Rywin-Affäre

Rywin-Affäre

Die Rywin-Affäre (poln. afera Rywina, in Anlehnung an die Watergate-Affäre auch als Rywingate bezeichnet) ist ein in Polen seit Ende 2002 andauernder und bis heute nicht abschließend aufgeklärter Korruptionskandal.

Sie ist benannt nach dem polnischen Filmproduzenten Lew Rywin (unter anderem Der Pianist, Schindlers Liste, Hitlerjunge Salomon), der von deutschen Medien auch als „polnischer Leo Kirch“ bezeichnet wird.

Der Vorgang

Lew Rywin suchte am 22. Juli 2002 Adam Michnik auf, den Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, und machte diesem ein Angebot: Gegen Zahlung von 17 Mio. Dollar würde ein damals gerade diskutierter Gesetzentwurf, der die Einflussnahme von Printmedien im Rundfunksektor beschränken sollte, dahingehend geändert werden, dass der Verlag der Zeitung (Agora S.A.) den privaten Fernsehsender Polsat oder das zweite Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens übernehmen könne. Rywin gab vor, im Auftrag einer anonymen „Gruppe, die die Macht in den Händen hält“ (grupa trzymająca władzę), zu handeln und deutete an, dass der damalige Regierungschef Leszek Miller von der postkommunistischen SLD zumindest eingeweiht sei.

Michnik schnitt das Gespräch heimlich mit und begann mit Recherchen, um die Identität der von Rywin genannten Gruppe zu ermitteln. Dabei kam es auch zu einem Treffen zwischen Rywin, Michnik und Miller in dessen Büro. Miller stritt ab, etwas mit dem von Rywin vorgeschlagenen Geschäft zu tun zu haben; daraufhin soll Rywin – nach Aussage der beiden anderen Anwesenden – die Fassung verloren und von Selbstmord gesprochen haben. Rywin selber gab später an, bei diesem Gespräch alkoholisiert gewesen zu sein.

Nachdem die Recherchen der Gazeta Wyborcza ergebnislos geblieben waren, machte sie den Fall schließlich am 27. Dezember öffentlich und druckte den Mitschnitt des Gespräches zwischen Rywin und Michnik ab, womit der eigentliche öffentliche Skandal begann.

Im Januar 2003 konstituierte sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der Licht in den Vorgang bringen sollte.

Unabhängig vom parlamentarischen Verfahren begann ein reguläres Strafverfahren gegen Rywin, in dem dieser am 26. April 2003 zu zweieinhalb Jahren Gefängnis sowie einer Geldstrafe von 100.000 Złoty (PLN) (Währungsrechner) verurteilt wurde – wegen Betruges, nicht wegen Korruption. Das Gericht ging dabei davon aus, dass Rywin auf eigene Rechnung gehandelt habe und die „Gruppe“, in deren Auftrag er zu handeln behauptet hatte, nicht existiere. Am 10. Dezember 2004 revidierte das Warschauer Appellationsgericht dieses Urteil und entschied, dass die „Gruppe“ tatsächlich existiert habe, auch wenn deren Zusammensetzung unbekannt sei. Rywin wurde nunmehr wegen „entgeltlicher Protektion“ verurteilt, die Haftstrafe auf zwei Jahre reduziert.

Widersprüchliche Ermittlungsergebnisse

Währenddessen zogen sich langwierige Verhöre des Untersuchungsausschusses hin. Am 5. April 2004 stellte der Untersuchungsausschuss seine Arbeit offiziell ein. Ohne Aussprache wurde mit den Stimmen der Mitglieder von SLD und Samoobrona ein Abschlussbericht verabschiedet, der zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie das Gericht, wonach Rywin Einzeltäter gewesen sein soll.

Die in der Schlussabstimmung unterlegenen Abgeordneten einschließlich des Ausschussvorsitzenden Tomasz Nałęcz weigerten sich jedoch, diesen Bericht mitzutragen und erarbeiteten abweichende Minderheitsberichte. Der Sejm sollte dann über die Annahme des offiziellen Mehrheitsberichtes oder eines Minderheitsberichtes entscheiden. Am 24. September 2004 beschloss der Sejm, die radikalste Minderheitsvariante zu akzeptieren, in dem als vermutliche Hintermänner namentlich genannt werden:

  • Regierungschef Leszek Miller (im Mai 2004 zurückgetreten),
  • Aleksandra Jakubowska, stellvertretende Kulturministerin der Regierung Miller, u. a. zuständig für die Novellierung des fraglichen Gesetzes, von dem Agora S.A. hätte profitieren sollen,
  • Włodzimierz Czarzasty, ein weiterer SLD-Medienpolitiker,
  • Robert Kwiatkowski, der Chef des öffentlich-rechtlichen polnischen Fernsehens, dessen zweites Programm privatisiert werden sollte,
  • Lech Nikolski, im fraglichen Zeitraum Kabinettschef von Miller, später Minister für die Durchführung des EU-Referendums.

Spätfolgen für die politische Kultur

Die langfristigen Folgen der Affäre für die politische Kultur Polens sind derzeit noch nicht abzusehen. Fest steht, dass das in der Bevölkerung ohnehin traditionell große Misstrauen gegen den Staat und die Politik neue Nahrung erhalten hat. Selbst der Ruf Adam Michniks, einst eine legendäre Gestalt des antikommunistischen Widerstands, wurde in Mitleidenschaft gezogen; er geriet in den Verdacht, selbst tiefer in die Affäre verwickelt zu sein. Immer mehr Menschen sind davon überzeugt, dass die politische und publizistische Klasse tief in Korruption und organisierte Kriminalität verstrickt sind – insofern ist die Bedeutung der Rywin-Affäre z. B. mit der Dutroux-Affäre in Belgien vergleichbar. Dass letztendlich ranghohe Politiker einschließlich des Ministerpräsidenten als Drahtzieher „entlarvt“ wurden, sorgt bei vielen weniger für Genugtuung als für weitere Politikverdrossenheit: Zum einen bestreiten diese weiterhin sämtliche Vorwürfe und können auch strafrechtlich bis auf Weiteres nicht zur Rechenschaft gezogen werden; zum anderen ist offenkundig, dass auch der radikale Entwurf des Abschlussberichtes letztendlich nur durch geschicktes Taktieren der interessierten Fraktionen im Sejm verabschiedet wurde. Damit wurde für viele offensichtlich, dass es hier weniger um Wahrheitsfindung ging, sondern eher um Machtspiele.

Wenn jemand persönlich von der Rywin-Affäre profitiert hat, so ist es Jan Maria Rokita, der Vertreter der größten Oppositionspartei „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska/PO) im Untersuchungsausschuss, dessen Sitzungen live im Fernsehen übertragen wurden. Durch sein aggressives Auftreten profilierte sich Rokita als harter Aufklärer und stieg innerhalb weniger Monate zum wichtigsten Oppositionspolitiker auf. Zwischenzeitlich wurde er als aussichtsreichster Kandidat für den Posten des Premierministers nach einer für 2005 erwarteten Regierungsübernahme der Opposition gehandelt. Daneben hat auch die konservativ-rechtspopulistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość/PiS), deren Hauptthema die Korruptionsbekämpfung ist, von der Affäre medial profitiert.

Die Rywin-Affäre wurde bereits von einer weiteren Affäre in den Hintergrund gedrängt, die noch weitere Kreise zog: die sogenannte Orlen-Affäre (afera Orlenu, Orlengate) um die Privatisierung des gleichnamigen polnischen Energiekonzerns.

Vor dem Hintergrund dieser Affären artikuliert vor allem die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość/PiS) die Forderung, die seit 1989 bestehende „Dritte Republik“ sei gescheitert. Sie müsse daher umfassend von korrupten Politikern und Geschäftsleuten „gesäubert“ und mit einer neuen, autoritäreren Verfassung in eine „Vierte Republik“ (IV Rzeczpospolita) umgestaltet werden.


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Rywin — Lew Rywin (* 10. November 1945 in Niżnyj Alkiejew, sibirischen, Sowjetunion) ist ein polnischer Filmproduzent, der vor allem durch die sogenannte Rywin Affäre auch international in die Schlagzeilen geriet. Rywin kam in den 1950er Jahren mit… …   Deutsch Wikipedia

  • Lew Rywin — (* 10. November 1945 in Niżnyj Alkiejew in der sibirischen Sowjetunion) ist ein polnischer Filmproduzent, der vor allem durch die sogenannte Rywin Affäre auch international in die Schlagzeilen geriet. Rywin kam in den 1950er Jahren mit seinen… …   Deutsch Wikipedia

  • Michnik — Adam Michnik (* 17. Oktober 1946 in Warschau) ist ein polnischer Essayist und politischer Publizist, Herausgeber der linksliberalen größten Tageszeitung des Landes Gazeta Wyborcza und ehemaliger antikommunistischer Dissident. Adam Michnik am 1.… …   Deutsch Wikipedia

  • Adam Michnik — ([ˈadam ˈmixɲik], * 17. Oktober 1946 in Warschau) ist ein polnischer Essayist und politischer Publizist, Herausgeber der linksliberalen größten Tageszeitung des Landes Gazeta Wyborcza und ehemaliger antikommunistischer Dissident …   Deutsch Wikipedia

  • Jan Maria Rokita — Jan Maria Władysław Piotr Rokita (* 18. Juli 1959 in Krakau, Polen) ist ein ehemaliger konservativer polnischer Politiker der „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska) im polnischen Parlament (Sejm) der 5. Wahlperiode bis 2007. Jan Rokita Inhalts …   Deutsch Wikipedia

  • Błochowiak — Anita Błochowiak Anita Błochowiak (* 7. November 1973 in Pabianice) ist eine polnische Politikerin und seit 2001 Abgeordnete des Sejm in der IV., V. und VI. Wahlperiode. Lebenslauf Sie machte einen Abschluss in der Fakultät für Management an der …   Deutsch Wikipedia

  • Jan Rokita — Jan Maria Władysław Piotr Rokita (* 18. Juli 1959 in Krakau, Polen) ist ein ehemaliger konservativer polnischer Politiker der „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska) im polnischen Parlament (Sejm) der 5. Wahlperiode bis 2007. Jan Rokita… …   Deutsch Wikipedia

  • Ziobro — Zbigniew Ziobro Zbigniew Ziobro (* 18. August 1970 in Krakau) ist ein polnischer Politiker und Jurist, ist seit 2001 Abgeordneter des Sejm in der IV., V. und VI. Wahlperiode, war vom 31. Oktober 2005 bis zum 7. September 2007 und vom 11.… …   Deutsch Wikipedia

  • Anita Błochowiak — (* 7. November 1973 in Pabianice) ist eine polnische Politikerin und seit 2001 Abgeordnete des Sejm in der IV., V. und VI. Wahlperiode. Lebenslauf Sie machte einen Abschluss in der Fakultät für Management an der Universität Łódź. 1998 arbeitete… …   Deutsch Wikipedia

  • Ryszard Kalisz — Ryszard Roman Kalisz (* 26. Februar 1957 in Warschau) ist ein polnischer Politiker, Rechtsanwalt, Abgeordneter des Sejm der IV., V. und VI. Wahlperiode, ehemaliger Minister für Inneres und Verwaltung. Lebenslauf 1978 trat er der Polska Zje …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”