Stephan Széchenyi

Stephan Széchenyi
„Portrait von Graf István Széchenyi“ von Friedrich von Amerling
Graf István Széchenyi, Lithografie von Franz Eybl, 1842

Gróf István Széchenyi [ˈiʃtvaːn ˈseːʧeːɲi] (dt. auch Graf Stephan Széchenyi; * 21. September 1791 in Wien; † 8. April 1860 in Döbling) war ein ungarischer Staatsreformer und Unternehmer. Beeinflusst durch Jeremy Bentham und Adam Smith stellte er sich ab 1825 vollkommen in den Dienst seiner Nation, um deren wirtschaftliche Zurückgebliebenheit gegenüber dem Westen zu beenden und ihre Lage zu verbessern. Dieses Engagement brachte ihm seitens seines Konkurrenten und zeitweiligen Widersachers Lajos Kossuth den bis heute verwendeten Ehrentitel „Größter Ungar“ ein.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Széchenyi wurde in eine reiche ungarische Aristokratenfamilie in Wien geboren. Sein aufklärerisch gesinnter Vater Ferenc Széchényi schenkte 1802 seine eigenen Sammlungen der ungarischen Nation und gründete damit das Ungarische Nationalmuseum und die Nationalbibliothek. Seine Mutter Julianna Festetics war die Schwester von György Festetics, der sich für die Förderung der ungarischen Literatur einsetzte und 1797 Keszthely am Plattensee die erste Agrarhochschule Ungarns, das Georgikon gründete.

Als Kind war István Széchenyi eher ein Spätentwickler, er konnte mit 12 Jahren noch kaum lesen, beherrschte aber später sechs Sprachen. Als junger Mann begann Széchenyi eine Karriere beim Militär. Er kämpfte in Kriegen gegen Napoleon, unter anderem in der Völkerschlacht bei Leipzig, und zeichnete sich als Rittmeister aus. Als ihm jedoch der Majorstitel verwehrt blieb, wandte er sich seiner neuen Lebensaufgabe zu: der Erneuerung seiner Nation. 1814 begann der junge Hocharistokrat eine umfassende Reisetätigkeit. Die beiden Pole dieser Reisen waren England, das damals industriell am weitesten entwickelte Land Europas, und die Türkei. Széchenyi empfand die britischen Institutionen - von Pferderennen bis zur Industriewirtschaft - als vorbildhaft. Er wurde in der ersten Hälfte des „Reformzeitalters“ als gradualistischer Reformer die Leitfigur der liberalen Bewegung Ungarns. In der zweiten Hälfte verlor er seine führende Position an den Radikalen Lajos Kossuth, der Ungarn schlussendlich in die Revolution von 1848/49 führte. Der feinnervige Graf Széchenyi verstrickte sich 1824 in eine romantische Liebesgeschichte mit der im Ofener Burgviertel residierenden Gräfin Seilern (verheiratete Zichy), die er 1836, nach dem Tod ihres Ehegatten, auch ehelichte. (Der ungarische Literat Ferenc Herczeg schrieb darüber sein Theaterstück A Hid, ‚Die Brücke‘, in dem er, etwas verkürzt, Széchenyis Engagement für eine feste Brückenverbindung zwischen Ofen und Pest auf diese große Liebe zurückführte.) Széchenyi war zweifellos eine romantische Gestalt und neigte zu Depressionen; er war allerdings auch ein rationaler politischer Analytiker, der durchaus hellsichtig jahrelang davor warnte, Kossuth werde das Land mit seinem Ungestüm in eine Katastrophe führen. In der Revolutionszeit brach Széchenyi seelisch zusammen. Die letzten elf Jahre seines Lebens verbrachte er in einer Nervenheilanstalt in Döbling bei Wien. Dem Griff der Behörden, die ihm nach einem scharf formulierten anonymen Pamphlet („Blick“) die Überführung in eine öffentliche Irrenanstalt androhten, entzog er sich durch Selbstmord.

Werke

Kritik am Feudalsystem

Széchenyis Werk Hitel (‚Kredit‘), das im Jahr 1830 erschien und einen für diese Zeit ungewohnt starken Anklang fand, erörterte die Gründe für die wirtschaftliche Zurückgebliebenheit Ungarns. Er kritisierte darin die Zollpolitik Österreichs, den Kreditmangel und die Aufrechthaltung der Adelsprivilegien zu Lasten des Volkes. Die Unveräußerlichkeit adeligen Grundbesitzes mache den Hypothekarkredit auf solches Land unmöglich, und der daraus resultierende Kreditmangel lasse eine Industrialisierung nicht zu. Dies sei eine Folge des Feudalsystems sowie eines alten Verfassungsgesetzes namens „Avitizität“. Széchenyis Wirken galt der Schaffung neuer öffentlich-rechtlicher Rahmenbedingungen für die Erstarkung der Wirtschaft. In seinen Büchern Világ (‚Licht‘) und Stadium stellte er ein konkretes Reformprogramm zusammen, welches auf eine strengere Gesetzesumsetzung und die Abschaffung der Steuerfreiheit von Adligen abzielte. Im Wiener Exil verfasste Széchenyi schließlich 1858 als Antwort auf den in London anonym erschienen „Rückblick“ des mächtigen Innenministers Alexander von Bach auf die ungarische Revolution von 1848 bis 49 einen „Blick“ auf besagten Rückblick, der ebenfalls anonym erschien. In ihm rechnete Széchenyi mit dem Scheitern des Bach'schen Versuchs einer Zerschlagung Ungarns im Neoabsolutismus ab. Das scharf formulierte Werk enthielt allerdings Passagen, die als Majestätsbeleidigung interpretierbar waren. Eine wichtige historische und biografische Quelle stellen schließlich Széchenyis (hauptsächlich auf Deutsch verfasste) Tagebücher dar.

Förderung der Wirtschaft

Széchenyi besaß nie politische Macht, mit Ausnahme des Amtes eines Verkehrsministers in der kurzen Regierungphase unter Ministerpräsident Lajos Batthyány 1848. Als Privatunternehmer und Mitglied des Pressburger Landtags initiierte er aber viele Projekte für die Verbesserung der Transportwege und die Verschönerung der Stadt Budapest, damit sie der gesellschaftliche Mittelpunkt Ungarns würde. Er initiierte die erste feste Brücke zwischen Buda und Pest, die Kettenbrücke, die mittels einer Aktiengesellschaft errichtet werden sollte. Die Tatsache, dass das Brückengesetz aus 1835 alle Passanten, auch die Adligen, verpflichtete, den Brückenzoll zu zahlen, wirkte als egalitäres Signal. Weiter förderte Széchenyi die Dampfschifffahrt, leitete die Arbeiten zur Donau- und Theissregulierung, errichtete in Pest ein Kasino, wo sich Intellektuelle trafen, um Meinungen auszutauschen (erster Küchenchef Franz Sacher, Vater von Eduard Sacher = Gründer des Hotel Sacher, Wien), initiierte die Gründung des Nationaltheaters und bot für die Gründung der Akademie der Wissenschaften sein Jahreseinkommen an.

Im Andenken an seine Leistungen für das ungarische Transportwesen wurde nach ihm die Széchenyi-Museumsbahn benannt, die das Anwesen der Adelsfamilie Széchenyi in Nagycenk mit der nächsten normalspurigen Eisenbahnlinie verbindet. (Heute ist auf Schloss Nagycenk ein Széchenyi-Museum eingerichtet.)

István Széchenyi (Ungarische Banknote, 5000 Forint, 1999)

In der Mitte

Kossuth

Lajos Kossuth war ein Revolutionär, mit dem Széchenyi in den vierziger Jahren in Konflikt geriet und in der Presse eine großangelegte politische Debatte führte. Die Debatte betraf hauptsächlich Fragen über die Eigenständigkeit Ungarns in der Gesamtmonarchie und über die Magyarisierung ethnischer Minderheiten. Széchenyi warnte seine Landsleute vor den Folgen einer Abtrennung von Österreich und vor denen des Sprachnationalismus. Angesichts der Katastrophen im 20. Jahrhundert, die ganz Osteuropa voll erfasst haben, erwies er mit dieser Position einen bemerkenswerten Weitblick.

Metternich

Széchenyi versuchte immer wieder, die Wiener Regierung für seine Pläne zu gewinnen. In Erzherzog Joseph, dem habsburgischen Palatin (Reichsverweser) Ungarns, hatte er lange Zeit einen wohlwollenden Förderer. Der maßgebende Staatsmann der Zeit, Fürst Metternich, hingegen hielt den Grafen für einen rebellischen Geist, der es auf die Aufspaltung des Kaiserreichs abgesehen habe. Der Staatskanzler deutete die Zeichen der Epoche richtig, aber er irrte sich in der Beurteilung der Persönlichkeit. Széchenyi war für ein erstarkendes ungarisches Nationalgefühl zu vorsichtig und zu regierungstreu.

Literatur

Andreas Oplatka: Graf Stephan Széchenyi, Zsolnay Verlag, Wien 2004

Weblinks


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