Psychohistorie

Psychohistorie

Die Psychohistorie untersucht historische Vorgänge der ferneren und unmittelbaren Vergangenheit mit Mitteln der Psychologie und Psychoanalyse. Ihre Position in der Systematik der Gesellschaftswissenschaften ist recht umstritten.

Gibt die herkömmliche Geschichtswissenschaft Antworten auf die Frage, "wie?" bestimmte Vorgänge abliefen, so befasst sich die psychohistorische Wissenschaft mit dem "warum?" und dem "warum so?".

Während sich die Psychologie und Soziologie mit dem kurzfristigen Verhalten einzelner Menschen und Gesellschaften auseinandersetzt, betrachtet die Psychohistorie generationsübergreifende Zeitspannen. Sie ist nicht mit der in einigen Romanen von Isaac Asimov beschriebenen fiktiven Psychohistorik identisch.

Inhaltsverzeichnis

Bereiche der Psychohistorie

Es gibt drei miteinander verbundene Bereiche psychohistorischer Studien:

  1. Die Geschichte der Kindheit, die sich mit Fragen befasst wie beispielsweise:
    • Wie sind Kinder in der Menschheitsgeschichte aufgezogen worden?
    • Wie haben sich Familien gebildet?
    • Wie und warum hat sich die Erziehungspraktik verändert?
    • Wie hat sich die Stellung und der Wert von Kindern in der Gesellschaft in der Geschichte verändert?
    • Wie und warum haben sich die Ansichten der Gesellschaft über Kindesmisshandlung und -vernachlässigung geändert?
    • Warum verleugnet unsere moderne Gesellschaft immer noch die Realität der Kindesmisshandlung?
  2. Die Psychobiographie versucht, die Motivationen von bestimmten Individuen in der Geschichte zu finden.
  3. Die Massenpsychohistorie beschäftigt sich mit den Motivationen von Gruppen und Gesellschaften in der Geschichte und Gegenwart. Die Untersuchung befasst sich maßgeblich mit der Wirkung von politischen Reden und deren Karikatur auf das unterbewusste Denken der Bevölkerung.

Ursprünge der Psychohistorie

Man könnte Sigmund Freud wohl als Vater der Psychohistorie bezeichnen, insbesondere seine Betrachtungen der Gesellschaft betreffend. Freud selbst arbeitete mit Woodrow Bullitt an einer Studie zu dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.

Die erste akademische Ausarbeitung der Psychohistorie nach Freud findet sich bei Erik Erikson's Buch "Young Man Luther", in welchem der Verfasser nach einer Wissenschaft sucht, mit der man die Folgen des Lebens Einzelner auf die Geschichte untersuchen kann. Dem waren zahlreiche biographisch orientierte Studien von Freud selbst und anderen Psychoanalytikern (z.B. Marie Bonaparte) vorausgegangen. Während der 1960er, bildete Erikson zusammen mit Robert Lifton und Bruce Mazlish die Wellfleet Group, ein von der American Academy of Arts and Sciences gesponsertes Projekt, um Psychohistorie als Forschungsfeld zu definieren. Lifton hat später bedeutende Arbeiten zu den Ursachen und Auswirkungen von Kriegsverbrechen vorgelegt.

Lloyd deMause ist ein Pionier der Psychohistorie und hat auf diesem Gebiet immer noch großen Einfluss. Andere erwähnenswerte Psychohistoriker sind Alice Miller und Julian Jaynes, obwohl sie selten als solche bezeichnet werden.

In der deutschen Gesellschaft für Psychohistorie hat Uta Ottmüller wiederholt auf den wichtigen Aspekt des Geschlechterverhältnisses für die Gestaltung der Kindheit hingewiesen. In ihrem Ansatz für eine psychohistorische Friedensforschung spielt auch die transgenerationale Traumatisierung eine wesentliche Rolle.

Die Bücher von Klaus Theweleit werden zwar üblicherweise nicht zur Psychohistorie gezählt, setzen sich aber auch mit dem Verhältnis von Psychoanalyse und Geschichte auseinander.

Literatur

  • Sigmund Freud: Einleitung zu: Freud, S., und Bullitt, W. C., Thomas Woodrow Wilson, Twenty-eighth President of the United States; A Psychological Study, Boston, Houghton Mifflin, 1967 in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Nachtragsband, S. 686-692
  • Lloyd deMause, Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung, Psychosozial-Verlag, 2000, ISBN 3932133641
  • Friedhelm Nyssen, Peter Jüngst, Kritik der Psychohistorie, Psychosozial-Verlag, 2003, ISBN 3898062228
  • Reihe Jahrbuch für psychohistorische Forschung
Psychohistorie, Gruppenphantasien und Krieg (Band 0), Mattes 2000, ISBN 393097844X
Gruppenfantasien und Gewalt (Band 1), Mattes 2001, ISBN 9783930978502
Psychohistorie und Persönlichkeitsstruktur (Band 2), Mattes 2002, ISBN 9783930978557
Trauma, gesellschaftliche Unbewußtheit und Friedenskompetenz (Band 3), Mattes 2003, ISBN 9783930978588
Psychohistorie und Politik (Band 4), Mattes 2004, ISBN 9783930978663
Symbolik, gesellschaftliche Irrationalität und Psychohistorie (Band 5), Mattes 2005, ISBN 9783930978731
Fundamentalismus und gesellschaftliche Destruktivität (Band 6), Mattes 2006, ISBN 9783930978892
Emotionale Strukturen, Nationen und Kriege (Band 7), Mattes 2007, ISBN 9783930978915
Kindheit, gesellschaftliche Entwicklung und kollektive Fantasien (Band 8), Mattes 2008, ISBN 9783868090024
Psychohistorie und Globalisierung (Band 9), Mattes 2009, ISBN 9783868090215
Psychologie der Finanzkrise (Band 10), Mattes 2009, ISBN 9783868090307

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