Selbstexperiment

Selbstexperiment

Selbstversuch ist ein Fachbegriff, der meist in der Medizin benutzt wird. Man bezeichnet damit die Erprobung eines neuen medizinischen Verfahrens an sich selbst. Selbstversuche werden meist in Situationen unternommen, in denen kein anderer Weg möglich erscheint, eine neue medizinische Erkenntnis zu erhalten.

Seit dem Zeitalter der Aufklärung galten solche Selbstexperimente für einige Zeit vor allem in der Arzneimittelforschung sogar als unverzichtbar. Die Forscher, so lautete die ethische Forderung, sollten nicht andere Menschen Risiken aussetzen, die sie nicht zuvor sich selbst zumuten. So forderte im 18. Jahrhundert Anton Störck, Leibarzt von Kaiserin Maria Theresia, für die Forschung mit giftigen Pflanzen die strenge Abfolge von chemischer Bestimmung, Tierversuch und Selbstversuch des Wissenschaftlers, bis es zum klinischen Experiment an Patienten kommen dürfe. Selbstexperimente wurden in der Geschichte der Wissenschaft jedoch nicht nur deshalb unternommen, weil Forscher bemüht waren, in frühen Untersuchungsstadien Gefahren von anderen abzuwenden. Man präferierte Selbstversuche auch, weil die Selbsterfahrung einer Wirkung als ein notwendiger Bestandteil einer Experimentdurchführung angesehen wurde.

Teilweise waren Selbstversuche von großem Erfolg gekrönt, teilweise endeten sie auch in spektakulären Misserfolgen. Teilweise wurde zwar eine wichtige neue Erkenntnis gewonnen, aber auf Kosten der Gesundheit desjenigen, der den Selbstversuch an sich selbst durchführte.

Die Wirkung vieler hochwirksamer Drogen werden im Selbstversuch ausprobiert; durch mangelnde Kenntnis und erhöhte Risikobereitschaft ist der Anteil der 14-25-Jährigen an der Zahl der Vergiftungsopfer dabei überproportional hoch.

Im weiteren Sinne wird der Begriff Selbstversuch auch für jegliche Erprobung eines Verfahrens an sich selbst benutzt.

Selbstversuche sind vereinzelt auch Sujets von Filmen, wie beispielsweise Super Size Me (Dokumentarfilm von Morgan Spurlock über den wochenlangen Verzehr von extragroßen Fastfood-Portionen bei McDonald's) oder Die Fliege (Horrorfilm von David Cronenberg, in dem der Wissenschaftler Seth Brundle einen „Teleporter“ in einem Selbstversuch ausprobiert).

Inhaltsverzeichnis

Nachteile eines Selbstversuches

Allen die einen Selbstversuch planen, sei eher von diesem abgeraten, da es heute weniger gefährliche Wege gibt, das medizinische Wissen zu erweitern. Oft ist die Datenerhebung unvollständig, es mangelt an Kontrollen und an ausreichenden Fallzahlen. Die Teilnahme von jüngeren Kollegen eines Forschungsteams an einem Selbstversuch ist sehr kritisch zu beurteilen, da ihre Unerfahrenheit und erhöhte Risikobereitschaft unzulässig ausgenutzt wird.

Berühmte Selbstversuche

  • Der englische Chirurg John Hunter spritzte sich angeblich im Jahr 1767 den Eiter eines Gonorrhö Patienten an zwei Stellen in den eigenen Penis. Er entwickelte daraufhin zusätzlich eine Syphilis.
  • Der englische Arzt Edward Jenner hatte im Jahr 1794 bemerkt, dass Mädchen, die auf einem Bauernhof häufigen Kontakt mit Kuhmilch hatten und sich mit der harmloseren Krankheit der Kuhpocken infizierten, immun gegen die echten Pocken waren. Deswegen verabreichte er sich selbst und anderen Versuchspersonen Material, das er aus Kuhpockenwunden gewonnen hatte. Die Folge war auch hier eine Immunität gegenüber den echten Pocken.
  • Friedrich Sertürner isolierte 1804 als erster Morphin als wichtigste Wirksubstanz des Opiums. Mit drei anderen Jugendlichen nahm der Paderborner Apothekengehilfe eine Menge von je 1.5 Gran (1 Gran = 50-60 mg) Morphium zu sich (letale Dosis oral ca. 200 mg). Durch die Einnahme eines Brechmittels und das durch das Morphium selbst ausgelöste Erbrechen überstand er den Selbstversuch.
  • Im Allgemeinen Krankenhaus in Wien entdeckte der Arzt Ferdinand von Hebra (1816–1880) den Erreger der Krätze, die Krätzmilbe. In einem Selbstversuch bewies er die Krankheitsauslösung durch die Milbe.
  • Der Psychoanalytiker Sigmund Freud nahm eine Analyse des eigenen Seelenlebens vor; ebenfalls führte er mit Kokain Selbstversuche durch.
  • Der Physiker Johann Wilhelm Ritter setzte auf der Suche nach der „Weltformel“ seinen eigenen Körper unter Strom und galvanisierte seine Finger, später auch Zunge und Augapfel; diese Versuche ruinierten Ritter sowohl gesundheitlich als auch finanziell.
  • Der Militärarzt und Wissenschaftler John Paul Stapp führte aufgrund verschiedener medizinischer Fragestellungen, die bei der Einführung schneller Düsenflugzeuge und Weltraumforschung auftraten, risikoreiche Selbstversuche an sich durch. So erprobte er die Auswirkungen und Gegenmaßnahmen sehr niedrigen Luftdruckes bei Flügen in großen Höhen ohne Druckkabine. Weiterhin überprüfte er an sich, ob der menschliche Körper dem gewaltigen Windstoß bei Flügen nahe Schallgeschwindigkeit widerstehen kann und ließ sich deshalb einem Fahrtwind von 900 km/h aussetzen. Am berühmtesten aber wurden seine Versuche, bei denen der menschliche Körper gut gesichert extremen Beschleunigungskräften ausgesetzt wird. 1954 wurde er bei einem Versuch einer Verzögerungsspitze von mehr als 450 m/s² ausgesetzt; weiterhin erfuhr er während der darauffolgenden Sekunde eine Verzögerung von 250 m/s². Zum Vergleich: 10 m/s² entspricht einer Vollbremsung mit einem Auto, ein Jetpilot erfährt maximal 90-100 m/s². Neben den zu erwartenden Verletzungen wie Brüchen und Zerrungen konnte Stapp so aufklären, dass die Augen wegen Blutungen und Zerrungen am Sehnerv mit am stärksten belastet werden.
  • Werner Forßmann schob sich 1929 über eine Armvene den ersten Katheter ins rechte Herz, dokumentierte diese Tatsache mit einem Röntgenbild und erhielt 1956 den Nobelpreis für seine Tat.
  • Der australische Arzt Barry Marshall nahm im Jahr 1984 im Selbstversuch eine Bakterienkultur mit den Magenbakterien Helicobacter pylori zu sich. Er erkrankte bald darauf an einer Magenentzündung, die er mit Antibiotika wieder erfolgreich beseitigte. Barry Marshall und sein Forscherkollege Robin Warren erhielten 2005 den Nobelpreis für ihre Entdeckung der Magenbakterien.
  • Knollenblätterpilzvergiftung und Silibinin: Ein Genfer Arzt machte im Jahr 2000 einen Selbstversuch mit 70 Gramm Knollenblätterpilz, die er aß, um zu beweisen, dass man Vergiftungen mit der von ihm propagierten „Bastien-Methode“ mit vielen Vitaminen und vor allem Karotten überleben kann. Mehrere Tage kämpften Ärzte erfolgreich um sein Leben.
  • Max von Pettenkofer schluckte als 74-Jähriger 1892 eine Kultur von Cholerabakterien. Er erkrankte glücklicherweise nicht. Trotzdem erwies sich die Ansicht seines wissenschaftlichen Kontrahenten Robert Koch über die bakterielle Ursache dieser Erkrankung als richtig.
  • Der amerikanische Arzt und Epidemiologe Joseph Goldberger erforschte die Ursache der Pellagra in den Südstaaten der USA. Entgegen der am Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Meinung, dass sie eine Infektionskrankheit sei, vertrat er die Ansicht, dass sie auf einer Mangelernährung der Betroffenen beruhe. Um seine These zu untermauern, ließ er sich angeblich Blut von Pellagrakranken unter die Haut spritzen und schluckte Kapseln mit Haut, Urin und Stuhl von Pellagrakranken. Er erkrankte nicht. Er entdeckte, dass ein Mangel an Vitamin B die Krankheit auslöste und dass man mit Bierhefe sehr einfach diesen Mangel beheben konnte.
  • 1943 entdeckte Dr. Albert Hofmann in den Labors der Basler Firma Sandoz nach Experimenten mit Mutterkornpilz den Stoff LSD. Am 19. April 1943 führt er einen Selbstversuch mit LSD durch und beschreibt die Halluzinationen, die durch die Substanz ausgelöst werden. Siehe auch unten Zitate.
  • Der Medizinstudent Daniel Alcides Carrión wollte den Zusammenhang zwischen Oroya-Fieber und den so genannten peruanischen Warzen „verruga peruana“ (rötliche Hautknötchen) durch die Injektion von blutigem Warzensekret in einem Selbstversuch klären. Er erkrankte einige Wochen danach schwer und verstarb schließlich am Oroya-Fieber. Wie ihm erging es vielen tausende Arbeitern beim Bau der Eisenbahn von Lima nach Oroya. Mehr als 80% starben am Fieber und an schwerer Anämie. Die es überstanden hatten, entwickelten später peruanische Warzen. Alcides Carrión beschrieb die Krankheit, nachdem er von einem engen Freund auf seinen eigenen Wunsch mit der Krankheit infiziert wurde. Nachdem er an der Krankheit verstorben war, wurde sein Freund festgenommen und wegen Mordes angeklagt. (Siehe auch Alcides Carrión)
  • Der britische Biologe David Pritchard hat sich selbst mit Hakenwürmern infiziert. Er wollte so herausfinden, ob Menschen, in deren Darm Hakenwürmer vorhanden sind, seltener an Allergien leiden. Es hat vor allem unglaublich gejuckt, als die Würmer durch meine Haut drangen.

Zitate

  • Beschreibung des Selbstversuches von Albert Hofmann mit LSD. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich bei der Menge um das Fünffache der normal wirksamen Dosis von LSD handelte.
16:20 Einnahme der Substanz
17:00 Beginnender Schwindel, Angstgefühl, Sehstörungen, Lähmungen, Lachreiz.
Mit Velo nach Hause. Von 18 bis etwa 20 Uhr schwerste Krise, siehe Spezialbericht:
Die letzten Worte konnte ich nur mit großer Mühe niederschreiben. [...] die Veränderungen und Empfindungen waren von der gleichen Art [wie gestern] nur viel tiefgreifender. Ich konnte nur noch mit größter Anstrengung verständlich sprechen, und bat meine Laborantin, die über den Selbstversuch informiert war, mich nach Hause zu begleiten. Schon auf dem Heimweg mit dem Fahrrad [...] nahm mein Zustand bedrohliche Formen an. Alles in meinem Gesichtsfeld schwankte und war verzerrt wie in einem gekrümmten Spiegel. Auch hatte ich das Gefühl mit dem Fahrrad nicht vom Fleck zu kommen. Indessen sagte mir später meine Assistentin, wir seien sehr schnell gefahren. [Zu Hause angelangt] wurden Schwindel und Ohnmachtsgefühl zeitweise so stark, daß ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte und mich auf ein Sofa hinlegen mußte. Meine Umgebung hatte sich nun in beängstigender Weise verwandelt. [...] die vertrauten Gegenstände nahmen groteske meist bedrohliche Formen an. Sie waren in dauernder Bewegung, wie belebt, wie von innerer Unruhe erfüllt. Die Nachbarsfrau [...] war nicht mehr Frau R. sondern eine bösartige heimtückische Hexe mit einer farbigen Fratze. etc. etc.

Später beim Ausklang des Rausches:

Jetzt begann ich allmählich, das unerhörte Farben- und Formenspiel zu genießen, das hinter meinen geschlossenen Augen andauerte. Kaleidoskopartig sich verändernd drangen bunte phantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schließend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluß. Besonders merkwürdig war, wie alle akustischen Wahrnehmungen, etwa das Geräusch einer Türklinke oder eines vorbeifahrenden Autos, sich in optische Empfindungen verwandelten. Jeder Laut erzeugte ein in Form und Farbe entsprechendes, lebendig wechselndes Bild.

Siehe auch

medizinische Wirksamkeit - Selbstmedikation - Selbsthilfe - Therapieversuch - Tierversuch - Experiment

Literatur

  • Werner Forßmann: Selbstversuch : Erinnerungen eines Chirurgen. Hüthig Verlag 2002. ISBN 360916056X
  • Seth Roberts & Allen Neuringer: Self-Experimentation, In: Handbook of Research Methods in Human Operant Behavior von Kennon A. Lattal & M. Perone (Eds.), (Seite 619-655). New York: Plenum Press.
  • Ein ausführlicher englischer Online-Artikel über einfache Selbstversuche: http://www.public.iastate.edu/~chance99/142.roberts.pdf
  • John Hunters Originalarbeit über die Geschlechtskrankheiten:
  • Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch. Suhrkamp-Verlag 2002 (edition suhrkamp 2311) ISBN 3518123114
  • Christa Wolf: Selbstversuch. Traktat zu einem Protokoll (1973) (Sie berichtet darin über einen Geschlechtswechsel als Selbstversuch. Quelle: Sinn und Form 25 (1973) 2, 301-323)

Weblinks


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