden. Hier gilt zur Zeit nur ein einziger Parasit des Waschbären als ein für den Menschen potentiell gefährlicher Erreger, nämlich der Waschbärspulwurm, der im Dünndarm der Tiere lebt. Die Infektion erfolgt dabei durch die orale Aufnahme von Spulwurmeiern im Waschbärkot, zum Beispiel bei der Säuberung von Waschbärlatrinen. Weil der Mensch für den Spulwurm ein Fehlwirt ist, sind Erkrankungen aber sehr selten.

Haltung

Der Waschbär wird vor allem in den USA gelegentlich als Haustier gehalten, wovon aber viele Experten abraten, da er keine domestizierte Tierart ist und sich unvorhersehbar und aggressiv verhalten kann.[92][93] In vielen amerikanischen Bundesstaaten ist es daher verboten, Waschbären zu halten, wenn nicht ähnlich wie in Deutschland zumindest eine Genehmigung zur Haltung exotischer Haustiere erforderlich ist.[94][95] In den USA werden privat gehaltene Waschbären, die eine andere Person gebissen haben, regelmäßig zur Durchführung einer Tollwutuntersuchung getötet.

Gehege

Viele geschlechtsreife Waschbären verhalten sich während der Paarungszeit aggressiv und beißen etwa unvermittelt zu.[92] Eine Kastration im fünften oder sechsten Lebensmonat reduziert die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass derartige Verhaltensweisen auftreten.[96] Wenn sie sich nicht genug bewegen oder falsch ernährt werden, können Waschbären verfetten oder Verhaltensstörungen entwickeln. Mit Hinblick auf die neuesten Forschungsergebnisse zum Sozialverhalten des Waschbären vertreten einige Halter inzwischen die Ansicht, dass sie möglichst nicht alleine gehalten werden sollten, damit sie nicht vereinsamen.[97]

Pelzverarbeitung

Automobilisten-Mantel aus Waschbärpelz; USA (1906)

Das Waschbärfell stellt einen wesentlichen Anteil der Pelzbekleidung und Pelzaccessoires. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in Nordamerika so viele Waschbären für die Pelzherstellung erlegt, dass ihre Anzahl gebietsweise deutlich zurückging. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurde er daher erstmals in größerem Umfang gezüchtet, was aber sowohl in Nordamerika als auch in Europa bald wieder aufgegeben wurde. Immerhin gab es 1934 in Deutschland 228 Betriebe die Waschbären züchteten mit insgesamt allerdings nur 1583 Tieren.[98] Nachdem zu Beginn der 1940er Jahre Langhaarpelze aus der Mode kamen und somit die Preise fielen, kommen bis heute praktisch ausschließlich Felle von Wildtieren in den Handel.[99] Im Pelzhandel wird auf den Rauchwarenauktionen das Marderhundfell, wohl wegen seines in Teilen waschbärähnlichen Aussehens, mit dem irreführenden Namen Finnraccoon oder Chinesisch Raccoon (raccoon = engl. Waschbär) angeboten; hier kommt es gelegentlich zu Verwechslungen. Waschbärfelle werden zu Mänteln, Jacken oder Mützen, beispielsweise auch zu den typischen Trappermützen, verarbeitet.[100][101]

Der Waschbär in Mythologie und Kultur

In der indianischen Mythologie war der Waschbär das Thema zahlreicher Sagen.[102] Geschichten wie How raccoons catch so many crayfish (Wie Waschbären so viele Krebse fangen) vom Stamm der Tuscarora drehten sich um sein außergewöhnliches Geschick bei der Nahrungssuche.[103] In anderen Erzählungen spielte der Waschbär, ähnlich wie der Rotfuchs in mitteleuropäischen Sagen, die Rolle des Tricksters, der andere Tiere wie Kojoten und Wölfe überlistet.[104] Unter anderem glaubten die Dakota Sioux daran, dass der Waschbär aufgrund seiner Gesichtsmaske, die der von ihnen bei Ritualen getragenen Gesichtsbemalung ähnelte, über magische Kräfte verfügte.[105] Die Azteken sprachen übernatürliche Fähigkeiten vor allem den Weibchen zu.[106] Der englische Name des Waschbären, Raccoon, leitet sich vom Wort Aroughcun oder Ahrah-koon-em ab, den die Algonkin-Indianer dem Tier gaben, was soviel wie der mit den Händen kratzt bedeutet.

Von westlichen Autoren gibt es einige für Kinder geschriebene autobiographische Romane über das Zusammenleben mit einem Waschbären. Das bekannteste Werk ist Sterling Norths Rascal der Waschbär, in dem er erzählt, wie er als Kind zur Zeit des Ersten Weltkrieges einen Waschbären aufzog. In den letzten Jahren spielten anthropomorphe Waschbären Hauptrollen in der Zeichentrickserie Die Raccoons, dem Animationsfilm Ab durch die Hecke und der Videospielserie Sly Raccoon.

Literatur

  • Ingo Bartussek: Die Waschbären kommen. Cognitio, Niedenstein 2004, ISBN 978-3932583100. 
  • Ulf Hohmann, Ingo Bartussek, Bernhard Böer: Der Waschbär. Oertel+Spörer, Reutlingen 2001, ISBN 978-3886273010. 
  • Anke Lagoni-Hansen: Der Waschbär. Verlag Dieter Hoffmann, Mainz 1981, ISBN 978-3873410374. 
  • Samuel I. Zeveloff: Raccoons: A Natural History. Smithsonian Books, Washington D. C. 2002, ISBN 978-1588340337. 
  • Virginia C. Holmgren: Raccoons in Folklore, History and Today's Backyards. Capra Press, Santa Barbara (Kalifornien) 1990, ISBN 978-0884963127. 
  • Dorcas MacClintock: A Natural History of Raccoons. The Blackburn Press, Caldwell (New Jersey) 1981, ISBN 978-1930665675. 

Weblinks

  • Procyon lotor in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2006. Eingestellt von: Mustelid Specialist Group, 1996. Abgerufen am 12. Mai 2006
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Einzelnachweise

  1. Holmgren, S. 23, 52, 75–76
  2. Zeveloff, S. 2
  3. Hohmann, S. 44
  4. Holmgren, S. 47–69
  5. Zeveloff, S. 4–6
  6. Klaus-Peter Koepfli, Gompper, Matthew E.; Eizirik, Eduardo; Ho, Cheuk-Chung; Linden, Leif; Maldonado, Jesus E.; Wayne, Robert K.: Phylogeny of the Procyonidae (Mammalia: Carnivora): Molecules, morphology and the Great American Interchange. (PDF) In: Molecular Phylogenetics and Evolution. 43, Nr. 3ElsevierAmsterdam, June 2007, S. 1076–1095. doi:10.1016/j.ympev.2006.10.003
  7. Hohmann, S. 46
  8. Zeveloff, S. 16–20, 23–24, 26
  9. Zeveloff, pp. 42–46
  10. Kristofer M. Helgen, Wilson, Don E.: Taxonomic status and conservation relevance of the raccoons (Procyon spp.) of the West Indies. In: Journal of Zoology. 259, Nr. 1The Zoological Society of LondonOxford, January 2003, S. 69–76. doi:10.1017/S0952836902002972
  11. Kristofer M. Helgen, Wilson, Don E.: A Systematic and Zoogeographic Overview of the Raccoons of Mexico and Central America. In: Sánchez-Cordero, Víctor; Medellín, Rodrigo A. Contribuciones mastozoológicas en homenaje a Bernardo Villa, S. 230, Mexico City: Instituto de Ecología of the Universidad Nacional Autónoma de México 2005, ISBN 978-9703226030(Zugriff am 7. Dezember 2008)
  12. W. C. Wozencraft: Wilson, D. E.; Reeder, D. M.; Mammal Species of the World, 3rd, S. 627–628, Johns Hopkins University Press November 2005, ISBN 0-801-88221-4
  13. MacClintock, p. 9
  14. Zeveloff, pp. 59, 79–89
  15. Hohmann, S. 77
  16. Lagoni-Hansen, S. 15–16, 18
  17. MacClintock, S. 8, 44
  18. Zeveloff, S. 58–59
  19. a b c d Michler, Frank-Uwe; Köhnemann, Berit A. (May 2008). Ökologische und ökonomische Bedeutung des Waschbären in Mitteleuropa – Eine Stellungnahme (German). „Projekt Waschbär“. Abgerufen am 7. Dezember 2008.
  20. Bartussek, S. 6
  21. Zeveloff, S. 60–61, 63
  22. Hohmann, S. 65–66
  23. MacClintock, S. 5–6
  24. Andrew D. Saunders: Raccoon. In: Adirondack Mammals, S. 256, Syracuse, New York: Syracuse University Press March 1989, ISBN 978-0815681151
  25. Hohmann, S. 27, 57, 66, 93
  26. Zeveloff, S. 64, 71–73
  27. MacClintock, S. 28–30, 33, 84, 92
  28. Hohmann, S. 55
  29. Bartussek, S. 13
  30. Hohmann, S. 55–60, 62
  31. MacClintock, S. 15
  32. Zeveloff, S. 69–70
  33. Hohmann, S. 63–70, 72
  34. MacClintock, S. 17–21
  35. Zeveloff, S. 66–69
  36. H. B. Davis: The Raccoon: A Study in Animal Intelligence. In: The American Journal of Psychology. 18, Nr. 4University of Illinois PressChampaign, Illinois, October 1907, S. 447–489. doi:10.2307/1412576
  37. Stanislas Dehaene: Der Zahlensinn. Birkhäuser Verlag, Basel 1999 (Originaltitel: The number sense, übersetzt von Anita Ehlers), ISBN 978-3764359607, S. 33. 
  38. Hohmann, S. 71–72
  39. Stanley D. Gehrt: Raccoon social organization in South Texas. 1994 (Dissertation an der Universität von Missouri). 
  40. Hohmann, S. 133
  41. Bartussek, S. 10–12
  42. Hohmann, S. 124–126, 133–155
  43. Zeveloff, S. 137–139
  44. Hohmann, S. 142–147
  45. Hohmann, S. 82
  46. Zeveloff, S. 102
  47. Hohmann, S. 85–86
  48. Hohmann, S. 88
  49. a b Hohmann, S. 83
  50. MacClintock, S. 44
  51. Hohmann, p. 55; Zeveloff, p. 7
  52. Lagoni-Hansen, S. 41; MacClintock, S. 57
  53. MacClintock, S. 56–57
  54. Holmgren, S. 70
  55. Holmgren, S. 70; Lagoni-Hansen, S. 41; MacClintock, S. 57; Zeveloff, S. 7
  56. MacClintock, S. 57
  57. Hohmann, S. 44–45; Lagoni-Hansen, S. 41–42; Zeveloff, S. 7
  58. MacClintock, S. 57
  59. MacClintock, S. 57
  60. Holmgren, S. 22 (Pro); Lagoni-Hansen, S. 41 (Contra)
  61. Zeveloff, S. 119
  62. Hohmann, S. 163; Zeveloff, S. 119
  63. Hohmann, S. 163
  64. MacClintock, S. 73
  65. Frank-Uwe Michler, Berit A. Köhnemann: Erste Ergebnisse. In: „Projekt Waschbär“. Gesellschaft für Wildökologie und Naturschutz e.V., 2008 Juni. Abgerufen am 23. Juli 2008.
  66. Hohmann, S. 162
  67. Zeveloff, S. 111–112
  68. Zeveloff, S. 118–119
  69. O. Geiter, S. Homma, R. Kinzelbach: Bestandsaufnahme und Bewertung von Neozoen in Deutschland - Untersuchung der Wirkung von Biologie und Genetik ausgewählter Neozoen auf Ökosysteme und Vergleich mit den potenziellen Effekten gentechnisch veränderter Organismen. Umweltbundesamt, 01. Februar 2002, S. 83. Abgerufen am 05. Februar 2009.
  70. Hohmann, S. 41
  71. Frank-Uwe Michler, Berit A. Köhnemann: Projektleitung / Ansprechpartner. In: „Projekt Waschbär“. Gesellschaft für Wildökologie und Naturschutz e.V., 2008. Abgerufen am 9. Juli 2008.
  72. Hohmann, S. 18
  73. Hohmann, p. 13–14
  74. Hohmann, S. 160
  75. Hohmann, S. 20
  76. Hendrik Fulda: Qualvoller Tod durch Tellereisen. 30. Juni 2008. Abgerufen am 9. Juli 2008.
  77. a b c Frank-Uwe Michler: Untersuchungen zur Raumnutzung des Waschbären (Procyon lotor, L. 1758) im urbanen Lebensraum am Beispiel der Stadt Kassel (Nordhessen). 25. Juni 2003, S. 7 (http://www.projekt-waschbaer.de/fileadmin/user_upload/Diplomarbeit-Waschbaer-Michler.pdf ; Stand: 2. Juli 2008). 
  78. Hohmann, p. 108
  79. Waschbären: Kleine Räuber auf Beutezug durch Berlin. In: Berliner Morgenpost Online. Ullstein GmbH, 11. Mai 2004. Abgerufen am 23. Juli 2008.
  80. Frank-Uwe Michler, Berit A. Köhnemann: Stand der Wissenschaft. In: „Projekt Waschbär“. Gesellschaft für Wildökologie und Naturschutz e.V.. Abgerufen am 23. Juli 2008.
  81. Bartussek, p. 20
  82. Bartussek, p. 21
  83. Bartussek, p. 20
  84. Hohmann, S. 103–106
  85. Bartussek, S. 34
  86. Holmgren, S. 117–121
  87. Stephen Harris, Phil Baker: Urban Foxes. Whittet Books, Suffolk 2001, ISBN 978-1873580516, S. 78–79. 
  88. Bartussek, S. 24
  89. Frank-Uwe Michler: Untersuchungen zur Raumnutzung des Waschbären (Procyon lotor, L. 1758) im urbanen Lebensraum am Beispiel der Stadt Kassel (Nordhessen). 25. Juni 2003, S. 108 (http://www.projekt-waschbaer.de/fileadmin/user_upload/Diplomarbeit-Waschbaer-Michler.pdf ; Stand: 2. Juli 2008). 
  90. Bartussek, S. 32; Hohmann, S. 142–144, 169
  91. Bartussek, S. 36–40; Hohmann, S. 169
  92. a b Bartussek, S. 44
  93. Pet Raccoons?. In: Raccoon Tracks. Fohn.net, 2005. Abgerufen am 10. Juli 2008. (Englisch)
  94. State Regulations Concerning the Possession of Raccoons as Pets. In: Remo Raccoon's Home Page. 10. Januar 2000. Abgerufen am 10. Juli 2008. (Englisch)
  95. Oliver Knörzer: Haltung von Waschbären. In: Lotor.de: Alles über Waschbären. 16. Januar 2008. Abgerufen am 10. Juli 2008.
  96. Hohmann, S. 185–186
  97. Kathrin Grüning: Grundsätzliches zur Haltung. In: Waschbären-Hilfe. Abgerufen am 11. April 2008.
  98. Die Kürschnerfibel, Nr. 1, 7. Jahrgang, Verlag Alexander Duncker, Leipzig, 21. Januar 1939, S. 22 (ohne Angabe des Autors)
  99. Fritz Schmidt: Das Buch von den Pelztieren und Pelzen, 1970, F. C. Mayer Verlag, München. S. 311–315
  100. Christian Franke/Johanna Kroll: Jury Fränkel’s Rauchwaren-Handbuch 1988/89, 10. überarbeitete und ergänzte Neuauflage, Rifra-Verlag Murrhardt. S. 81
  101. Winckelmann Pelz & Markt, Frankfurt/Main, 29. Juni 2007
  102. Holmgren, S. 25–46
  103. Holmgren, S. 41–43
  104. Holmgren, S. 26–29, 38–40
  105. Holmgren, S. 15–17
  106. Holmgren, S. 17–18


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