Autogerechte Stadt

Autogerechte Stadt
Autogerechte Stadt durch Entmischung der Verkehrsträger: Getrennte, konfliktarme Verkehrsflächen für Fußgänger, Autoverkehr und Straßenbahn, ferner großzügige Gestaltung des Verkehrsraumes insgesamt. (Leipzig, Friedrich-Engels-Platz, nach dem Umbau von 1971)

Das Schlagwort „autogerechte Stadt“ leitet sich ab vom Titel des 1959 erschienenen Buches Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos des Architekten Hans Bernhard Reichow, eines entschiedenen Verfechters dieser Idee. Nach heutigen Maßstäben wird das Konzept überwiegend kritisch gesehen, von manchen auch als warnendes Beispiel verfehlter Stadtplanung dargestellt.

Inhaltsverzeichnis

Leitlinien

In der autogerechten Stadt sollten sich alle Planungsmaßnahmen dem ungehinderten Verkehrsfluss des Autos unterordnen, das damit zum neuen Maß aller Dinge wurde. Vor allem sollte dies in Verbindung mit klaren Flächenzuweisungen und einer Nutzungsentmischung erfolgen. Die autogerechte Stadt mag somit auch ein Kind der Charta von Athen sein. Das Konzept wurde in hohem Maße bei dem Wiederaufbau im Krieg zerstörter westdeutscher Städte realisiert, beispielsweise in Hannover (durch den damaligen Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht) und Köln. Dabei wurden teilweise erhebliche Eingriffe in erhaltene Bausubstanz vorgenommen, wobei teilweise Stadtteile willkürlich zerschnitten wurden.

Sinn der Konzeption war es, die aus dem Mittelalter stammenden Städte mit überwiegend engen Straßen und Gassen, die Jahrhunderte vor der Entstehung des Automobils angelegt worden waren, an moderne Mobilitätsbedürfnisse anzupassen, insbesondere um die Erreichbarkeit der Städte für Autofahrer und die Anlieferung von Waren per Lkw sicherzustellen.

Weiterentwicklung

Anfang der sechziger Jahre beauftragte die britische Regierung eine Kommission unter Vorsitz von Colin Buchanan,[1] eine Bilanz der bisherigen Stadtverkehrsplanung aufzustellen und Vorschläge für neue Planungskonzepte zu entwickeln. Der in Deutschland stark rezipierte Buchanan-Report "Traffic in towns" von 1963 enthält wegweisende Konzepte. Buchanan unterschied als einer der ersten zwischen dem notwendigen Autoverkehr (Wirtschafts- und Geschäftsverkehr) und dem beliebigen Autoverkehr. Da ein Großteil der Verkehrsprobleme seiner Meinung nach aus der extremen Zunahme des beliebigen Verkehrs resultiert, solle dieser konsequent begrenzt werden. Weiterhin machte er den Vorschlag einer umfeldabhängigen Kapazitäts- und Geschwindigkeitsbegrenzung. Für schützenswerte Bereiche ("Environment-Zonen") schlug er drastische Restriktionen vor. Die Qualität des Straßenraumes für Fußgänger und Aufenthalt solle hier absoluten Vorrang haben. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Sachverständigenkommission des deutschen Bundestages 1965.[2]

Kritik

Anfang der 1970er Jahre wurde die autofreundliche Verkehrspolitik der Städte in Deutschland zunehmend skeptischer betrachtet. Kritiker machten die Dominanz des Automobils für soziale Fehlentwicklungen, etwa die Unfalltoten, verantwortlich.[3]

Heutzutage wird überwiegend vertreten, dass diese Planungskonzeption zu einseitig war, da sie den Menschen außer Acht ließ. Insbesondere werden die negativen Auswirkungen des Straßenverkehrs in Innenstädten, wie der Beitrag des Straßenverkehrs zu einer hohen Feinstaubbelastung, Lärm und Gefährdung von Fußgängern dem Konzept angelastet. Aus Sicht des Gender Mainstreaming wird kritisiert, dass das Leitbild der funktionsgetrennten und autogerechten Stadt bei der Mobilität fast ausschließlich den automobilen Verkehr und den Berufsverkehr wahrgenommen habe; dabei seien Anforderungen der Versorgungsarbeit und erst recht ihrer Verknüpfung mit der Erwerbsarbeit weitgehend ausgeblendet worden.[4]

Gegenkonzepte

Als Gegenkonzept wurde von anderen Stadt- und Verkehrsplanern mittlerweile die autofreie Stadt bzw. das autofreie Wohnen definiert. In Städten wie Köln werden mittlerweile Konzepte diskutiert, um einen Kompromiss zwischen einer Steigerung der Lebensqualität für die Bewohner und einer gleichzeitigen Beibehaltung einer guten Erreichbarkeit auch für den Straßenverkehr zu finden.

Eine der Folgen der Funktionsentmischung in der autogerechten Stadt ist eine strenge Regulierung des Verkehrs, in der – theoretisch – alles Verhalten mit Verkehrsschildern, Markierungen und getrennten Verkehrsflächen geregelt wird. Dies wird von Kritikern als Entmündigung der Bevölkerung gesehen, und für fehlende Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer verantwortlich gemacht. Als Gegenkonzept hat sich das Shared-Space-Konzept entwickelt, welches ein weniger reguliertes Nebeneinander von motorisiertem und nicht-motorisiertem Verkehr – und Stadtleben im Generellen – ermöglichen soll.

Literatur

  • Hans Bernhard Reichow: Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Otto Maier Verlag, Ravensburg 1959
  • Das Wunder von Hannover. In: Der Spiegel. Nr. 23, 1959, S. 61–63, 66, 68 (online).

Einzelnachweise

  1. Colin Buchanan in der englischsprachigen Wikipedia
  2. Barbara Schmucki: Der Traum vom Verkehrsfluss. Frankfurt a.M.: Campus, 2001, S. 136f. googlebook
  3. Vgl. z. B. Hans Dollinger: Die totale Autogesellschaft. München: Carl Hanser Verlag, 1972.
  4. Susanna von Oertzen: Alles Gender oder was? – Gender in der räumlichen Planung. 8. November 2006, abgerufen am 16. Mai 2009 (PDF). S. 5

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