Autogynophilie

Autogynophilie
love of oneself as a woman

Autogynophilie (auch Autogynäkophilie und fälschlich Autogynäphilie) (von gr.: auto „Selbst“, gyno „Frau“, philie „Liebe“: „die eigene Weiblichkeit lieben“) ist ein Erklärungsmodell für Transsexualität und Transvestitismus (vorgeschlagen 1989 von Ray Blanchard[1]), welches die „paraphile Neigung eines (körperlichen) Mannes definiert, sexuelle Erregung durch die Vorstellung von sich selbst als Frau zu erlangen“, und, im Gegensatz zur Theorie der Geschlechtsidentitätsstörung, diese abweichende sexuelle Präferenz (Paraphilie) als eine von zwei möglichen Ursachen für das Verlangen nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen postuliert.

Demnach wäre Autogynophilie ein Teil der Motivation einiger Transsexueller bzw. Transgender, ihren Körper zu verändern, und Ausdruck der vermuteten „Tatsache“, dass so Veranlagte emotional nicht ausschließlich männlich oder weiblich, sondern eine Mischung aus beidem sind: während der weibliche Persönlichkeitsanteil einer Mann-zu-Frau-Transsexuellen sich einen weiblichen Körper wünscht, um (vermutlich auch sexuell) als weibliches Subjekt agieren zu können, empfindet gleichzeitig der männliche Persönlichkeitsanteil die an sich selbst vorgestellten weiblichen Körpermerkmale als sexuell anregende Phantasie.

Inhaltsverzeichnis

Erklärungsmodell

Das Modell beschreibt Transfrauen (Mann-zu-Frau-Transsexuelle), die sich sexuell nicht ausschließlich von Männern angezogen fühlen, einschließlich lesbischer (gynophiler), bisexueller und asexueller Transfrauen. Es sagt aus, dass Transfrauen, deren sexuelles Begehren nicht auf Männer ausgerichtet ist, stattdessen sexuelle Erregung durch die Vorstellung von sich selbst als Frau erlangen.

Blanchard konzentriert seine Forschungen über Geschlechtsidentitätsstörungen auf so genannte „autogynophile Transsexuelle“. Dabei bezeichnet er Mann-zu-Frau-Transsexuelle als „Männer mit einer Geschlechtsidentitätsstörung“. Eine Transfrau mit geschlechtsangleichender Operation ist nach seiner Auffassung ein „Mann ohne Penis“ (Armstrong 2004).

In seiner Terminologie sind Transfrauen, die sexuell ausschließlich zu Männern hin orientiert sind, androphile bzw. homosexuelle Transsexuelle. Dies ist für die Vertreter dieser Theorie die einzig andere mögliche Ursache für den Wunsch nach einem Geschlechtswechsel.

Transmänner (Frau-zu-Mann-Transsexuelle) betrachtet Blanchard nur am Rande. Er ordnet alle Betroffenen einem homosexuellen Typus zu, nimmt also einheitlich eine auf Frauen bezogene sexuelle Orientierung an. Dies steht im Widerspruch zu Erfahrungsberichten, denen zufolge mindestens ein Drittel aller Transmänner sexuell ausschließlich auf Männer hin orientiert sei und viele sich als bisexuell einstuften.

Kontroverse

Das Modell ist sehr umstritten. Es widerspricht zudem dem allgemein akzeptierten Modell der Geschlechtsidentitätsstörung. Es beschreibt weder das Verhalten noch die Selbstwahrnehmung vieler Transfrauen angemessen. Daher wird es häufig in Frage gestellt.

Weil die von Blanchard untersuchten Korrelationen keine Kausalität belegen können, wird gelegentlich angeführt, dass Blanchard ein Symptom einer Geschlechtsidentitätsstörung als deren eigentliche Ursache angenommen habe. Zudem führt das Fehlen von Kontrollgruppen in Blanchards Arbeiten auf die Frage nach den Unterschieden zwischen bisexuellen, lesbischen und asexuellen Trans- und Cisgender-Frauen.

Ein weiter Kritikpunkt des Modells der Autogynophilie ist, dass sie eine Geschlechtsidentitätsstörung als ausschließlich sexuell bedingtes Phänomen beschreibt, nämlich, dass Transfrauen ihre Körper als sexuellen Fetisch feminisierten. Da im Zuge der Behandlung Transsexueller die männliche Libido durch die Hormonsubstitution, ggf. unterstützt durch Testosteronblocker bzw. eine Kastration unterdrückt wird, würde das sexuelle Ziel dieses Fetischismus nicht erreicht.

Verfechter des Konzepts führen hingegen an, dass Transsexuelle gerne Verhaltensweisen vortäuschten, die dem Modell widersprächen. M. Bailey, ein bekannter Verfechter des Modells, zitiert beispielsweise Maxine Peterson [2] dahingehend, dass „die meisten Geschlechtsidentitäts-Patienten lügen“ (Bailey, 2003, S. 172) und über die sexuellen Hintergründe ihrer Veranlagung hinwegtäuschten. Diese Behauptung jedoch macht die Theorie unfalsifizierbar und damit unwissenschaftlich, denn die einzigen, denen der Vorwurf der Lüge nicht gemacht wird, sind jene, deren Geschichte die Theorie zu bestätigen scheint.

Manche Transfrauen akzeptieren diese Diagnose jedoch als angemessene Beschreibung ihrer selbst, vermutlich aus folgenden Gründen:

  • Beim Vorläufer des gegenwärtig dominierenden Modells der Geschlechtsidentitätsstörung, der weithin bekannten Benjamin-Skala,[3] war eine Diagnose der Transsexualität und damit eine Behandlung faktisch ausgeschlossen, wenn (z. B. beim Cross-Dressing) sexuelles Empfinden eine Rolle spielte. Das Modell der Autogynophilie gruppiert dagegen ganz pauschal Männer mit Geschlechtsidentitätsstörung und Fetischisten, die aufgrund einer „fehlerhaften Zuordnung des sexuellen Ziels“ (Freund, 1993) für die Diagnose der Transsexualität in Betracht kommen.
  • In Blanchards Modell wird nicht zwischen Transsexualität und Transvestismus unterschieden. Das erlaubt es Betroffenen, von der Diagnose Transvestismus zur Transsexualität „aufzusteigen“ und damit eine Behandlung erlangen zu können.

Das gegenwärtige Modell der Geschlechtsidentitätsstörung als psychische Störung lässt dagegen sexuelle Erregung beim Cross-Dressing zu. Darüber hinaus unterscheidet es weitaus weniger rigide zwischen Transsexuellen und Transvestiten als die Benjamin-Skala, sondern fasst alle Menschen mit Geschlechtsidentitätsstörung in eine Kategorie zusammen, wobei die GID individuell ausgeprägt sein kann (vergleiche auch Transgender).

Dementsprechend machen Kritiker des Autogynophilie-Modells geltend, dass diejenigen, die dies als für sich zutreffend ansehen, ihre eigene Pathologisierung im Sinne einer Paraphilie betrieben und die erotische Komponente als die primär antreibende Kraft zur Transition (bzw. Transformation) ansähen. Es fehle jedoch jedes Anzeichen, dass eine Differentialdiagnose, die auf der sexuellen Vorgeschichte beruht, zu einer größeren Zufriedenheit unter den Patienten führt.

Die Pathologisierung gesellschaftlich nicht akzeptierter sexueller Veranlagungen hat eine lange Geschichte. Es sind bereits andere jüngere Krankheitsbilder wie ichdystone Homosexualität und „Nymphomanie“ in Misskredit gekommen. Dies ist nach Ansicht seiner Kritiker für das Autogynophilie-Modell auch zu erwarten.

Vielfach wird in der wissenschaftlichen wie auch der populären Literatur berichtet, dass Menschen in sexuellen Phantasien dem anderen Geschlecht angehören wollen, obwohl sie nicht in allen Fällen transsexuell seien. Im Sinne einer psychosexuellen Pathologie werden diese Phantasien als Paraphilien angesehen.

Literatur

Weblinks

Fußnoten

  1. Ray Blanchard, Sexualforscher, Leiter des gender program der Gender Identity Clinic, Centre for Addiction and Mental Health, Clarke Division, Toronto.
  2. Maxine Petersen, M.A., C.Psych.Assoc., Coordinator, Gender Identity Clinic, Centre for Addiction and Mental Health, Clarke Division, Toronto, Canada.
  3. „Benjamin-Skala“: Google-WebSuche.

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