Sprachgeografie

Sprachgeografie

Die Dialektgeographie (fälschlich auch Areallinguistik) ist ein Teilgebiet der Dialektologie, das sich mit der geographischen Ausdehnung und Verbreitung der Dialekte beschäftigt. Die Ergebnisse werden in Form von Sprachatlanten publiziert, in denen das dialektale Profil einer Anzahl von Erhebungsorten dargestellt ist. Die deutsche Forschungsrichtung etablierte sich, nachdem Ferdinand Wrede (1863–1934) am Deutschen Sprachatlas (DSA) arbeitete und sich vor allem auf die Ausarbeitung von Dialektkarten zur Veranschaulichung der Ausdehnung und Begrenzung der Dialekte spezialisierte. 1908 gab Wrede die Reihe „Deutsche Dialektgeographie“ heraus.

Die Dialektgeographie entwickelte sich aus der seit etwa 1880 entstandenen Sprachgeographie. Die Sprachgeographie untersuchte systematisch und nach Landkarten orientiert die örtliche Verbreitung von sprachlichen Einzelmerkmalen. Dazu zählen die Verwendung bestimmter Wörter, Laute und Wortendungen. Im Vorfeld der Feldstudien entwickelten die Linguisten spezielle Fragebögen, die sie den Dialektsprechern zur Beantwortung vorlegten. Die „idealen Dialektsprecher“ waren für alle europäischen Auswertungen ältere, im jeweiligen Dorf geborene und aufgewachsene Personen, die möglichst zurückgezogen lebten und damit kaum Kontakt zur Welt außerhalb des Ortes hatten.

Ursprünglich diente die Dialektkartographie zur Veranschaulichung der Forschungsergebnisse. Die ermittelten Ergebnisse wurden kartiert, die Karten zu Sprachatlanten zusammengefasst. Die Linien im Sprachatlas markieren dabei die Grenze zwischen zwei Ausprägungen eines sprachlichen Merkmals (Isoglosse). Auf der anderen Seite gab es erhebliche Unterschiede bezüglich der veröffentlichten Strukturen, die auf der differierenden Datenerhebung beruhten: Der Deutsche Sprachatlas enthält Daten, die von 1876 bis 1939 erhoben wurden. Die lediglich in Auszügen zwischen 1926 und 1956 auf 129 Karten veröffentlichten Daten beinhalten etwa 50.000 Messpunkte. Der zwischen 1902 und 1910 von Jules Gilliéron publizierte Atlas linguistique de la France (ALF) bezieht sich auf den Zeitraum zwischen 1897 und 1901 und zeigt die Ausdehnung der Dialekte anhand von 638 Messpunkten auf 1421 Karten.

So hatte der französische Atlas relativ wenige Messpunkte (Dörfer), dafür jedoch einen umfangreichen Fragenkatalog, und erschien in dicken Folianten, die je Frage eine Einzelkarte boten, auf der die Fragen in phonetischer Notation abgebildet war. Der deutsche Atlas wiederum basierte auf einer sehr großen Messpunktdichte und einem relativ knapp gehaltenen Fragebogen. Deshalb erschienen die Werke als symbolisch kodierte Einzelkarten zum Auseinanderfalten. Kernpunkt von Wredes Arbeiten war zum einen die Veranschaulichung zeitgenössischer Dialektverhältnisse, zum anderen die Darstellung der historischen und synchronen Veränderungen der Dialekte. So ergänzte den als lautgeographisch bezeichneten Deutschen Sprachatlas bald ein als wortgeographisch spezifizierter Deutscher Wortatlas, um dialektbezogene Raumbildungen näher zu bestimmen. Den ersten Sprachatlas eines englischsprachigen Raums veröffentlichte Hans Kurath (für Neuengland).

Sowohl ALF als auch DSA waren Meilensteine, da beide Werke bahnbrechende Erkenntnisse bezüglich Geschichte und Strukturen der betreffenden Sprachräume ermöglichten. Natürlich konnten die Atlanten lediglich einen kleinen Ausschnitt des umfangreichen zusammengetragenen Datenmaterials veranschaulichen, waren sie doch eingebunden in eine zweidimensionale Matrix (Zahl der Messpunkte × einzelne Karten). Erschwerend kam hinzu, dass die Karten nicht als Einheit, sondern stets isoliert voneinander ausgewertet werden konnten. Da die Dialektgeographie lediglich die räumliche Verbreitung der Dialekte erforschte, berücksichtigte sie nicht dialektbezogene Vorkommnisse wie Diastratie (Auswertung nach sozialer Schichtzugehörigkeit), Diaphasie (Bezüglich der Zeit z. B. unter Generationen) oder Diatopie (Vergleich einzelner Regionen untereinander). Bezüglich der Auswertung und Visualisierung diatopischer Merkmale leistet seit den 1970er Jahren die Dialektometrie Schützenhilfe: Neue computergestützte Verfahren erlaubten es, die nötige Matrix (Atlanten × Messpunkte) aufzubauen und zum Beispiel mittels numerischer Taxonomie, Taxometrie, automatischer Klassifikation als Einheit auszuwerten und mittels moderner Bildgebungsverfahren als kumulative Funktionsgraphen zu veranschaulichen.

Die den speziellen kognitiven Bedürfnissen der Linguisten entsprechende heuristische Verarbeitung und Präsentation der mittels Dialektometrie errechneten Ergebnisse stellt die EDV-gestützte Kartographie nach wie vor vor besondere Herausforderungen. Die Linguistik ist bis heute noch nicht fertig mit der Auswertung der auf diesem Wege gewonnenen und noch zu erwartenden Einsichten sowohl in der Dialektgeographie, wie auch in der Bezeichnungslehre (Onomasiologie), welche wiederum die Daten analysiert. Dazu kommt, dass die Dialektometrie eine interdisziplinäre Gelenkfunktion innehat und Populationsgenetik, Humangeographie, Ethnographie, Verkehrsgeographie, historische Geographie und Anthropologie mit umfangreichem Datenmaterial mitversorgt.

Siehe auch

Weblinks

Quellen

  • J. Goossens: Dialektologie. 1977.
  • H. Löffler: Dialektologie. 1980, S. 27–33.
  • Joachim Herrgen, Alexandra Lenz: Digitale Dialektologie. Online-Publikation des Wenker-Atlasses im Internet. In: Marburger Uni-Journal. Nr. 14. Januar 2003, S. 43–48.
  • Walter Killy, Rudolf Vierhaus: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 10, 1999: 436.
  • Ulrich Knoop: Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie. In: Werner Besch: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 1., 1982, S. 38–92.
  • Yves Le Berre, Jean Le Dû, Guylaine Brun-Trigaud: Lectures de l'Atlas linguistique de la France de Giliéron et Edmont: Du temps dans l'espace.
  • Helmut Glück (Hrsg): Metzler-Lexikon Sprache. 2000.

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