Tijani

Tijani

Tidschani (arabischالطريقة التجانية‎, DMG al-Ṭarīqa al-Tiǧānīya, auch Tidschaniyya oder wie im Englischen Tijaniyya; türkisch: Ticaniye) ist ein Sufi-Orden (Tariqa) innerhalb des sunnitischen Islam. Die Verbreitungsgebiete verschiedener Zweige des Ordens sind Westafrika und Nordostafrika, weitere Anhänger gibt es im Nahen Osten, einige in Indonesien.

Der Orden wurde in den 1780er Jahren von Ahmad at-Tidschani (1737–1815, geboren in Ain Madhi nahe der Stadt Laghouat in Algerien) in der marokkanischen Stadt Fès gegründet und wurde zum wichtigsten Zweig der Khalwatiyya-Tariqa. Sein Lehrer Muhammad ibn Hamwi al-Tidschani (genannt: Abu 'Abdallah) unterrichtete ihn gemäß der malikitischen Rechtsschule. Tidschani erhielt seine Legitimation nicht wie üblich durch Einweisung in die Prophetenabstammung (Silsila), sondern behauptete, es wäre direkt eine Vision vom Propheten zu ihm gekommen, die seine frühere Initiation in den Khalwatiyya-Orden ungültig machen würde.

Inhaltsverzeichnis

Verbreitung

Zunächst dehnte sich der Tidschani-Orden um 1800 in der westlichen Sahara nach Süden aus. Der einflussreichste Verbreiter war al-Hajj Umar ibn Sa'id Tall(1796–1864), der in Senegal aktiv war und sein Ansehen während seines Aufenthalts in Mekka erlangt hatte. Während seiner etappenweisen Rückkehr von Mekka hielt er sich acht Jahre in Sokoto auf, wo er ein gutes Verhältnis zu Mohammed Bello, dem Nachfolger Usman dan Fodios unterhielt und dessen Tochter heiratete.

Die Bruderschaft geriet in Mauretanien und am Niger in Konflikt mit der einflussreichen Qadiriyya, vor allem mit den Ulama (Korangelehrten) aus dem Clan der al-Baqqai in Timbuktu, die als oberste Autoritäten in theologischen und juristischen Fragen beim Maurenvolk der Kunta galten. Bis zur Eroberung des heutigen Mali durch die Franzosen gab es Streit um theologische Fragen und die Auslegung von Koranvorschriften für das tägliche Leben betreffend. Nach seiner Rückkehr nach Westafrika organisierte Umar ibn Sa'id Tall von 1851 bis zu seinem Tod einen Dschihad gegen die seiner Meinung nach „heidnischen“ Muslims im Gebiet zwischen den heutigen Staaten Mali, Senegal und Guinea und gegen die französischen Kolonialtruppen. 1855 eroberten seine Streitkräfte das Bambara-Reich von Segu, zogen weiter nach Osten und besiegten 1862 das vom gegnerischen (der „Apostasie“ bezichtigten) Qadiriya-Orden geprägte Fulbe-Reich von Masina. Nach anfänglichem Erfolg und hohen Verlusten auf beiden Seiten wurde Umar bei einer Revolte 1864 umgebracht. Die Unfähigkeit, in den eroberten Gebieten eine funktionierende Ordnung herzustellen und die auch nach seinem Tod fortgeführten kriegerischen Auseinandersetzungen haben zu einer schlechten Beurteilung seiner puritanischen Bewegung beigetragen.[1]

Umar ist von den Anhängern des Ordens als führender Intellektueller anerkannt, sein Hauptwerk Kitāb al-Rimāh ist ebenso verbreitet wie das Jawāhiral al-ma'ānī des Gründers al-Tijani. Umar gilt als zweitwichtigster Sheikh der Tariqa nach dem Gründer Tidschani. Seine Ablehnung der anderen Sufi-Orden wird in der Redewendung deutlich, die zum Sprichwort wurde: „Qadiriyya und Tijaniyya sind wie Eisen und Gold.“

Auch im Norden Nigerias standen diese beiden Bruderschaften in religiösem Wettbewerb zueinander. Gegen den älteren, zunehmend als elitär wahrgenommenen Qadiriyya-Orden der dominierenden Fulbe-Schicht breitete sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Tijaniyya der alteingesessenen Hausa aus. Während der Kolonialzeit wurde Kano zu einem Zentrum der Bruderschaft, danach hatten ihre Anhänger die der Qadiriyya zahlenmäßig überrundet. Beide waren vor allem in den Städten von Bedeutung. Das Verhältnis zwischen der gemäßigten Qadiriyya und der radikaleren Tijaniyya war häufig gespannt. Ihr Einfluss ging zurück, als in den 1950er Jahren eine nationalistische Bewegung in Nordnigeria die Heiligenverehrung für illegitim erklärte und begann, gegen beide Sufi-Bruderschaften zu Felde zu ziehen. Vertreter dieses orthodoxen Sunni-Islam waren Saad Zungur und Abubakar Gumi (1924–1992).[2] Gumi gründete 1978 die wahhabitische Organisation Yan Izala, deren Stoßrichtung weniger gegen den Staat, vielmehr gegen den ketzerischen Islam der Sufis gerichtet war.

Die beiden einflussreichsten Orden Westafrikas verfügen in den einzelnen Ländern über unterschiedlichen Mehrheiten. So sind in Senegal von etwa 90 Prozent Muslims 50 Prozent Anhänger der Tidschani, in Benin und Ghana sind Tijaniyya und Qadiriyya etwa gleich stark vertreten, ebenso in Niger, das einen Bevölkerungsanteil von 85 Prozent Muslims hat. In Benin ist die ältere Qadiriyya fast nur in Porto Novo an der Küste vertreten, im übrigen Land überwiegt, einem generellen Trend in Westafrika folgend, seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Tijaniyya.[3]

Von Nordnigeria breitete sich in den 1980er Jahren die Yan-Izala-Bewegung in den Niger aus und begann, mit gutem finanziellem Hintergrund versehen, Moscheen zu bauen und in den Städten gegen die Tijaniyya zu missionieren. Das Aufeinandertreffen beider Gruppen geschah teilweise gewalttätig. Um den Wettkampf für die Modernisierung des Islam nicht zur Spaltung der Gesellschaft führen zu lassen, gründete die Regierung 2003 das beratende National Islamic Council (NIC), das von Tijani-Führern als Alternative gegen die Schaffung eines islamischen Staates unterstützt wird. Die Tijaniyya etablierte sich dadurch in Niger in einer politischen Rolle.[4]

In Mali, wo sich 75 Prozent zum Islam bekennen, sowie in Kamerun und Togo (12 Prozent Muslims) überwiegen Tidschani. In Tunesien sind Tidschani und Schadhiliyya gleichermaßen vertreten. Stärkster Sufi-Orden in Nordostafrika sind die Qadiriyya, es folgen Tijaniya (die besonders in Südwest-Äthiopien vertreten sind) und Khatmiyya (besonders in Sudan).[5] Über die Türkei gelangte im 19. Jahrhundert ein kleiner Zweig der Tijaniyya im Schatten des mächtigen Bektaschi-Derwischordens bis nach Albanien.[6]

In Senegal entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende islamische Reformbewegung, deren Führer Sheikh Abdoulaye Touré (* 1925) aus einer Gelehrtenfamilie des Tidschani-Ordens stammte. In Constantine machte er sich die Vorstellungen der Salafiyya zu eigen, die er nach seiner Rückkehr in Senegal verbreitete. Seine Ziele waren, im Rahmen einer muslimischen Bürgerrechtsbewegung verbesserte Bildungsmöglichkeiten zu erreichen, und anscheinend unislamische Glaubenspraktiken aus dem religiösen Alltag zu verbannen.

Die Tiyaniyya kam in den 1930er Jahren zu den bereits vorhandenen Sufi-Orden auch nach Indonesien, wo sich seither der Orden von der Nordküste Javas aus verbreitet. Die in Indonesien verehrten „Neun heiligen Walis(Wali Songo) sind Sheikhs verschiedener Sufi-Orden.[7]

Glaubenslehren

Die Tidschani-Tariqa schreibt ihren Anhängern weniger anstrengende Übungen als die meisten anderen Orden vor.[8] Im Gegensatz zu anderen Bruderschaften sollen die Anhänger der Tijaniyya kein asketisches Leben führen, sondern werden sogar dazu aufgefordert, Wohlstand nicht abzulehnen. Zahlreiche Sufi-Orden verbanden im 19. Jahrhundert die Ausübung religiöser Rituale mit dem Lebensbereich praktischer Ökonomie, einige – wie der Salihiyya-Orden in Somalia – wurden hauptsächlich durch von der Bruderschaft gegründete landwirtschaftliche Siedlungen verbreitet. Bei den Sanussiya in Libyen waren kollektive Arbeitseinsätze beim Feldbau oder in einem Gewerbe üblich. Die eigene Arbeit wurde als Gegenleistung an den Sheikh für die empfangene Segenskraft (Baraka) verstanden. Hierin machte die Tijaniyya keinen Unterschied, der Erfolg im Diesseits wurde bei diesem Orden allerdings in den Vordergrund gerückt. Ahmad al-Tidschani schien seinen Anhängern Wohlstand in dieser und Heil in der nächsten Welt zu versprechen.[9] Als Beispiele für diese Feststellung dienen Netzwerke von Händlern in nigerianischen Städten wie Kano und Ibadan, wo der senegalesische Sheikh Ibrahim Niass Mitte des 20. Jahrhunderts zur Erneuerung der Tijaniyya beitrug.

Sheikh Ibrahim Baye Niass (1900–1975) gründete von Senegal und Mali ausgehend einen modernisierten Zweig der Bruderschaft, die Niass Tijaniyya. Die bisherige Glaubensschulung in den Khalwa (Koranschule, als Rückzugsort) lehnte er als notwendige Voraussetzung zur spirituellen Erleuchtung ab. Der Prophet habe ihm aufgetragen, ohne Abkehr von der Welt zu leben. Anstelle von Abgeschiedenheit führte er das Prinzip der Tarbiya (geistiges Training) ein, das zum wichtigsten Identifikationsmerkmal der Tijaniyya wurde. Die Initiation in die Bruderschaft durch Tarbiya konnte wenige Tage bis zwei Jahre dauern. Tarbiya soll nicht rational erklärbar, sondern nur erfahrbar sein. Es handelt sich um eine geheim gehaltene Initiation, die Fragen zum Verhältnis zwischen Gott und Mensch beinhaltet. Ibrahim Niass vollzog seine Gebete mit über der Brust verschränkten Armen (üblicherweise befinden sich die Arme beim Gebet an der Seite), was als Symbol der Einheit der Glaubensgenossen in ganz Westafrika Verbreitung fand. Das von Niass ausgesprochene Rauchverbot war für manche Muslims schwer einzuhalten.[10]

Als der sudanesische Sheikh Ibrahim Sidi Muhammad ibn Muhammad Salma (1949–1999) Ende der 1970er Jahre in El Fasher in Darfur eine Zawiya (Versammlungsort, ähnlich einer Tekke) gründete, war er einer der ersten Prediger der neuen Lehre von Ibrahim Niass. Sein Vater Sidi Muhammad hatte in diesem Gebiet bereits den Tijaniyya-Orden verbreitet. Ibrahim Sidi betonte vor seinen Anhängern (Murid, Mehrzahl Muridun) stets die Pflicht zur Arbeit und Pünktlichkeit als Tugend, die Muridun seien Arbeiter für Gott. In allen wichtigen religiösen Schriften der Tijaniyya wird Khidma („Dienst“) erwähnt, das den ideellen Rahmen für das Leben in der Bruderschaft bildet. Sich dem Befehl des Sheikh zu unterstellen, bedeutet Khidmet ash-shaykh, „Dienst am Scheikh“.[11]

Einzelnachweise

  1. John Glover: Sufism and Jihad in Modern Senegal: The Murid Order. University of Rochester Press, Rochester (New York) 2007, S. 58–61
  2. William F. S. Miles: Religious Pluralisms in Northern Nigeria. In: Nehemia Leftzion und Randall L. Pouwels (Hrsg.): The History of Islam in Africa. Ohio University Press, Athens (Ohio) 2000, S. 214
  3. Thomas Bierschenk: The Social Dynamics of Islam in Benin. In: Galilou Abdoulaye: L'Islam béninois à la croisée des chemins. Histoire, politique et développement. Mainzer Beiträge zur Afrikaforschung Bd. 17, Rüdiger Köppe Verlag, Köln 2007, S. 15-19
  4. Pearl T. Robinson: Islam and Female Empowerment among the Tijaniyya in Niger. Tufts University, Research Note, September 2005
  5. Prozentzahlen nach: Peter Heine und Riem Spielhaus: Das Verbreitungsgebiet der islamischen Religionen: Zahlen und Informationen zur Situation in der Gegenwart. In: Werner Ende und Udo Steinbach: Der Islam in der Gegenwart. C. H. Beck, München 2005, S. 135–139
  6. Robert Elsie: Der Islam und die Derwisch-Sekten Albanien. Anmerkungen zu ihrer Geschichte, Verbreitung und zur derzeitigen Lage. Kakanien Revisited, S. 9, Mai 2004
  7. Chapter 8. Pesantren and Tarekat: The role of Buntet. The Origin of Tijaniyah. In: Abdul Ghoffur Muhaimin: The Islamic Traditions of Cirebon. Ibadat and Adat Among Javanese Muslims.
  8. The Tijaniya. In: Mauretania. A Country Study. Library of Congress 1988
  9. Abun-Nasr, S. 46
  10. Ahmed Rufai Mihammed: The Niass Tijaniyya in the Niger-Benne Confluence Area of Nigeria. In: Louis Brenner (Hrsg.): Muslim Identity and Social Change in Sub-Saharan Africa. Indiana University Press, Bloomington (Indiana) 1993, S. 116–134
  11. Rüdiger Seesemann: Islam, Arbeit und Arbeitsethik: die„zawiya“ der Tijaniyya in el-Fasher / Sudan. In: Kurt Beck und Gerd Spittler: Arbeit in Afrika. Beiträge zur Afrikaforschung 12. LIT Verlag, Münster 1996, S. 141–160.

Literatur

  • Jamil M. Abun-Nasr: The Tijaniyya : a Sufi order in the modern world. Oxford University Press, London 1965. (Standardwerk des nigerianischen Historikers und Islamwissenschaftlers)
  • John Hunwick: An introduction to the Tijani path: Beeing an annotated translation of the chapter headings of the Kitab al-Rimah of al Hajj Umar. Islam et Sociétés aus Sud du Sahara, 6, 1992, S. 17–32

Weblinks


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