Reichspublizistik

Reichspublizistik
Titelblatt Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs von Pütter (1788), eines der späten Werke der Reichspublizistik.

Unter dem Begriff Reichspublizistik (zeitgenössisch auch Reichspublicistik) werden, im engeren Sinne, die staatsrechtlichen und staatswissenschaftlichen Veröffentlichungen aus der Zeit vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zusammengefasst, die die Verfassung und das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation zum Gegenstand haben. In einem weiteren Sinne bezeichnet der Begriff die gesamte frühneuzeitliche Reichsstaats(rechts)wissenschaft, der speziell deutschen Vorläuferin der heutigen Politikwissenschaft.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung und Gegenstand

Zur Entstehung

Infolge der Reformation und ihren politischen Auswirkungen, sowie während des Dreißigjährigen Krieges (welcher letztlich eine deutliche Stärkung der Territorialgewalten (Reichsstände) im Reich mit sich brachte), wurde die bald latente bald offensichtliche Spannung zwischen dem Kaiser und den Ständen innerhalb des politischen Systems des Alten Reichs endgültig ein Dauerthema der politischen Auseinandersetzungen im Deutschland der Frühen Neuzeit. Dieses politische Spannungsfeld zwischen den Machtpolen der Reichsverfassung bedingte eine ständige Nachfrage nach theoretischer Aufarbeitung der politischen Standpunkte seitens der Konfliktparteien und bot zugleich fruchtbaren Boden für gelehrte Reflexion über die Grundlagen des Reichs, der Staatsgewalt und der Politik an sich.

In dieser Situation entwickelte sich, beginnend mit den Schriften Henning Arnisaeus’, eine spezifisch deutsche Staatsrechtswissenschaft, welche sich teilweise von den Quellen des Römischen Rechts entfernte und vornehmlich reichsdeutsche Rechtsquellen (wie etwa die Goldene Bulle Karls IV.) und solche aus der Tradition des deutschen König- und Kaisertums zur Grundlage nahm. Auch mit den politischen Diskursen der Zeit, wie etwa der Souveränitätslehre nach Jean Bodin stand die Reichspublizistik in regem Austausch.

Im Zentrum der theoretischen Debatte stand unter Anderem die Frage, wie das Reich mit den Begrifflichkeiten der althergebrachten Staatsformenlehre zu charakterisieren sei. Die machtpolitische Spannung zwischen den Einzelgewalten der Stände und der „Zentralgewalt“ des Reiches, im Kaiser repräsentiert, ergab eine besondere Staatsstruktur, welcher mit der seit der Antike gebräuchlichen verfassungstheoretischen Terminologie nicht recht beizukommen war. „Für die einen (wie erstmals für Bodin) war das Reich eine Aristokratie, für andere (wie Reinking) eine Monarchie, für wieder andere (wie Conring) ein status mixtus, für Pufendorf schließlich nichts von alledem, sondern ein ‚irreguläres‘ Gebilde, einem ‚Monstrum ähnlich‘.“[1]

Cäsariner und Fürstenerianer

Wie sich hierin bereits andeutet, bildeten sich, insbesondere vor dem Hintergrund des konkreten politischen Ringens der Reichsstände (insbesondere der Kurfürsten) und des Kaisers um die Vorherrschaft in der Reichspolitik, zwei Gruppierungen unter den Staatsrechtlern der Zeit heraus: Auf der einen Seite diejenigen, welche im Reich eine Monarchie sahen und dementsprechend den königlich-kaiserlichen Standpunkt zu stärken suchten (die so genannten „Cäsariner“). Dietrich Reinkingk war der Hauptvertreter dieser Position.

Auf der anderen Seite betonten Staatsdenker wie etwa Johannes Limnäus und Bogislaw Philipp von Chemnitz den für sie offensichtlichen ständischen Charakter des Reichsverbands (sie nannte man „Fürstenerianer“). Dieser zweiten Auffassung entspricht die Einordnung des Alten Reichs als Aristokratie, was man durch eine pro-ständische Auslegung der deutschen Rechtsquellen, wie etwa der Goldenen Bulle oder den Wahlkapitulationen, zu untermauern versuchte.[2] Ihren Höhepunkt erreiche die Reichspublizistik mit Samuel von Pufendorfs De statu imperii Germanici im Jahre 1667, woraufhin sie im 18. Jahrhundert in einem zunehmenden Positivismus verflachte. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Reichsverfassungsschrift (1800/02) kann als ein letztes Aufleuchten der Reichspublizistik gewertet werden, die spätestens mit ihr jedoch einen Abschluss fand.

Hauptvertreter und ihre Werke

Lebenszeit Reichspublizistisches Hauptwerk[3] Erscheinungsjahr
Henning Arnisaeus 1575–1636 De jure majestatis libri tres 1610
De republica seu relectionis politicae 1615
Dominicus Arumaeus 1579–1673 Discursus academici de iure publico 1620–1623
Dietrich Reinkingk 1590–1664 Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico 1619
Biblische Policey 1653
Johannes Limnäus 1592–1663 Juris publici Imperii Romano-Germanici libri IX 1629–1634
Bogislaw Philipp von Chemnitz
(Hippolithus à Lapide)
1605–1678 Dissertatio de ratione status in Imperio nostro Romano-Germanico 1640 (?)
Hermann Conring 1606–1681 De origine iuris Germanici 1643
De Germanorum Imperio Romano 1643
Samuel von Pufendorf
(Severinus von Monzambano)
1632–1694 De statu imperii Germanici […] 1667
Gottfried Wilhelm Leibniz 1646–1716 In Severinum de Monzambano 1669–72
De iure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae 1677
Johann Jakob Moser 1701–1785 Teutsches Staatsrecht (in 50 Bänden) 1737–1754
Neues Teutsches Staatsrecht (in 20 Bänden) 1766–1775
Johann Stephan Pütter 1725–1807 Elementa iuris publici Germanici 1754
Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Deutschen Reichs 1786–87
Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1770–1831 Verfassungsschrift (Fragment) 1802/03

Anmerkungen

  1. Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3, Die Neuzeit, Teilbd. 1, S. 385f. Hervorhebung im Original
  2. vgl. Ottmann, S. 388
  3. Die folgenden Angaben sind entnommen aus: Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3, Die Neuzeit, Teilbd. 1, von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen. Stuttgart, 2006. S. 397; Horst Denzer: Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform: Politische Ideen in Deutschland 1600–1750, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der Politischen Ideen, Bd. 3, Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, S. 233–273, München, 1985.

Literatur

Quellen

Sekundärliteratur

  • Horst Denzer: Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform: Politische Ideen in Deutschland 1600–1750, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der Politischen Ideen, Bd. 3, Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, S. 233–273, München, 1985
  • Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat. Die 'Politica' des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636), Wiesbaden, 1970
  • Notker Hammerstein, Hasso Hofmann, Rudolf Hoke, Michael Stolleis u. a.: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht. Frankfurt am Main 1977. ISBN 3-7875-5264-2.
  • Rudolf Hoke: Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus: ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft im 17. Jahrhundert. Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechts-Geschichte (Habilitationsschrift an der Universität Saarbrücken). Neue Folge Band 9. Aalen 1968. ISBN 3-511-02829-9 (nachträglich vergebene ISBN, nicht allgemein verwendbar).
  • Gerd Kleinheyer/Jan Schröder: Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1983.
  • Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3, Die Neuzeit, Teilbd. 1, von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen. Stuttgart, 2006. S. 385–403.
  • Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München, 1988.
  • Michael Stolleis (Hrsg.): Staatsdenker in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main, 1995.

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