Vereinigte Islamische Front zur Rettung Afghanistans

Vereinigte Islamische Front zur Rettung Afghanistans
Flagge der Vereinigten Islamischen Front.

Die Nationale Islamische Vereinigte Front zur Rettung Afghanistans (persischجبهه متحد اسلامی ملی برای نجات افقانستان‎ , Dschabhe-ye Mottahed-e Eslami-ye Melli baraye Nedschat-e Afghanistan), in den westlichen Medien besser bekannt als Nordallianz, war eine gegen die Taliban gerichtete lose Koalition rivalisierender tadschikischer, usbekischer und Hazara-Warlords. Sie wurde im Oktober 1996 als militärisches Zweckbündnis als Reaktion auf den landesweiten Vormarsch der Taliban gegründet.

Ende des Jahres 2001 konnte die Vereinigte Front (VF) mit Hilfe massiver US-Luftunterstützung praktisch ganz Afghanistan zurückerobern.

Inhaltsverzeichnis

Mitglieder

Die Vereinigte Front setzte sich -- je nach Zählweise -- aus etwa fünf zumeist islamistisch geprägten politischen Gruppierungen zusammen:

  • Die Islamische Vereinigung Afghanistans (persischجمعيت اسلامی افقانستان‎, Dschamiat-e Eslami-ye Afghanistan) war tadschikisch dominiert und wurde von Burhanuddin Rabbani geführt, der allerdings später immer mehr zugunsten seines Verteidigungsministers Ahmad Schah Massoud an Einfluss verlor.
  • Die Islamische Einheitspartei Afghanistans (persischحزب وحدت اسلامی افقانستان‎, Hezb-e Wahdat-e Eslami-ye Afghanistan) wurde von schiitischen Hazara gebildet. Sie erhielt Unterstützung durch den ebenfalls schiitisch geprägten Iran und wurde geführt von Mohammed Mohaqiq und Karim Chalili.
  • Die Nationale Vereinigung Afghanistans (persischجنبش ملی افقانستان ‎, Dschonbesh-e Melli-ye Afghanistan) war die Partei des Usbeken-Generals Abdul Raschid Dostum. Sie erhielt Unterstützung hauptsächlich aus Usbekistan und der Türkei.
  • Die Islamische Bewegung Afghanistans (persischحركت اسلامی افقانستان ‎, Harakat-e Eslami-ye Afghanistan) war eine schiitische Vereinigung unter Ayatollah Mohammad Asif Mohseni, die in den folgenden Jahren mehr oder weniger in der Dschamiat-e Eslami aufging.
  • Die Islamische Union zur Befreiung Afghanistans (persischاتحاد اسلامی ملی برای آزادى افقانستان‎, Ettehad-e Eslami Baraye Azadi-ye Afghanistan) war eine von Abdul Rasul Sayyaf geführte paschtunische Gruppierung, die zwar der Vereinigten Front beitrat, politisch jedoch bedeutungslos blieb.

Die meisten Mitglieder und Führer der Vereinigten Front waren Tadschiken, Usbeken und Hazara. Die größte afghanische Bevölkerungsgruppe, die Paschtunen, war kaum vertreten.

Der Aufstieg der Taliban

Nach dem Abzug der Sowjetunion im Jahr 1989 folgte ein langer Kampf der Mudschaheddin gegen das sowjetgestützte Regime von Präsident Mohammed Nadschibullah, bis dieses schließlich 1992 mit der Einnahme Kabuls gestürzt wurde. Zur Überraschung der meisten Beobachter geschah dies nicht durch die gut ausgerüsteten paschtunischen Parteien, sondern durch die besser organisierten tadschikischen Milizen von Massoud und die usbekischen Truppen von Dostum, die eine Regierung mit Rabbani an der Spitze bildeten. Ein innerafghanischer Bürgerkrieg entbrannte, als der Paschtune Gulbuddin Hekmatyar der neuen Regierung den Kampf ansagte und begann, Kabul zu belagern. Später kündigte auch Dostum sein Bündnis mit der Rabbani-Regierung auf und attackierte zusammen mit Hekmatyar die Hauptstadt. Auch die Hazara, deren Milizen die Hazara-Kernsiedlunggebiete in Zentralafghanistan kontrollierten, griffen in wechselnden Bündnissen in die Kämpfe ein.

Der Staat Afghanistan befand sich am Rande der Auflösung, als die Taliban 1993 erstmals auf der politischen Landkarte erschienen und von der Stadt Kandahar aus in den paschtunisch geprägten Gebieten im Süden und Osten des Landes rasch ihren Machtbereich ausdehnten. Am 5. September 1995 eroberten sie mit der Stadt Herat erstmals eine wichtige Bastion außerhalb ihres paschtunischen Stammgebietes, der Fall der Stadt war gleichzeitig der Anfang vom Ende der Regierung Rabbani. Obwohl die folgende Angriffe auf Kabul von Massoud vorerst zurückgeschlagen werden konnten, gelang es den Taliban am 26. September 1996 schließlich, die Hauptstadt zu erobern. Massoud floh mit seinen Truppen nach Norden.

Die Gründung der Vereinigten Front

Frontlinien bei der Gründung der Vereinigten Front

Während der Kämpfe zwischen den Taliban und Massoud war lange unklar, welche Position der Usbekenführer Dostum beziehen würde. Angesichts des absoluten Machtanspruches der Taliban und ihres scheinbar unaufhaltsamen Vormarsches entschied er sich jedoch für eine Allianz mit Massoud. Am 10. Oktober 1996 trafen sich schließlich der von den Taliban entmachtete Präsident Rabbani, sein militärischer Kommandant Massoud, der Hazara-Führer Chalili und Dostum an einer Straße nördlich des Salangpasses. Die rivalisierenden Führer schlossen unter dem Druck der Ereignisse ein Zweckbündnis und gründeten den Obersten Rat zur Verteidigung des Vaterlandes. Dies war die Geburt der neuen Anti-Taliban-Allianz, die den Kampf während der gesamten Regierungszeit der Taliban aufrecht erhalten sollte.

Als die Taliban am 24. Mai 1997 das Militärhauptquartier von Dostum eroberten und zum ersten Mal in die Stadt Mazar-e Scharif einmarschierten, wurde am 13. Juni in Eile die Nationale Islamische Vereinigte Front zur Rettung Afghanistans offiziell ins Leben gerufen. Ihr Präsident wurde der frühere Staatschef Rabbani, zum militärischen Führer und Vizepräsidenten wurde Dostum gewählt. Die VF wurde von den meisten Staaten mit Ausnahme Pakistans und Saudi-Arabiens als legitime Regierung Afghanistans anerkannt.

Der Kampf gegen die Taliban

Der Frontverlauf vor der US-geführten Intervention im Oktober 2001

Als die Taliban am 8. August 1998 endgültig Dostums Hochburg Mazar-e Scharif eroberten und am 13. September auch die Hazara-Hauptstadt Bamian in ihre Hände fiel, verloren die Usbeken und Hazara mit der Kontrolle über ihre Kerngebiete auch ihren Einfluss in der VF. Diese wurde in den folgenden Jahre praktisch ausschließlich von der tadschikischen Dschamiat-e Eslami Rabbanis und Massouds dominiert. Angesichts der geringen politischen Macht der VF wurde jedoch auch Rabbani mehr und mehr zu einer symbolischen Figur, während der Feldherr Massoud die Geschicke bestimmte.

Den Kern der noch von der VF kontrollierten Gebiete bildeten lediglich die Provinzen Badachschan, Kapisa und Tachar im Nordosten Afghanistans, so dass sich in den westlichen Medien der Begriff Nordallianz durchsetzte. Der Begriff wurde auch absichtsvoll von pakistanischer Seite geprägt, da diese der VF absprach, die gesamte afghanistanische Bevölkerung zu repräsentieren. Während des fünfjährigen Kampfes gegen die Taliban wechselte das Kriegsglück ständig, allerdings konnte keine Seite einen entscheidenden Vorteil erringen. Die Taliban herrschten weiter über etwa 90 % des Landes, konnten jedoch das verbleibende von der VF kontrollierte Gebiet nicht ernsthaft bedrohen.

Der Vereinigten Front wurde von verschiedener Seite vorgeworfen, während des Bürgerkrieges schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. So beschuldigte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die VF in einem im Jahr 2001 veröffentlichen Bericht, Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübt zu haben, darunter ethnische Vertreibungen, Vergewaltigungen und extralegale Hinrichtungen. [1]

Die Zeit nach dem 11. September 2001

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA wollte die US-geführte internationale Koalition eigene große Bodenoperationen vermeiden und entschloss sich daher, die VF militärisch, insbesondere durch Luftangriffe, zu unterstützen. Dadurch konnte diese rasch das gesamte Land erobern: Mazar-e Scharif fiel am 9. November, am 12. November marschierten die Streitkräfte der VF in die von den Taliban verlassene Hauptstadt Kabul ein. Rabbani nahm die Position des Präsidenten, die er seit 1996 nur noch de iure inne hatte, auch de facto wieder ein.

Auf der Afghanistan-Konferenz in Bonn zur Befriedung und Demokratisierung des Landes im November 2001 fiel der VF daher als De-facto-Regierung eine Schlüsselrolle zu. Obwohl sich der noch amtierende Präsident Rabbani nicht an der dort ernannten Interimsverwaltung unter dem neuen Präsidenten Hamid Karzai beteiligte, konnten die drei wichtigsten Ministerien durch Mitglieder der VF besetzt werden: Außenminister wurde Abdullah Abdullah, das Innenressort übernahm der VF-Delegationsleiter Junus Ghanuni, der neue Verteidigungsminister hieß Mohammed Fahim, der nach der Ermordung Massouds am 9. September 2001 durch Mitglieder der Al Qaida dessen Nachfolge übernahm.

Obwohl die von der VF dominierte Interimsregierung personell und parteipolitisch der katastrophal gescheiterten Mudschaheddin-Regierung von 1992 ähnelte, blieb die von vielen befürchtete Wiederholung des damaligen Chaos weitgehend aus. Auch der dominierende Einfluss der Mitglieder der VF im Kabinett wurde nach Protesten insbesondere von paschtunischer Seite bei Kabinettsumbildungen etwas zurückgedrängt, ohne dass es zu größeren Regierungskrisen kam.

Die Milizen der VF wurden inzwischen weitgehend in die neu geschaffene Afghanische Nationalarmee integriert.

Im März 2007 gründete Rabbani die Nationale Vereinigte Front (persischجبهه متحد ملی افقانستان‎, Dschabhe-ye Mottahed-e Melli), der sich viele ehemalige wichtige Mitglieder der VF anschlossen, darunter Raschid Dostum, Mohammed Fahim, Junus Ghanuni und Ismail Khan. Sie bezeichnet sich selbst als „loyale Opposition“ gegenüber der Karzai-Regierung. Es gibt allerdings Befürchtungen, dass die in ihr versammelten ehemaligen Milizenführer über den Weg einer Parteigründung versuchen könnten, ihre alten Machtpositionen wiederherzustellen, da die Nationale Vereinigte Front für eine Schwächung der starken Rolle des Präsidenten und der Zentralregierung eintritt.

Quellenangaben

  1. HRW-Bericht über Menschenrechtsverletungen im afghanischen Bürgerkrieg

Literatur

  • Ahmed Raschid: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad. Droemer, München 2001, ISBN 3-426-27260-1

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