Unglücklichsein

Unglücklichsein

Unglücklichsein ist eine Erzählung von Franz Kafka, die 1913 im Rahmen des Sammelbandes Betrachtung erschien. Es handelt sich um einen irrealen Besuch bei einem einsamen, unglücklichen Mann.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Der Ich-Erzähler berichtet in der Vergangenheitsform von einem Abend im November. Er läuft unruhig in seinem Zimmer hin und her, ist in konfuser Stimmung und erwägt, noch einmal auszugehen. Da taucht aus dem Korridor ein kindliches Gespenst auf. Der Erzähler wird noch aufgeregter und kann kaum glauben, dass das Gespenst wirklich zu ihm will. Dieses beruhigt ihn, alles sei schon richtig. Es beginnt ein Gespräch, aber die beiden können sich nicht verständigen. Erst geht es darum, ob eine Tür zu bzw. verschlossen ist oder sein muss. Das Gespenst will nicht, dass der Erzähler soviel Aufhebens macht. Sie geraten regelrecht in einen Disput mit Drohen aber auch Necken. Dann bricht das Gespräch ab.

Der Erzähler verlässt nun doch seine Wohnung und verfängt sich in seiner Hektik in einem Sesselbein. Auf der Treppe trifft er einen anderen Mieter, dem er von seinem Gespenst erzählt. Der Mieter meint, wenn man nicht an Gespenster glaubt, braucht man auch keine Angst zu haben. Aber der Erzähler bekennt sich zu seinen tiefsitzenden Ängsten. Der Mieter erwähnt, dass man Gespenster auffüttern könnte, insbesondere wenn es ein weibliches Gespenst ist. Aber der Erzähler meint, selbst dann stünde es nicht dafür. Im Weggehen ruft der Erzähler dem Mieter nach, dass er ihm ja nicht sein Gespenst wegnehmen soll. Nun könnte er an sich ruhig spazieren gehen, aber er fühlt sich so verlassen, dass er lieber wieder hinauf geht, um sich schlafen zu legen.

Textanalyse

Ein allein in einem Zimmer wohnender Erzähler, offensichtlich Junggeselle, wird nervös umgetrieben und weiß nichts mit sich anzufangen Er läuft über den schmalen Teppich seines Zimmers „wie in einer Rennbahn“. Das ganze findet im November statt, dem Monat der Depressionen. Als das Gespenst erscheint, kleidet er sich schnell förmlich an, weil er "nicht so halb nackt dastehen" wollte. Dem Erzähler ist es besonderes wichtig, dass niemand aus dem Haus den Besuch bei ihm bemerkt. Er ist dabei so unentschlossen und umständlich, dass das Gespenst ungehalten wird. Das Gespräch eskaliert regelrecht, man macht sich gegenseitig Vorwürfe. Der Erzähler beendet das Gespräch mit den Worten: "Nichts weiß ich." Was weiter mit dem Gespenst geschieht, erfährt man nicht.

Der andere Mieter scheint den Erzähler für einen Schwerenöter zu halten. („Sie gehen schon wieder weg, Sie Lump“). Er weist auf den lohnenden Kontakt mit der weiblichen Erscheinungsform eines Gespenstes hin und versteht nicht die Angst und Unzufriedenheit des Erzählers. Obwohl der Erzähler zum Gespenst nur eine unglückliche Verbindung herstellen konnte, will er es auf keinen Fall verlieren. Wenn er nun statt nach draußen wieder in sein Zimmer zurückgeht, ist anzunehmen, dass er wieder Annäherung an das Gespenst sucht. Es war nicht davon die Rede, dass es das Zimmer verlassen hätte. Das konkrete Ende oder die Weiterführung dieser Beziehung wird uns vorenthalten.

Deutungsansätze

Hier tauchen schon die Elemente auf, die später in Blumfeld, ein älterer Junggeselle weiter ausgeführt werden, nämlich ein irrealer Besuch in der Wohnung eines einsamen, unglücklichen Junggesellen. Das Wesen des Jungesellen schlechthin wird in einem anderen Stück aus Betrachtung, nämlich Das Unglück des Junggesellen geschildert.

Das kindliche Gespenst dürfte mindestens zwei Deutungsvarianten besitzen. Einerseits stellt es das alter ego des Erzählers dar [1], dass er mit folgenden Worten beschreibt: „Ihre Natur ist meine und wenn ich mich von Natur aus freundlich zu Ihnen verhalte, so dürfen Sie auch nicht anders“. In seiner Irrealität spiegelt sich die Neurose des Erzählers. Wie hier die dunklen, kranken Seiten seiner Existenz berührt werden, äußert sich in dem Satz: „Die eigentliche Angst ist die vor der Ursache der Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich geradezu großartig in mir.“

Die zweite Variante besteht in der Deutung des Gespenstes als Frauenerscheinung. Vielfach sind die Andeutungen, dass es sich auch um einen geheimen Besuch eines weiblichen Wesens handelt. Die geradezu verklemmten Reaktionen des Erzählers sprechen dafür. Man erfährt, dass das kindliche Gespenst eher schon ein erwachsenes Mädchen ist, mit dem man sich nicht im Zimmer einschließen sollte. Hier erscheint auch Kafkas Vorliebe für junge kindliche Frauen thematisiert. Auch der Mieter weist auf das weibliche Geschlecht von Gespenstern hin. Zweimal wird die Geste des Gespenstes beschrieben, das mit den Fingern über die Wand des Zimmers reibt. Der Erzähler erwähnt diese Geste besonders. Wird hier eine sexuelle Geste angedeutet? Das Gespräch zwischen beiden entwickelt sich nach anfänglicher Zuwendung quälend. Der Erzähler zerredet und problematisiert die Situation.

Wenn man aber aus dem Text ein junges männliches Gespenst ableitet, erscheint das Verhalten des Erzählers erst recht befremdlich und lässt sich allenfalls mit der Reaktion auf eine versteckt homophile Situation erklären. Die Frage nach einer näheren Identität des Gespenstes ist nicht zu klären. Auch die Literatur gibt dazu keine abschließende Aussage. Bei Dagmar C.Lorenz (von Jagow/ Jahraus/) werden sogar zwei Wesen gesehen, nämlich die die Erscheinung eines kleinen Kindes und eine weibliche Geistererscheinung [2].

In diesem Gespräch erkennt man schon den Stil der künftigen Briefe Kafkas an seine Freundinnen Felice Bauer und Milena Jesenska. Hier hat Kafka, wie mehrfach in seinem Schreiben, seine künftige eigene Lebensrealität voraus empfunden.

Ausgaben

  • Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe. Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1970. ISBN 3-596-21078-X.
  • Franz Kafka Die Erzählungen Originalfassung Fischer Verlag 1997 Roger Herms ISBN 3-596-13270-3
  • Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten. Herausgegeben von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt/Main: Fischer Verlag 1996 S. 33-40

Sekundärliteratur

Einzelnachweis

  1. Alt S. 254
  2. v.Jagow/Jahrhaus D.C.Lorenz S. 375

Weblinks


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