Räuber-Beute-Beziehung

Räuber-Beute-Beziehung

Räuber-Beute-Beziehungen sind ein Teilaspekt der Nahrungsketten bzw. der Nahrungsnetze, die im Fachgebiet Ökologie analysiert werden. Der Fachbegriff Prädator umfasst neben den echten Räubern auch Parasiten, Parasitoide und Weidegänger. Die unten beschriebenen Modellbildungen in der Ökologie können im Prinzip auf alle vier Fälle angewendet werden. Ausgeschlossen sind für die Theorien dagegen alle Arten, die sich von toter organischer Substanz ernähren (z. B. Aasfresser, Detritusfresser, Destruenten), weil in diesem Falle keine biologische Reaktion der Beutepopulation erfolgen kann.

Populationsschwankungen bei Räuber und Beute. Typisch ist, dass die Kurve der Räuber der Kurve der Beute nachläuft.

In der Natur existieren zahlreiche komplexe Reaktionsmuster in den Beziehungen zwischen Räuber und Beute, ihre Erklärung bildet ein wesentliches, zentrales Gebiet der ökologischen Theorie. Aufgrund der Vielfalt der unterschiedlichen Beziehungen ist die Übertragung von einem System auf ein anderes schwierig. In manchen Fällen dezimiert ein Räuber eine Beutetierpopulation auf den Bruchteil ihrer unbeeinflussten Dichte, in anderen Fällen ist der Einfluss eines Räubers auf eine Beutepopulation kaum nachweisbar. Wesentlich ist hierbei zum einen, ob ein Räuber auf eine bestimmte Beuteart spezialisiert ist, oder ob es sich um einen Generalisten mit zahlreichen gleichwertigen Beutearten handelt, zwischen diesen beiden Extremen existiert ein breites Spektrum von Fällen unterschiedlicher Präferenz. Zum andern sind stets Auswirkungen anderer Arten und Wechselwirkungen mit den Umweltfaktoren bedeutsam.

Besonders interessant für die ökologische Analyse sind Systeme, in denen der Räuber die Dichte seiner Beute reguliert, oder in denen die Dichte von beiden zyklischen Schwankungen unterliegt. In der Regel beeinflussen dabei zahlreiche weitere Faktoren wie Nahrungsangebot, Klima, Raumkonkurrenz, Krankheitserreger, Parasiten, Stress und andere Räuber ebenfalls die Populationsgrößen (siehe auch Populationsdynamik).

Mit dem Ziel, allgemeine dynamische Eigenschaften von Räuber-Beute-Beziehungen darzustellen und zu untersuchen, wurden in der theoretischen Biologie verschiedene mathematische Modelle erstellt. Am einfachsten und bekanntesten ist das Lotka-Volterra Modell. Grundlage sind die Arbeiten des österreichischen Mathematikers Alfred James Lotka und des italienischen Mathematikers und Physikers Vito Volterra, die 1925 und 1926 unabhängig die heute nach ihnen benannten Lotka-Volterra-Gleichungen formulierten. Es handelt sich um mathematische Differentialgleichungen, in denen erstmals der quantitative Aspekt der Populationsentwicklung unter interspezifischer Konkurrenz in Abhängigkeit von der Zeit dargestellt wurde. Sie beruhen auf der logistischen Gleichung. Die biologischen Anwendungen dieser Gleichungen sind heute unter dem Namen der ersten, zweiten und dritten Lotka-Volterra-Regel bekannt.

Bisamratte - ihre Anzahl ist nicht durch die Anzahl der Räuber bestimmt, sondern ein dichteabhängiges Phänomen

Eine Computersimulation, welche die Räuber-Beute-Beziehung anschaulich macht, ist die Simulation Wator von Alexander K. Dewdney und David Wiseman.

Im Lotka-Volterra Modell zeigen Räuber- und Beutearten gekoppelte Häufigkeitsschwankungen. Vereinfacht: gibt es viel Beute, nimmt die Population des Räubers zu, danach wird die Beute seltener, die Räuber finden nicht mehr ausreichend Nahrung und werden seltener, die Beutepopulation kann sich erholen, usw. usw. Im Modell handelt es sich allerdings um sog. "neutral stabile" Zyklen. Das bedeutet: Die Zyklen entstehen ohne äußere Einwirkungen, die Zykluslänge ergibt sich aus der Wahl der Variablen (ohne Zeitgeber), ohne Störungen von außen würden diese Zyklen ohne jede Abweichung für immer weiterlaufen. Aber: In natürlichen Systemen tatsächlich beobachtbare Zyklen können normalerweise aufgrund dieses Mechanismus nicht entstehen, aufgrund der unvermeidlich und immer einwirkenden Schwankungen der Umweltvariablen würden Populationen, die der Modelldynamik unterliegen, in der Realität azyklisch und erratisch fluktuieren. Populationen, deren Schwankungen ausschließlich durch das Modell erklärt werden könnten, gibt es vermutlich nicht. Dennoch ist das Modell als erste Näherung zur Erklärung gekoppelter Oszillationen nützlich.

Der berühmteste Fall, bei dem für die Population eines Räubers und seiner Beute gekoppelte, zeitverzögerte Zyklen tatsächlich in der Natur beobachtet worden sind, sind die Zyklen des Amerikanischen Schneeschuhhasen (Lepus americanus) und seines Räubers, des Kanadischen Luchses (Lynx canadensis).[1]Die Arten zeigen über ein riesiges Gebiet (ein großer Teil des Nordens von Nordamerika, von Alaska bis Neufundland) einen Zyklus von etwa zehn Jahren Länge (tatsächlich beobachtet: 9-11 Jahre). Dieses Beispiel wurde sogar in Schulbücher übernommen. Ursprünglich als besonders schlagendes Beispiel für eine Oszillation vom Lotka-Volterra Typ gedeutet, liegen nach neueren Untersuchungen die Verhältnisse hier viel verwickelter. Hohe Hasenpopulationen brechen anscheinend vor allem durch Nahrungsmangel zusammen. Knapp wird hier allerdings nicht Nahrung als solche (die Hasen fressen ihren Lebensraum nicht etwa kahl), sondern gute Nahrung mit hohem Nährwert. Die beweideten Pflanzen können bei starker Beweidung Fraßgifte (Toxine) bilden und werden dadurch für die Hasen weniger gut fressbar. Sie bilden diese (energetisch kostspieligen) Toxine aber nur, wenn hoher Fraßdruck besteht. Die Interaktion des Prädatoren Schneeschuhhase und seiner Beute, den grünen Pflanzen, scheint hier den Zyklus anzutreiben. Der Luchs folgt demnach nur passiv nach. Dieses Beispiel (das keinesfalls bis in die letzten Einzelheiten tatsächlich aufgeklärt wäre!) zeigt anschaulich, dass man sich vor einfachen Erklärungen der komplexen Sachverhalte hüten sollte, auch wenn sie scheinbar gut in das zur Erklärung verwendete Modell passen.

Untersuchungen, die der US-amerikanische Zoologe und Ökologe Paul Errington (1946) für die Räuber-Beute-Beziehung zwischen Bisamratten und Minks durchgeführt hat, zeigen ein völlig anderes Verhalten. So ist der Mink zwar der wichtigste Räuber der Bisamratte, die Populationsgröße der Bisamratte wird jedoch weniger durch die Zahl ihrer Räuber beeinflusst als durch die Besatzdichte des Territoriums. Vor allem umherstreifende Tiere ohne Revier oder verletzte Tiere werden Beute des Mink. Es werden also die Individuen bevorzugt getötet, die ohnehin die geringste Überlebenswahrscheinlichkeit gehabt hätten. Die Populationsgröße der Beute wird in diesem Fall also durch den Ökofaktor Räuber auf eine regulierte Dichte begrenzt, die durch die Ökofaktoren Nahrung und Raum zum Anlegen von Bauen vorgegeben ist. Vergleichbare Fälle wurden bei anderen Untersuchungen sehr häufig gefunden.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Nils Chr. Stenseth u. a.: Population regulation in snowshoe hare and Canadian lynx: Asymmetric food web configurations between hare and lynx. PNAS, Band 94, Nr. 10, 1997, S. 5147–5152 Volltext

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