Raskolniken

Raskolniken
Das russisch-orthodoxe Kreuz; die Altgläubigen erkennen nur dieses Kreuz an
Dieser Ausschnitt aus dem Gemälde Bojarynja Morosowa von Wassili Surikow zeigt, wie die Bojarin Morosowa nach ihrer Verhaftung 1671 abgeführt wird. Sie zeigt ihren ungebrochenen Geist, indem sie das Kreuzzeichen mit zwei gestreckten Fingern nach Art der Altgläubigen demonstriert. Im Pafnuti-Kloster in Borowsk wurden sie und ihre Schwester 1675 zu Tode gehungert.
Russische Altorthodoxe vor ihrer Holzkirche in Woodburn/Oregon
Lipowaner während einer religiösen Zeremonie

Altgläubige (auch: Altritualisten und Altorthodoxe) ist eine Sammelbezeichnung für religiöse Strömungen und Gruppen innerhalb der russisch-orthodoxen Tradition, die sich ab etwa 1666 und 1667 von der russischen orthodoxen Großkirche lösten und schließlich völlig von ihr getrennt wurden. Die Altgläubigen wandten sich gegen die Reformen des Patriarchen Nikon, der ab 1652 Texte und Riten der russisch-orthodoxen Gottesdienste reformierte, um sie griechisch-byzantinischen, südslawischen und den im Bereich der heutigen Ukraine gebräuchlichen Texten und Riten anzugleichen. Der Protest dagegen verband sich mit einer in gewissen Kreisen bestehenden endzeitlichen Vorstellung vom bevorstehenden Ende der Welt und der Herrschaft des Antichristen. So wurde die orthodoxe Amtskirche und der mit dieser verbundene Staat in der Folgezeit von den meist radikalen Elementen der Altgläubigen mit der Herrschaft des Antichristen gleichgesetzt.[1]

Im zaristischen Russland verfolgt, siedelten die Altgläubigen sich vor allem in den jeweiligen Randbereichen des russischen Imperiums oder im Ausland an und bildeten eine Vielzahl von einzelnen Untergruppen; die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale sind altorthodoxe Gemeinden mit Priestern (Popowzen) und ohne Priester (Bespopowzen). Die Altgläubigen sind heute durch zwei Kirchen mit bischöflich-priesterlicher Struktur sowie einer Kirche der Priesterlosen in Russland vertreten, dazu kommen zahlreiche Gemeinden im Ausland. Im russischen enzyklopädischen Sprachgebrauch werden die Altgläubigen als Altritualisten (russisch: старообря́дцы) bezeichnet, eine andere Bezeichnung ist Altorthodoxe (russisch: древлеправосла́вные). Lange Zeit wurden die Altgläubigen im eigenen Land von der Großkirche (später: Amtskirche) und Regierung abwertend Raskolniki (russisch: раско́льники, dtsch.: Abspalter) genannt. Sie betrachten sich selbst nicht als „Abspalter“, sondern als Bewahrer ursprünglicher russisch-orthodoxer Tradition gegenüber häretischen Entwicklungen in der Großkirche.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte und Schisma

Karikatur auf die Reformpolitik des Zaren Peter I., wie ein Friseur einem rechtgläubigen Russen den Bart abschneidet

1652 initiierte der damalige Patriarch Nikon die erste Reform des russischen Ritus. Es wurde behauptet, der russische Ritus wäre wegen Fehler beim Kopieren der Kirchenbücher vom griechischen Urtext und Ritus abgewichen. Dieser Standpunkt diente für Nikon und seine Anhänger als Rechtfertigung, Kirchenreformen durchzuführen. Diejenigen, die die Rechtmäßigkeit dieser Revisionen bestritten und versuchten zu beweisen, dass der russische Ritus sich seit dem 10. Jahrhundert nicht geändert habe und damit durch und durch orthodox sei, wurden auf dem Konzil 1666-1667 mit dem Anathema belegt. Diese Ereignisse haben zu einem Schisma geführt. Seitdem existieren die Altgläubigen getrennt von der Großkirche. Gegner dieser Kirchreformen wurden verfolgt und Zehntausende wurden hingerichtet. Um der Verfolgung durch die Behörden zu entgehen, zogen sich die Altgläubigen oft in abgelegene Gegenden des Russischen Reiches oder ins Ausland zurück und bildeten dort eigene Gemeinwesen. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts nahmen die Verfolgungen ab, es blieben jedoch viele diskriminierende Gesetze. So hatten die Altgläubigen nach wie vor keine Bürgerrechte. 1905 wurde die Lage der Altgläubigen legal.

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Wissenschaftler festgestellt, dass der altrussische Ritus tatsächlich nicht von dem altbyzantinischen Ritus abwich, sondern dass der griechische Ritus, unter Einfluss verschiedener Faktoren, sich im 13. und 14. Jahrhundert allmählich geändert hatte. Dieser Prozess erklärte den Unterschied zwischen dem russischen und griechischen Ritus Mitte des 17. Jahrhunderts (Prof. A. Dmitrijewski, Prof. E. Golubinski an der Moskauer Geistlicher Akademie, Prof. N. Kapterew, alle Mitglieder der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften). 1971 hat die Großkirche vom Patriarchat Moskau den Bann über den altrussischen Ritus aufgehoben.

Der bekannteste Vertreter und einer der Begründer des Altgläubigentums ist der Protopope Awwakum, dessen Autobiographie ein bedeutendes Zeugnis der russischen Literatur des 17. Jahrhunderts darstellt.

Bedeutendste Liturgieänderungen

Folgende Änderungen der Liturgie unter Nikon werden von den Altgläubigen als die schwerwiegendsten benannt:

Altrussische Liturgie Liturgie Nikons
Nizänisches Glaubensbekenntnis рождена, а не сотворена (gezeugt aber nicht geschaffen); И в Духа Святаго, Господа истиннаго и Животворящаго (Und an den Heiligen Geist, den wahren Herrn, der lebendig macht) рождена, не сотворена (gezeugt nicht geschaffen); И в Духа Святаго, Господа Животворящаго (Und an den Heiligen Geist, den Herrn, der lebendig macht)
Kreuzzeichen Zwei Finger gerade, drei gekrümmt Drei Finger gerade, zwei gekrümmt
Anzahl der Prosphora genannten Brote in der Eucharistie Sieben Prosphoren Fünf Prosphoren
Richtung der Prozession Mit dem Sonnenlauf (im Uhrzeigersinn) Gegen den Sonnenlauf (gegen den Uhrzeigersinn).
Halleluja Аллилуїa, аллилуїa, слава Тебe, Боже (Zweimal Halleluja) Аллилуїa, аллилуїa, аллилуїa, слава Тебe, Боже (Dreimal Halleluja)
Schreibweise des Names Christi Ісусъ (Isus) Іисусъ (Iisus)

Dazu kommen unterschiedliche Schreibweisen in Literatur (z.B. die Formulierung der Doxologie) und Kirchengesang.

Abspaltungen innerhalb der Altgläubigen

Innerhalb der Altgläubigen gab es zuerst die prinzipielle Spaltung zwischen den Priesterlichen (russisch: поповцы, trans.: popowzy) und Priesterlosen (russisch: беспоповцы, trans.: bespopowzy). Die Priestlichen Altgläubigen stellten die konservative und gemäßigte Opposition dar, sie strebten nach einer Fortsetzung des kirchlichen Lebens, wie es bis zu den Reformen existiert hatte. Sie akzeptierten Priester aus der Amtskirche, die sich ihnen anschließen wollten, und waren so in der Lage Priester für sich zu erwerben und damit die Sakramente zu behalten. Die Theologie der Priesterlosen ist gekennzeichnet von einer antiklerikalischen und apokalyptischen Stimmung; die Priesterlosen behaupten, der Antichrist sei schon in die Welt gekommen, zwar nicht leiblich, sondern „im Geiste“. Die wahrhafte Kirche existiere nicht mehr auf Erden und deshalb glauben sie, dass ein gültiges Priestertum nicht mehr existiert und feiern daher keine Eucharistie mehr. Sie lehnen die orthodoxe Amtskirche und der mit dieser verbundene Staat ab, weil auch die als Instrumente des Antichristen betrachtet werden. (Zenkovsky S.A., München 1970, Moskau 2006)

Innerhalb beider Richtungen gab es eine Reihe weiterer Abspaltungen:

Priesterliche

  • Russisch-Orthodoxe Altritualistische Kirche (Hierarchie von Belaja Kriniza); diese Kirche hat 1846 die kirchliche Hierarchie völlig wiederhergestellt, als sich der griechische Bischof Amvrosij ihnen anschloss. Seit 1940 (nach der Teilung der Bukowina) liegt der Sitz in Brăila, wo heute noch eine bedeutende lipowanische Minderheit lebt.
  • Russisch Altorthodoxe Kirche (Hierarchie von Nowosybkow); diese Kirche hat ihre Hierarchie in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ebenfalls wiederhergestellt.

Priesterlose

  • Pomorzy oder Danilowzy: Sie lehnten ursprünglich die Heirat und das Gebet für den Zaren ab.
  • Nowopomorzy: Sie akzeptierten die Heirat.
  • Staropomorzy: Sie lehnen die Heirat ab.
  • Fedosejewzy – “Gesellschaft der christlichen Altgläubigen der alten unverheirateten Konfession von Pomorje" (von 1690 bis heute): Lehnen die Heirat ab und führen ein asketisches klosterähnliches Leben.
  • Fillipowzy
  • Beguny
  • Njetowzy oder Spasowo soglasie: Der Name leitet sich von dem russischen Wort njet (nein) ab. Sie verneinen die Möglichkeit von Sakramenten, das Priestertum und Gemeindefeiern in einem Kirchengebäude.
Ikone aus dem 6. Jahrhundert aus dem Katharinenkloster auf dem Berg Sinai. Christus ist hier segnend abgebildet: Er hält dabei zwei Finger gerade, drei gekrümmt. Die Altgläubigen betrachten dieses Zeichen als das einzige richtige Kreuzzeichen.

Die Altgläubigen heute

Eparchien der priesterlichen Altgläubigen

Die priesterlichen Altgläubigen umfassen zwei getrennte Hierarchien: die Altgläubigen der Hierarchie von Belaja Kriniza und die Hierarchie von Nowosybkow. Folgende Eparchien gibt es in diesen beiden Kirchen:

Die priesterlosen Altgläubigen

Die priesterlosen Altgläubigen sind heute im wesentlichen in der Altorthodoxen Kirche vom Pomorje (russisch: Древлеправославная Поморская Церковь) organisiert. Im Jahr 2004 hatte die Kirche 42 Gemeinden. [4]


Philipponen

Die nach Polen vertriebenen Altorthodoxen werden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Philipper-Philippowzy Philipponen genannt. Sie siedelten vorwiegend im Masuren, wo sie ganze Dörfer bzw. geschlossene Siedlungen gründeten. Im 19. Jahrhundert näherten sich ihre religiösen Ansichten den Richtungen der Pomorzy. [5]

Die Altgläubigen in der Literatur

Ein Lestowka, benutzt von den Altgläubigen und vergleichbar mit dem Rosenkranz

Von Interesse zur Kenntnis der Altgläubigen sind die Erzählungen von Nikolai Leskow. Reiches Material zu den Altgläubigen findet sich in den Romanen In den Wäldern (russisch: В лесах; 1871-1875) und In den Bergen (russisch: На горах; 1875-1881) von Pawel Iwanowitsch Melnikow (1818-1883). Melnikow, der als Beamter einen Teil seines Lebens die Altgläubigen verfolgte, sah in diesen Romanen in ihrer Glaubensgemeinschaft die Verkörperung der Religiosität des russischen Volkes und die Rettung vor nihilistischer Glaubenslosigkeit. [6] Das Buch Die Vergessenen der Taiga von Wassili Peskow beschreibt die Geschichte der altgläubigen Familie Lykow im einsamen Sajangebirge, wo die Familie in der Sowjetepoche von Stalin bis Breschnjew von 1945 bis 1978 völlig isoliert von der Außenwelt lebte. Noch heute (2006) lebt Agafja Lykowa einsam in ihrer Holzhütte am Abakan.

Die Altgläubigen im Musiktheater

Die Thematik rund um die Altgläubigen ist auch ein wichtiges Element in der Oper Chowanschtschina von Modest Mussorgski.

Quellen

  1. Русское старообрядчество Тома I и II. С.А. Зеньковский, Институт ДИ-ДИК, Москва 2006 (Die russische Altgläubigen, Teil I und II, S.A. Senkowsky, Institut DI-DIK, Moskau, 2006) ISBN 5-93311-012-4
  2. Darstellung der Kirche Auf: Webseite der Altgläubigen von Samara
  3. Statistische Angeben zur Kirche Auf: Webseite der Altgläubigen von Samara
  4. Statistische Angaben zur Kirche Auf: Webseite der Altgläubigen im Oblast Samara (russisch)
  5. Aus der Geschichte der Altgläubigen Auf: Webseite der Philipponen
  6. Stichwort Melnikow In: Russische Online-Enzyklopädie Krugosjwet

Literatur

Sachbücher

  • Peter Hauptmann: Rußlands Altgläubige, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, ISBN 978-3-52556130-0
  • Peter Hauptmann: Altrussischer Glaube. Der Kampf des Protopopen Avvakum gegen die Kirchenreformen des 17. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963
  • Мельников Ф.И.: Краткая история древлеправославной (старообрядческой) церкви Барнаул, 1999 (Melnikow F.I.: Kurze Geschichte der altorthodoxen (altritualistischen) Kirche Barnaul 1999, russisch)
  • Alexandr Varona: Tragedia schismei ruse. Reforma patriarhului Nikon şi începuturile staroverilor [Die Tragödie des russischen Schisma. Die Reform des Patriarchen Nikon und die Anfänge der Altgläubigen], Bucureşti: Editura Kriterion, 2002, ISBN 973-26-0702-5
  • Senkowsky S.A. Russia's Old Believers (russisch: „Русское старообрядчество“), München 1970; russische Ausgaben: Moskau 1995, 2006 (1. und 2. Teil) ISBN 5-93311-012-4
  • Schüler Duden: Die Religionen, Ein Lexikon aller Religionen der Welt, Mannheim 1977, ISBN 3-411-01369-9

Belletristik

  • Peskow, Wassili: Die Vergessenen der Taiga (Goldmann-Taschenbücher 1996) ISBN 3-442-12637-1
  • Melnikow, Pawel Iwanowitsch: In den Wäldern Berlin Union Verlag 1970

Weblinks

Siehe auch


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