Sektierer

Sektierer

Sekte (lat. secta „Richtung“, von sequi, „folgen“, in der Bedeutung beeinflusst von secare, „schneiden, abtrennen“) ist eine ursprünglich wertneutrale Bezeichnung für eine philosophische, religiöse oder politische Gruppierung, die durch ihre Lehre oder ihren Ritus im Konflikt mit herrschenden Überzeugungen steht. Insbesondere steht der Begriff für eine von einer Mutterreligion abgespaltenen religiösen Gemeinschaft. So ist beispielsweise das Christentum als Sekte aus dem Judentum hervorgegangen.

Aufgrund seiner Geschichte und Prägung durch den kirchlichen Sprachgebrauch bekam der Ausdruck abwertenden Charakter und verbindet sich heute mit negativen Vorstellungen, wie der möglichen Gefährdung von etablierten religiösen Gemeinschaften oder Kirchen, Staaten oder Gesellschaften. Die moderne Religionswissenschaft hat das Wort Sekte durch neutrale Bezeichnungen wie religiöse Sondergemeinschaft oder neureligiöse Gemeinschaft ersetzt. In der Rechtswissenschaft findet der Begriff „Neue religiöse Bewegung“ Verwendung.

Aus dem illustrierten Sektenkatalog eines unbekannten Künstlers (um 1647)

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

In der Antike wurden als „Sekte“ zunächst diejenigen bezeichnet, die den Anschauungen eines bestimmten Philosophen folgten.[1] Die ersten Christen wurden als „Sekte der Nazarener“, eine Richtung des Judentums bezeichnet.

Paulus verwendete das Wort αἵρεσις (phon. „hairesis“, Streben, spätantik: philosophische Schule, Sekte, bzw. altgr. Verfehlung) in seinen Briefen für Spaltungen innerhalb der Gemeinde (z. B. 1 Ko 11,19). Diese Spaltungen wurden von ihm negativ bewertet, ohne dass er dabei einer bestimmten Richtung unter ihnen den Vorzug gab.

In der Alten Kirche wurde der Begriff hairesis immer mehr für Abweichungen von der gemeinsamen Lehre der miteinander in Kommunion stehenden christlichen Gemeinden verwendet und mit Beginn des fünften Jahrhunderts hatte er schließlich in der Westkirche die Bedeutung „Irrlehre“.

Dieser Begriff wurde von der lateinischen Kirche des Mittelalters als secta, Sekte, übernommen. So wurden die Protestanten als secta lutherana bezeichnet und auch im deutschen Sprachgebrauch sprach die katholische Kirche bis ins 20. Jahrhundert in manchen Texten von „Sekten“, wenn sie die evangelischen Kirchen meinte.

Heutige Begriffsverwendung

Umgangssprachlicher Gebrauch

Im landläufigen Sprachgebrauch werden als Sekten oft religiöse Gruppen bezeichnet, die in irgendeiner Weise als gefährlich oder problematisch angesehen werden, oder die in orthodoxer theologischer Hinsicht als „Irrlehre“ angesehen werden. Dies umfasst auch lang bestehende christliche Gemeinschaften, die sich in Lehre und/oder Praxis vom Herkömmlichen unterscheiden, als auch neue Gruppen, insbesondere solche, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind und als „Jugendreligion“ bezeichnet werden, weil sie anfänglich viele junge Mitglieder hatten. „Sekte“ wird heute oftmals als Kampfbegriff gebraucht.[2] So wird sogenannten Sekten häufig vorgeworfen, sie würden sich v. a. aus wirtschaftlichen Gründen als religiöse Glaubensgemeinschaften ausgeben, um den besonderen Schutz des Staates, größere Freiheiten und Rechte, sowie die Befreiung von Steuern zu genießen. Bekanntestes Beispiel dafür ist Scientology.

Kontroversen

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Das Thema Sekten führt auch immer wieder zu Kontroversen. Dabei stehen sich zwei Lager gegenüber: auf der einen Seite vorwiegend die, die sich auf die Religionsfreiheit berufen und die wertende Einschränkung von religiösen Gruppen scharf verurteilen, mehrheitlich Vertreter von religiösen und weltanschaulichen Minderheitsgruppen und Verfechter der Religionsfreiheit, unter den Akademikern mehrheitlich Religionswissenschaftler, einige Soziologen und Juristen. Auf der anderen Seite finden sich diejenigen, die neureligiöse Gruppen scharf verurteilen, weil sie die Freiheit von Individuen beschneiden würden oder nach unkontrollierter gesellschaftlicher Macht streben, darunter Vertreter der großen Kirchen, Mitarbeiter staatlicher Stellen sowie Initiativen von betroffenen Familienangehörigen oder ehemaligen Mitgliedern, Psychologen, Soziologen, Politologen und Juristen.

Im Einzelnen drehen sich die Kontroversen häufig um mutmaßliche oder tatsächliche…

  • Einschränkungen der Religionsfreiheit religiöser Randgruppen, etwa durch Kritik ihrer Praktiken und juristische Zwangsmaßnahmen
  • Einschränkungen der religiösen Freiheit durch unterschiedliche Grade der gesetzlichen Anerkennung
  • Einschränkungen der Meinungsfreiheit von Gruppenmitgliedern
  • Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Gruppenmitgliedern
  • wirtschaftliche Ausbeutung der Mitglieder durch lange Arbeitszeiten und minimales Gehalt
  • sexuelle Ausbeutung oder Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Gruppenmitglieder
  • Menschenrechtsverletzungen durch gruppeninterne, gerichtsähnliche Verfahren
  • Personenkulte um die Anführer der betreffenden Gruppe
  • Familienkonflikte, insbesondere bei Familien wo ein Elternteil die Gruppe verlassen hat und die Kinder in der Gruppe bleiben
  • Behinderung von Kindern beim Zugang zu Ausbildung, ärztlicher Versorgung und Familienangehörigen außerhalb der Gruppe

In manchen Fällen werden solche Vorwürfe einseitig gegenüber religiösen Randgruppen erhoben, während das gleiche Verhalten bei etablierten Kirchen übersehen wird oder die Schuld Einzelpersonen zugewiesen wird, während bei religiösen Randgruppen die Strukturen dafür verantwortlich gemacht werden.

Mediale Berichterstattung

Vereinzelt geraten sogenannte Sekten im Zusammenhang mit Gewaltaktionen in die Schlagzeilen. Besonders spektakuläre Beispiele sind:

  • der Massenselbstmord der über 900 Mitglieder des Peoples Temple 1978 in Guyana,
  • Mordanschläge gegen angebliche Widersacher durch Swami Omkarananda und einige Anhänger des von ihm gegründeten Divine Light Zentrum,
  • die Church of the Lamb of God dessen Führer Ervil LeBaron in den 1970er Jahren ca. 25 Rivalen ermorden ließ,
  • der Salmonellen-Anschlag 1984 auf mehrere Salatbars in der Kleinstadt The Dalles durch Osho-Mitglieder, bei dem ca. 750 Einwohner erkrankten,
  • der bewaffnete Widerstand der Davidianer gegen die US-Behörden 1993, bei dem vier Polizisten und später über 80 Mitglieder starben,
  • die Massenselbstmorde innerhalb der Sonnentempler, bei denen zwischen 1994 und 1997 in der Schweiz, in Kanada und in Frankreich insgesamt 74 Mitglieder ums Leben kamen,
  • die Colonia Dignidad, in der Kinder missbraucht und politische Gegner gefoltert wurden,
  • der Heaven's Gate-Massenselbstmord mit 39 Toten,
  • am 17. März 2000 der Massenmord an Mitgliedern des Movement for the Restoration of the Ten Commandments of God in Uganda mit über 1000 Toten.[3]
  • Yahweh ben Yahweh, Führer der Nation of Yahweh, verantwortlich für fast zwei Dutzend grausame Morde in den 80er Jahren.[4]
  • Die Organisation von Jeffrey Lundgren, die 1989 eine fünfköpfige Familie umbrachte, die der Anführer für nicht „überzeugt“ genug hielt. Lundgren wurde 2006 hingerichtet.[5][6]

Der größte Anschlag einer Sekte gegen Außenstehende in der modernen Zeit war das Giftgasattentat Ōmu Shinrikyōs in der U-Bahn von Tokio im Jahr 1995, bei dem zwölf Menschen starben und etwa 1000 verletzt wurden.[7]

Aus staatlicher Sicht (Deutschland)

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Die Enquête-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ verzichtete auf den Begriff Sekte mit folgender Begründung:

„Wie häufig der Begriff ‚Sekte‘ auch umgangssprachlich verwendet werden mag, ist er doch sachlich unzutreffend und irreführend. … Er kommt von lateinisch sequi, folgen, und ist die Übersetzung von griechisch hairesis, Wahl, Gefolgschaft. Mit ihm wurden in der Antike zunächst diejenigen bezeichnet, die einem bestimmten Philosophen in seinen Anschauungen folgten. In der Geschichte des Christentums wurden damit die Gruppen bezeichnet, die außerhalb der allgemeinen Kirche einem bestimmten Glaubensführer und für abweichend erklärten Glaubenslehren oder Praktiken anhingen. Im Mittelalter (vgl. z. B. die Konstitution Ad Deus des Kaisers Friedrich II. von 1220) wurde das ‚widerspenstige Anhängen‘ an eine ‚Sekte‘ in Acht getan und mit dem Tode bestraft (vergleiche z. B. die Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507, Artikel 30). Dadurch wurde aus einem religiösen Abweichen ein kriminelles Delikt, wie der protestantische Theologe Paul Tillich schrieb: Wer gegen das kanonisierte Dogma verstößt, (ist) nicht nur ein Häretiker, der den Grundlehren der Kirche widerspricht, sondern auch ein Verbrecher gegen den Staat. … Mit der Erklärung der Religionsfreiheit in den europäischen Staaten wurden solche Auffassungen und Einrichtungen abgeschafft. Das Grundgesetz kennt nur
  • Religionen
  • Religionsgesellschaften
  • Religionsgemeinschaften;
staatsrechtlich gibt es in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen Kirche und anderen religiösen Organisationsformen. Da außerdem der Begriff der 'Sekte' kaum von allem ihm durch die kirchliche Verlästerung angehängtem Beigeschmack, wie Max Weber forderte, gelöst werden kann, ist er äußerst fragwürdig geworden.“

Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht im Juni 2002 festgestellt, dass die Benutzung des Begriffs „Sekte“ in dem konkreten Fall der Klage der Osho-Bewegung gegen die Bundesregierung unbedenklich gewesen sei:[8]

„Zuzustimmen ist den angegriffenen Entscheidungen allerdings darin, dass diese Äußerungen, soweit mit ihnen die Osho-Bewegung und die zu ihr gehörenden Gemeinschaften als ‚Sekte‘, ‚Jugendreligion‘, ‚Jugendsekte‘ und ‚Psychosekte‘ bezeichnet wurden, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. Diese Äußerungen berühren schon nicht den Schutzbereich des Grundrechts der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit. Sie enthalten keine diffamierenden oder verfälschenden Darstellungen, sondern bewegen sich im Rahmen einer sachlich geführten Informationstätigkeit über die betroffenen Gemeinschaften und wahren damit die Zurückhaltung, zu welcher der Staat und seine Organe nach dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet sind. Allerdings soll die Bezeichnung, Sekte‘ nach der Empfehlung der Enquete-Kommission, Sogenannte Sekten und Psychogruppen‘ des Deutschen Bundestags in Verlautbarungen staatlicher Stellen über Gruppierungen der hier vorliegenden Art in Zukunft nicht weiter verwendet werden. Der Gebrauch im seinerzeitigen Kontext war aber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“

Die Enquete Kommission unterscheidet zwischen folgenden Bereichen

  1. "neue religiöse Bewegungen" - Religionen nichtchristlichen Ursprungs sowie christliche Gemeinschaften außerhalb der katholischen Kirche, der evangelischen Landeskirchen und des Arbeitskreises christlicher Kirchen;
  2. den "Psychomarkt" - Hierunter werden nicht schulmedizinisch oder wissenschaftlich begründete Therapiemethoden, Kurse, Angebote der Lebensbewältigungshilfe, Meditations- und Yogakurse und ähnliches verstanden;
  3. "Psychogruppen" - Gruppen, die sich um bestimmte Anbieter auf dem "Psychomarkt" bilden;
  4. Okkultismus/Esoterik, Glauben an Kräfte und Erscheinungen, die wissenschaftlicher Untersuchung nicht zugänglich sind sowie den damit verbundene Praktiken, soweit sie außerhalb religiöser Traditionen vorkommen.
  5. "Strukturvertriebe" und andere Vertriebsformen des Direct-Marketings.

Wissenschaftlicher Gebrauch

Im rechtlichen, soziologischen und religionswissenschaftlichen Kontext wird der Begriff heute nur noch selten verwendet.

Rechtswissenschaftlicher Gebrauch

Das Münchner Rechtslexikon schreibt zum Beispiel, der Begriff „Sekte“ habe in staatsrechtlicher Hinsicht seine Bedeutung verloren, da er eine negative theologische Beurteilung enthalte. Die früher als „Sekten“ bezeichneten Gruppen werden heute meist unter weniger vorbelasteten Bezeichnungen wie „Neue religiöse Bewegungen“ oder „Alternativreligionen“ zusammengefasst. Kleinere, schlecht organisierte spirituelle Gruppierungen und Einzelpersonen werden bisweilen auch als „Anbieter am Lebenshilfemarkt“ bezeichnet.

Soziologische Definitionen

In der deutschsprachigen Soziologie ist Max Webers Sektenkonzept am bekanntesten. Weber unterscheidet Sekten von Kirchen anhand ihrer Rekrutierungsmechanismen: Sekten sind voluntaristische Gemeinschaften, in die man aufgrund einer persönlichen Entscheidung und nur nach eingehender Prüfung durch die Sekte aufgenommen wird. Im Gegensatz dazu sind Kirchen für Weber Anstalten, in die man hineingeboren wird.[9]

Ein anderer Ansatz von Peter L. Berger sieht in einer Sekte ein Organisationsmodell für den Selbstschutz kollektiver Minderheiten. Ihre weltanschauliche Basis ist eine Orthodoxie, die von einem ontologischen Wahrheitsbegriff (Niklas Luhmann) ausgeht: eine voraufgeklärte Orientierung, in der das Sein als unwandelbar und unvergänglich und nicht als kontingent (auf Wahrnehmung begründet) erkannt wird. Eine kommunikative Verständigung über die Grundlagen des Lebens gilt ihr als blasphemisch und gefährlich. Zur Vermittlung der „wahren Lehre“ benötigt sie organisatorisches Handeln und prägt über die indoktrinierende Institution nicht nur das Weltbild der einzelnen Menschen, sondern auch deren Sprache in einer Weise, die die Verständigung mit Aussenstehenden erschwert.[10]

Ein dritter einflussreicher[11] verwendeter Ansatz unterscheidet Sekten und Kulte von Kirchen auf der Basis ihrer Ideologien. Kirchliche Ideologien stehen dabei nicht im Konflikt mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung, sondern affirmieren diese.[12] Sekten und Kulte weichen dagegen ideologisch deutlich von ihrer gesellschaftlichen Umgebung ab.[13] Zwischen Sekten und Kulten wird dabei auf der Basis des Entstehens der ihnen zugehörigen Ideologien unterschieden: Während Sekten, die aus bestehenden Religionsorganisationen hervorgehen, lange bestehende Glaubensbekenntnisse modifizieren, schaffen Kulte völlig neue Glaubenssysteme.[14]

Dabei definieren Bainbridge und Stark Religion als menschliche Organisation mit dem Ziel, auf übernatürlichen Annahmen basierende Kompensatoren für Deprivationen des Menschen bereitzustellen. Diese Bereitstellung erfolgt in drei Dimensionen:

  • weltliche Dimension: Vergabe irdischer Privilegien, vorherrschend in Kirchen
  • jenseitige Dimension: Spenden von Trost für Benachteiligte, vorherrschend in Sekten
  • universelle Dimension: Erfüllung tiefster Wünsche jedes Menschen unabhängig von seiner sozialen Situation.

H. Richard Niebuhr machte die Beobachtung, dass Sekten, entstanden als schismatische Bewegung von großen Kirchen, die Tendenz haben, ihrerseits Kirchen zu werden, womit sie aber viele Bedürfnisse ihrer Mitglieder nicht mehr erfüllen können, was zu erneuten Abspaltungen führt. Auf dieser Feststellung aufbauend, konstatieren sie ein Spannungsverhältnis zwischen Sekten und Gesellschaft, bei dem sich aber beide Pole ständig in Bewegung befinden, was zu einer gesellschaftlichen Etablierung vorher bewusst minoritärer Gruppen führen kann. Die Übergänge zwischen „Sekte“ und „Kirche“ sind in diesem Modell fließend. „Kulte“ haben im Unterschied zu „Sekten“ eigene religiöse Wurzeln. Bainbridge und Stark unterscheiden drei Arten von Kulten:

  • Publikumkulte ohne formale Organisation
  • Klientenkulte mit formaler Organisation, die partielle Bedürfnisse abdecken
  • Kultbewegungen mit formaler Organisation, die universale Bedürfnisse abdecken.

Die Gruppen werden nach Art der angebotenen Kompensatoren unterschieden: „Magische“ oder spezielle Kompensatoren versprechen die Manipulation der Umwelt für eigene Ziele, „religiöse“ oder allgemeine Kompensatoren bieten ein universales Welterklärungsmodell an. Diese Unterscheidung geht auf Emile Durkheim zurück. Magie floriert, wenn wissenschaftliche Mittel zu ihrer Überprüfung fehlen oder nicht akzeptiert werden. Sie kann aber keine Organisation aufrechterhalten. Auf Magie basierende Kulte können sich zu Kultbewegungen mit universalem Welterklärungsanspruch entwickeln, so ging Scientology z.B. aus einem psychotherapeutischen Selbsthilfesystem (Dianetik) hervor. Kultbewegungen provozieren, anders als unorganisierte Kulte, Widerspruch im gesellschaftlichen Umfeld.[15]

Definition nach Robert J. Lifton

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Der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton sieht in einer zu Beginn der 1980er Jahre verfassten Analyse fundamentalistische Kultgruppen (cults) als Ausdruck eines weltweiten Anwachsens von „Totalismus“ (der nicht mit politischem Totalitarismus gleichzusetzen ist). Kennzeichen „totalistischer“ cults sind:

  • ein charismatischer Führer, der in dem Maß zum Objekt der Verehrung wird, in dem die ursprünglich die Gruppe konstituierenden Prinzipien an Bedeutung verlieren
  • „Gedankenreform“ (persuasion), diese ist nicht mit Gehirnwäsche identisch
  • ökonomische, sexuelle oder andere Ausbeutung der Gruppenmitglieder durch den oder die Anführer

Zur Durchsetzung ihrer Ziele wenden cults dabei folgende Mittel an:

  • Milieukontrolle: Kontrolle aller Kommunikation in einer bestimmten Umgebung
  • Mystische Manipulation oder Geplante Spontaneität: Fasten, Chanten, Schlafentzug usw.
  • Forderung nach Reinheit: radikale Trennung zwischen Gut und Böse in der Umwelt und in sich selbst
  • Bekenntnis: Sünden, so wie sie von der Gruppe definiert werden, müssen entweder gegenüber einem persönlichen Beobachter oder öffentlich gegenüber der Gruppe bekannt werden
  • Geheiligtes Wissen (sacred science): Behauptung wissenschaftlicher Anerkennung
  • Veränderung der Sprache (loading the language): Heiligung bestimmter Worte
  • Doktrin vor Person (doctrine over person): die Dogmen der Gruppe haben Vorrang vor der persönlichen Erfahrung.
  • Leugnung der Existenzberechtigung Anderer (dispensing of existence): Wer die Wahrheit nicht erkannt hat, gilt als verworfen und hat in letzter Konsequenz keine Existenzberechtigung.

Den historischen Kontext für das Entstehen von cults sieht Lifton zunächst im Verlust traditioneller Strukturen und Glaubenssysteme; insbesondere von symbolischen Strukturen, die den Übergang von einer Lebensphase zur nächsten markieren, z.B. Jugend – Erwachsenheit. Durch die Drohung mit der nuklearen Vernichtung entsteht ein zusätzliches Bedürfnis nach Transzendenz. Die neuen cults sind gleichzeitig radikal und reaktionär: Radikal, weil sie die Werte der westlichen Mittelklasse infrage stellen, reaktionär, weil sie vormoderne Autoritätsstrukturen reaktivieren. Sie sind gleichzeitig ein Ergebnis des „proteischen Selbst“, das sich durch ein ständiges Experimentieren mit Lebensentwürfen definiert, und eine Flucht daraus. Die Perspektive auf cults sollte zwei Dinge berücksichtigen: die Gefahr von weltanschaulichem Fundamentalismus und die Notwendigkeit, bürgerliche Freiheiten zu sichern.[16]

Einzelnachweise

  1. Endbericht der Enquète-Kommission des Deutschen Bundestages "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", 1998
  2. Martin Kriele: „Sekte als ‚Kampfbegriff‘“ Frankfurter Allgemeine Zeitung 6. April 1994.
    Hansjörg Hemminger: „Was ist eine Sekte?“, Evangelische Landeskirche in Württemberg
  3. Massaker in Uganda, Tagesspiegel, 26. März 2000
  4. Former cult leader, self-proclaimed 'Black Messiah' seeks parole release, International Herald Tribune, October 6, 2006
  5. Cult leader who killed 5 sentenced to death, AP, 24. August 2006
  6. Sektenchef in den USA hingerichtet, Netzeitung, 25. Oktober 2006
  7. So long, Shoko, US News & World Report, September 19, 2006
  8. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. Juni 2002, Az: 1 BvR 670/91
  9. z.B. Weber, Max: (1916) „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Hinduismus und Buddhismus“, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41 (3): 613-744, S. 619.
  10. Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt 1988, cit. bei: Philipp Flammer, Die Auseinandersetzung um das Phänomen der „Sekten“, Lizenziatsarbeit am Soziologischen Institut der Universität Zürich 1994, Kap.5
  11. Stark, Rodney und William Sims Bainbridge 1979. "Of Churches, Sects, and Cults: Preliminary Concepts for a Theory of Religious Movements", Journal for the Scientific Study of Religion 18(2): 117-131, S. 123.
  12. Johnson, Benton. 1963. "On Church and Sect". American Sociological Review 28(4): 539-549, S. 542.
  13. Martin, Marty E. 1960. "Sects and Cults" Annals of the American Academy of Political and Social Science 332 125-134, S.126.
  14. Stark, Rodney (1986): “The Class Bases of Early Christianity: Inferences from a Sociological Model,” Sociological Analysis 47: 216-229, S. 217f.
  15. Stark, Rodney, Bainbridge, William Sims; The Future of Religion. Secularization, Revival and Cult Formation, Berkeley 1985; cit. bei Philipp Flammer, Kap.7
  16. Robert J. Lifton, Cult Formation, in: The Harvard Mental Health Letter, Jg. 7, H. 8, Februar 1981

Siehe auch

Literatur

Begriffsgeschichtliche Untersuchungen

Kirchlich

  • Hans Baer, Hans Gasper, Joachim Müller: Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen Orientierungen im religiösen Pluralismus. Freiburg 2005, ISBN 3-451-28256-9
  • Rüdiger Hauth: Neben den Kirchen. Bd. 12 der Reihe Bibel, Kirche, Gemeinde. Christliche Verlagsanstalt, 2002, ISBN 3767380129
  • Reinhart Hummel Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? Herausforderungen an Kirche und Gesellschaft. Darmstadt 1994, ISBN 3-534-11717-4

Nicht religiös

  • Robert Jay Lifton, Terror für die Unsterblichkeit: Erlösungssekten proben den Weltuntergang. Hanser, München, Wien 2000
  • Margaret Thaler Singer und Janja Lalich: Sekten. Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können. Heidelberg 1997
  • Hugo Stamm: Sekten. Im Bann von Sucht und Macht. Zürich 1995, ISBN 3-268-00170-X
  • Ken Wilber, Bruce Ecker und Dick Anthony: Meister, Gurus, Menschenfänger. Über die Integrität spiritueller Wege. Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-596-13825-6
  • Gerhard Besier/Erwin K. Scheuch (Hrsg.): Die neuen Inquisitoren, Religionsfreiheit und Glaubensneid, Band II, Edition Interfrom 1999, ISBN 3-7201-5278-2

Sozialwissenschaftlich

  • Benjamin Zablocki und Thomas Robbins: Misunderstanding Cults. Toronto 2001, ISBN 0-8020-8188-6 – fachübergreifende kontradiktorische Behandlung des Themenkomplexes (englisch)
  • Hartmut Zinser: Der Markt der Religionen. München 1997
  • Ulrich Müller und Anne Maria Leimkühler: Zwischen Allmacht und Ohnmacht. Untersuchungen zum Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild von neureligiösen Bewegungen. Regensburg 1993

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Synonyme:

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