Seevolk

Seevolk

Der Begriff Seevölker wird von der modernen Forschung meist als Sammelbezeichnung für die in ägyptischen Quellen des Neuen Reichs erwähnten „Fremdvölker“ verwendet, die zu Beginn des 12. Jh. v. Chr. zur ernsten Bedrohung für Ägypten wurden. Wahrscheinlich handelt es sich um die gleichen Kräfte, die in dieser Zeit - nach neuen Vermutungen 1192 v. Chr.[1] - Ugarit angriffen. Auch für eine Reihe weiterer Zerstörungen und Umwälzungen im östlichen Mittelmeergebiet werden diese Völker von vielen Forschern verantwortlich gemacht.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsherkunft

Der Ausdruck Seevölker wurde von dem französischen Ägyptologen Gaston Maspero geprägt, um die von Ramses III. auf den Reliefs von Medinet Habu abgebildeten Fremdvölker zu bezeichnen. Die zeitliche Begrenzung des Begriffs Seevölker auf den konzentrierten Angriff zu Wasser und zu Land um 1176 v. Chr. ist jedoch irreführend, da in davorliegenden Zeiträumen immer wieder Fremdvölker über den See- und Landweg Angriffe auf Ägypten durchführten. Zudem wurden bei den erfolgten Angriffen unter Ramses III. andere Seevölker der Region geschlagen und tauchten fortan nicht mehr in der weiteren Geschichtsschreibung auf.

Hintergrund

Vor dem Hintergrund der endenden Bronzezeit ergaben sich bereits ab ca. 1220 v. Chr. einschneidende Veränderungen im Seehandel des Mittelmeerraums. Diese Schwierigkeiten zeigten bereits bei den Hethitern um 1210 v. Chr. erste Wirkungen, da Ägypten die in einen Versorgungsengpass geratenen Hethiter mit Getreidelieferungen unterstützte. Anscheinend konnte die wirtschaftliche Lage nicht lange stabilisiert werden. Nur einige Jahre später suchten die Hethiter bereits nach neuen Siedlungsmöglichkeiten. Archäologische Funde und schriftliche Dokumente zeigen einheitlich den sich abzeichnenden Zusammenbruch des gesamten Handels bis in die Gebiete der Ägäis auf.

Die vielleicht einsetzenden Völkerwanderungen erfolgten aus westlicher Richtung und zogen sich über einen längeren Zeitraum auf dem Landweg hin. Auf dem Relief in Medinet Habu werden Familien gezeigt, die mit ihrem Hab und Gut, beladen auf Ochsenkarren, ihre Heimat verlassen hatten. Das Zielgebiet dieser Einwanderer bildete zunächst die Region Hatti und Kizzuwatna, später die Levante und Zypern. Die zur See erfolgenden Angriffe müssen daher losgelöst von der schon vorher einsetzenden Völkerwanderung gesehen werden.

Verlauf des „Seevölkersturms“

Seeschlacht im Nildelta zwischen den Streitkräften von Ramses III. und den „Seevölkern“. Umzeichnung Wandrelief im Tempel von Medinet Habu

Zur See operierende Völker schlossen sich mit zu Lande agierenden Völkern zu einer Koalition zusammen und zerstörten im östlichen Mittelmeergebiet viele Städte und Reiche. Die letzte Korrespondenz aus Ugarit spricht von verlustreichen Kämpfen des hethitischen Herrschers im Bereich der Lukka-Länder. Gleichzeitig war Zypern nach den Alašija-Briefen von nicht näher bezeichneten „Feinden“ angegriffen worden, die jedoch weiterzogen. Die Flotte Ugarits wurde vom hethitischen Herrscher an der kleinasiatischen Südküste eingesetzt. Truppen Ugarits waren ins hethitische Kernland verlegt worden. Unmittelbar nach dieser Schilderung wurde das schutzlose Ugarit von See aus zerstört.

Ägyptische Quellen zu den „Seevölkern“

Vertikal gespiegelte Nachzeichnung der Siegesstele des Merenptah (F. Petrie).

Inschrift des Merenptah

Auf Inschriften in Karnak und Atribis wird aus dem 5. Jahr des Merenptah (Baenre-hotephirmaat) die Schlacht bei Sais erwähnt, bei welcher eine Koalition aus Libyern und „Seevölkern“ Ägypten angriff. Dem libyschen Herrscher Meria (Mrjj) folgen die Hilfstruppen der Šardana, Šekeleša, Aqi-waša, Luka, Turiša, Mešweš, Tjehenu (Thnw) und die Tjemehu (Tmhw).

Die Länder der Hethiter fallen, wie beim Anblick nahender Windhunde, auf die Knie. Bleibende Angst für die Herzen der Mešweš, zerbrochen ist das Land Tjemhu. Lebu wurde aus unserem Ta Meri („Geliebtes Land“) verdrängt; es kann nun wieder die Strahlen von Aton sehen, weil das Unwetter über Kemet verjagt wurde.[2]

Darstellungen in Medinet Habu

Der Angriff der Seevölker veranlasste Ramses III. in seinem 8. Regierungsjahr zu folgendem Bericht:

„Die Völker der Meere schlossen sich auf ihren Inseln zu einer Verschwörung zusammen. Sie hatten den Plan, die Hand auf alle Länder der Erde zu legen. Kein Land hielt ihren Angriffen stand. Von Hatti an wurden zu gleicher Zeit vernichtet: Qadi, Karkemiš, Arzawa und Alašija. Ihr Lager schlugen sie an einem Ort in Amurru auf. Sie zerstörten die Länder so, als ob sie nie existiert hätten. Sie kamen, bereiteten ein Feuer vor ihnen und sagten: „Vorwärts nach Ägypten”. Verbündet waren mit ihnen die Peleset, Tjeker, Šekeleš, Danu und Wašaš. Ihre Herzen waren voller Vertrauen: „Unsere Pläne gelingen” sagten sie zuversichtlich.“

Auszüge aus der Inschrift in Medinet Habu von Ramses III.[3]

Auf den Reliefs von Medinet Habu sind diese Fremdvölker dargestellt ( ḥ 3w – nbwt Hau-nebut). Die Peleset/Pulesata (Plst/Pwlsata), Tjeker (Tkr), Denua/Danua (Dnw) und die Waschasch (Wašaš) tragen einen Helm mit Federkrone. Für die Darstellungen hierzu gibt es gleichzeitige Parallelen in Enkomi. Die Träger eines Hörnerhelms ohne Aufsatz sind die Scherden. Diese Art der Hörnerhelme wurden als Zeichnung auf Kriegervasen aus Mykene, ebenfalls in Enkomi gefunden.

Die Šekeleš tragen Stirnbänder. Die Fremdvölker werden einheitlich mit einem kurzen Rock dargestellt und sind meist bartlos. Oft tragen sie Panzer. Die Bewaffnung besteht aus einem runden Schild, Speer, Lanze und Schwert. Ihre Schiffe sind einheitlichen Typs, mit Segeln und einem auffälligen Vogelkopf an beiden Enden. Ob sie Ruder besaßen, ist umstritten. Die Details der Kleidung bei allen Gruppen sind eindeutig dem Mittelmeerraum zuzuordnen; ebenso nach wissenschaftlichen Untersuchungen die Schiffe. Gleichzeitig findet ein Zusammenbruch der bronzezeitlichen Kulturzentren im östlichen Mittelmeerraum statt.

Papyrus Harris

Im Papyrus Harris, einem Rechenschaftsbericht von Ramses III., der kurz nach dessen Tode verfasst wurde, wird berichtet, wie der Pharao die ‚Dnjn‘, „die auf ihren Inseln sind“, tötete. Gefangene ‚Šrdn‘ werden als Hilfstruppen angesiedelt. Wenn sich dies auf dieselben Ereignisse wie die Inschriften von Medinet Habu bezieht, so heißt dies vermutlich, dass der ägyptische Sieg nicht vollkommen war, sondern dass man die Angreifer an der Peripherie ansiedeln und mit Tributen besänftigen musste. Die meisten Kommentatoren nehmen zudem eine Verwechslung der ‚Šrdn‘ mit den ‚Šklš‘ (Schekelesch) an, denn die ‚Šrdn‘ (Schardana) sind schon aus früherer Zeit als ägyptische Hilfstruppe bekannt: Sie sind bereits unter Ramses II. auf ägyptischer Seite in der Schlacht von Kadesch belegt. Sie kamen offenbar als Kriegsgefangene in die Armee und werden als Hörnerhelmträger mit Knauf abgebildet. Die Šrdn entsprechen wohl den Šardanu in den Amarnabriefen (18. Dynastie). In einem Brief des Königs von Byblos an den Pharao werden Šardanu (Schardana) als Leibwache erwähnt.

Theorien zur Identität der „Seevölker“

Alter Orient im 13. Jahrhundert v. Chr.

Das Thema „Seevölker“ zählt zu den meistdiskutierten, komplexesten und schwierigsten Forschungsbereichen der Altertumsforschung. Zahlreiche multidisziplinäre Kongresse widmeten sich ausschließlich diesem Thema.

Indogermanische Einwanderung

Viele Althistoriker, Sprachwissenschaftler und Archäologen gingen früher davon aus, dass es sich in der Mehrzahl um indogermanische Illyrer gehandelt habe. Ihr Vordringen führte nach Meinung dieser Forscher zum Niedergang der mykenischen Kultur in Griechenland (Pylos, Mykene u. a.) und besiegelte das Schicksal des Hethiterreichs Šuppiluliumaš' II..

Piraten und Mykener

Andere sahen die „Seevölker“ schlicht als Piraten. Einige Forscher – etwa Eberhard Zangger – vermuteten sogar, bei den „Seevölkern“ habe es sich zu großen Teilen um Mykener gehandelt, die also nicht Opfer, sondern Auslöser der Unruhen gewesen wären. Diese Theorie gilt aber bis auf weiteres als sehr problematisch, wenngleich sich etwa in der materiellen Kultur der späteren Philister durchaus einige Parallelen zur mykenischen finden lassen.

Trojanischer Krieg

Mitunter wurde vermutet, dass auch griechische Sagenzyklen, wie beispielsweise vom Trojanischen Krieg (die Bezeichnungen beteiligter Völker ähneln lautlich anderen Bezeichnungen von „Seevölkern“, Menelaos verschlägt es beim Versuch der Heimreise nach Ägypten) oder die Mopsos-Sage, vage Erinnerungen an diese Unruhezeit bewahren.

Herkunft aus Kleinasien und der Ägäis

In der aktuellen Forschung wird als Ausgangspunkt der „Seevölker“-Unruhen oft der west- bzw. süd-kleinasiatische und der ägäische Raum angenommen. Dafür spricht neben einer Vielzahl von neuen archäologischen Funden, die in diese Richtung deuten, auch die ägyptische Bezeichnung Hau-nebut für die Seevölker, die „Bewohner der Ägäis“ bedeutet.

Zuordnungen

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Die Gleichsetzung der Šardana mit Sardinien und der Šekeleš mit Sizilien ist in der Forschung nach wie vor strittig, da bisher nicht eindeutig geklärt werden konnte, ob eine Zuwanderung erst in späterer Zeit erfolgte oder ob die genannten Völker schon vorher dort ansässig waren. Gemeinsam mit den Turiša (Tyroša) kann jedoch in der ägyptischen Geschichte auf ältere Berührungspunkte verwiesen werden, die bis in die Anfänge der 18. Dynastie reichen.[2] Die Luka, als Bewohner der Lukka-Länder, wurden in hethitischen Texten oft genannt und waren in Südwest-Kleinasien angesiedelt.

Die Dnw wurden H. R. Hall 1901 mit den Danäern, eine von drei Bezeichnungen der Griechen in der Ilias von Homer, gleichgesetzt. Demzufolge handelt es sich um (eine Region) Griechenland(s) oder die Ägäis.

Siehe auch

Literatur

  • Manfred Dietrich, Oswald Loretz: Der Untergang am 21.1.1192 v. Chr. von Ugarit? Der astronomisch-hepatoskopische Bericht KTU 1.78 (= RS 12.061) in: Ugarit Forschungen - Internationales Jahrbuch für Altertumskunde Syrien Palästinas - Bd. 34, 2002, S. 53 ff., Ugarit-Verlag, Münster 2003. ISBN 3-934628-33-8.
  • Trude Dothan, Moshe Dothan: Die Philister, Zivilisation und Kultur eines Seevolkes. Diederichs, München 1995. ISBN 3-424-01233-5
  • Wolfgang Helck: Die Beziehungen Ägyptens und Vorderasiens zur Ägäis bis ins 7. Jahrhundert v. Chr. Harrassowitz, Wiesbaden 1962M Wiss. Buchges., Darmstadt 1979, 1995. ISBN 3-534-12904-0
  • Gustav Adolf Lehmann: Umbrüche und Zäsuren im östlichen Mittelmeerraum und Vorderasien zur Zeit der „Seevölker“-Invasionen um und nach 1200 v. Chr. Neue Quellenzeugnisse und Befunde, in: Historische Zeitschrift 262, 1996, S. 1–38.
  • Gustav Adolf Lehmann, Die 'politischen-historischen' Beziehungen der Agäis-Welt des 15.-13. Jhs. v. Chr. zu Vorderasien und Ägypten: einige Hinweise in: Joachim Latacz (Hrsg.), Zweihundert Jahre Homerforschung, Colloquium Rauricum Bd. 2, Stuttgart 1991. ISBN 3-519-07412-5.
  • Abraham Malamat: The Egyptian decline in Canaan and the Sea-Peoples. Massadah, Tel-Aviv 1971.
  • Othniel Margalith: The sea peoples in the Bible. Harrassowitz, Wiesbaden 1994. ISBN 3-447-03516-1
  • N. K. Sandars: The sea peoples — warriors of the ancient Mediterranean 1250—1150 BC. Thames and Hudson, London 1978, 1985, 1987. ISBN 0-500-27387-1
  • Frederik Christiaan Woudhuizen: The Ethnicity of the Sea Peoples. Dissertation, Rotterdam 2006, (PDF; 4 MB)

Weblinks

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. siehe Weblink Das Omen 1192 v. Chr. von Ugarit und Artikel in den Ugarit-Forschungen 34, der in der Literatur angegeben ist.
  2. a b Vgl. Ursula Kaplony-Heckel: Die Israel-Stele des Mer-en-Ptah, 1208 v. Chr. In: Otto Kaiser u.a.: TUAT, Bd. I Alte Folge - Lieferung 6, Historisch-chronologische Texte III -. Gütersloher Verlaghaus Mohn, Gütersloh 1985, ISBN 3-579-00065-9, S. 545; vgl. auch Anmerkungen d und e; siehe ebenso Wolfgang Helck: Die Seevölker in den ägyptischen Quellen - Jahresbericht des Instituts für Vorgeschichte der Universität Frankfurt am Main -. München 1976, S. 7–21.
  3. Übersetzung der Inschrift (Zeilen 16-17): John Wilson In: James B. Pritchard: Ancient Near Eastern: Texts relating to the Old Testament (3. Auflage), Universal Press, Princeton 1969, S. 262.

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