Synkretismus (Linguistik)

Synkretismus (Linguistik)

Synkretismus ist das Zusammenfallen von Beugungsformen, im Deutschen beispielsweise dieselbe Endung bei verschiedenen Kasus. Synkretismen kommen vor allem in der indogermanischen Sprachfamilie vor.

Morphologisch ausgedrückt sind Synkretismen Marker mit identischer Form, die unterschiedliche Werte eines Merkmales ausdrücken. Man unterscheidet zwischen innerparadigmatischen und transparadigmatischen Synkretismen,[1] wobei innerparadigmatische Synkretismen innerhalb eines Flexionsaffix auftreten, während transparadigmatische Synkretismen in verschiedenen Paradigmen auftreten, wie z. B. das deutsche Suffix -en einerseits bei flektierten Adjektiven (vergleiche folgendes Beispiel), andererseits bei infiniten Verbformen wie „geh-en“. Im Folgenden beschränken wir uns auf innerparadigmatische Synkretismen.

Inhaltsverzeichnis

Beispiele

Schwache Adjektivflexion im Deutschen

Dieses Paradigma tritt auf, wenn das Adjektiv nach dem bestimmten Artikel steht, z. B. der gut-e Wein, des gut-en Weines, der gut-en Frauen usw.

Mask, Sgl Neut, Sgl Fem, Sgl Plural
Nominativ -e -e -e -en
Akkusativ -en -e -e -en
Genitiv -en -en -en -en
Dativ -en -en -en -en

Dieses Paradigma hat also zwei Synkretismen: -e und -en.

Schwache Nominalflexion des Isländischen

Mask, Sgl
penn
„Feder“
Neut, Sgl
aug
„Aug2“
Fem, Sgl
húf
„Hut“
Nom Sgl penn-i aug-a húf-a
Akk Sgl penn-a aug-a húf-u
Gen Sgl penn-a aug-a húf-u
Dat Sgl penn-a aug-a húf-u
Nom Pl penn-ar aug-u húf-ur
Akk Pl penn-a aug-u húf-ur
Gen Pl penn-a aug-n-a húf-a
Dat Pl penn-um aug-um húf-um

In diesem Paradigma[2] tauchen sechs Synkretismen auf: –i, –a, –u, –ar, –ur, –um (wobei das –n– im [Gen Pl Neut] von aug- hier wortspezifisch ist).

Anwendung

In der Linguistik geht man davon aus, dass bestimmte Synkretismen kein Zufall sind, dem entsprechend wurde das so genannte Synkretismusprinzip[3] formuliert:

„Identität der Form impliziert Identität der Funktion“

das heißt, dass zwei Morpheme innerhalb eines Paradigmas mit übereinstimmender Form (sie sind also Synkretismen) auch ähnliche Merkmale kodieren (können – das Synkretismusprinzip ist kein fundamentales Prinzip der Linguistik, sondern vielmehr Grundlage für eine Möglichkeit der Analyse von Synkretismen).

Um beispielsweise die schwache Adjektivflexion im Deutschen zu beschreiben, macht man vom Synkretismusprinzip Gebrauch: Die Tabelle oben zeigt, dass die Endung -e in allen Nominativ-Singular-Genera und im Neutrum/Femininum des Akkusativ-Singular vorkommt, in allen übrigen Fällen ist das Flexionsaffix -en. Geht man nun davon aus, dass Merkmale wie Genus, Numerus und Kasus weiter abstrahiert werden können:

Femininum [+fem −mask]
Maskulinum [−fem +mask]
Neutrum [−fem −mask]
Singular [+sgl]
Plural [−sgl]
Nominativ [−a −b]
Akkusativ [+a −b]
Genitiv [−a +b]
Dativ [+a +b]

wobei ±sgl, ±mask, ±fem, ±a und ±b abstrakte Subkategorien (sog. „disktinktive Merkmale“) der kodierten Merkmale der Adjektivflexion sind. Den Vorgang, Merkmale in Subkategorien zu unterteilen, nennt man Dekomposition. Anm.: Die Bedeutung der Subkategorien ±a und ±b ist dabei erst einmal unerheblich.

Mittels dieser Annahmen lässt sich nun mit relativ wenig Aufwand die exakte Verteilung der Synkretismen dieses Paradigmas zuordnen:

–en2 [+mask, +a, −b]
–e [+sgl, −b]
–en1 []

Dass die Suffixe hier nur 3, 2 bzw. keine Merkmale tragen, nennt man Unterspezifikation, das heißt, es sind nur die Merkmale markiert, die maximal nötig sind, um ein Suffix eindeutig zu identifizieren. Trägt nun ein Adjektivstamm, z. B. schön- die Merkmale [plural, fem, genitiv], werden diese zunächst dekomponiert ([−sgl, −mask −fem, −a +b]) und anschließend mit den möglichen zur Verfügung stehenden Endungen abgeglichen, es wird also das Affix ausgewählt, dessen Merkmalsmenge eine Teilmenge der Merkmalsmenge des Stammes sind („Teilmengenprinzip“). In diesem Falle trifft keine der spezifischen Endungen -en2 bzw. -e zu, deshalb wird der sogenannte „Defaultmarker“, das wäre der, für den keine spezifischen Merkmale kodiert sind, in diesem Falle -en1, zugeordnet. Sollte nun ein Affix auf zwei Endungen „passen“ (z. B. ein Stamm mit den Merkmalen [akk, sgl, mask] bzw. [+sgl, +a −b, +mask -fem], wobei sowohl die Merkmale von -e als auch von -en2 Teilmenge der Merkmale des Stammes sind), wird der spezifischere gewählt. Spezifischer ist dann derjenige Marker, welcher mehr Merkmale kodiert hat als alle anderen in Betracht kommenden Marker, in diesem Falle -en2.

Die aktuelle Forschung auf dem Gebiet der Distribuierten Morphologie versucht Wege aufzufinden, die mit maximal so vielen Regeln auskommt, wie es Synkretismen innerhalb eines Paradigmas gibt.

Ziel

Ziel des Ganzen ist es, mit möglichst wenig kodierten Merkmalen ein Paradigma so exakt wie möglich zu beschreiben. Mit dieser Analyse ist es möglich, die im mentalen Lexikon gespeicherten Informationen auf ein Minimum zu reduzieren, was einen optimalen Zugriff auf im Kopf gespeicherte Informationen ermöglicht.

Siehe auch

Literatur

  • Manfred Bierwisch: Syntactic Features in Morphology: General Problems of So-Called Pronominal Inflection in German. In: To Honour Roman Jakobson. Mouton, The Hague / Paris 1967, pp. 239–270. (englisch)
  • Fabian Heck: Einführung in die Morphologie – Flexion (PDF) Vorlesungsskript 2007, pp. 46–89

Einzelnachweise

  1. Artemis Alexiadou, Gereon Müller: Class Features as Probes. Manuskript, Universität Stuttgart, IDS Mannheim 2004.
  2. Gereon Müller: Syncretism and Iconicity in Icelandic Noun Declensions: A Distributed Morphology Approach. (PDF; 39pp.) Erscheint in Yearbook of Morphology, 2004
  3. Gereon Müller: A Distributed Morphology Approach to Syncretism in Russian Noun Inflection. In: Proceedings of FASL 12. Michigan Slavic Publications, 2004, pp. 353–373.

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