Vergesellschaftung

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Vergesellschaftung bezeichnet allgemein die Verwandlung von etwas Ungesellschaftlichem (etwa Vereinzelten) in etwas Gesellschaftliches. Der Begriff wird in einer Reihe von Disziplinen unterschiedlich verwendet.

Inhaltsverzeichnis

Soziologie

Vergesellschaftung bei Max Weber

Zuerst wurde der Begriff von Max Weber 1922 aus Ferdinand Tönnies’ Begriff der Gesellschaft weiterentwickelt. Er bezeichnet eine soziale Beziehung „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (zweckrational oder wertrational) motiviertem Interessenausgleich [...] beruht“. Ferdinand Tönnies schreibt in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft, jede der menschlichen Beziehungen sei eine „[...] gegenseitige Wirkung, die insofern, als von der einen Seite getan oder gegeben, von der anderen so beschaffen, dass sie zur Erhaltung, oder so, dass sie zur Zerstörung des anderen Willens und Leibes tendiere[…]: bejahende oder verneinende.“[1] Unter Vergesellschaftung ist daraus folgend der Prozess gemeint, der aus Individuen Gesellschaftsmitglieder macht, indem er sie in unterschiedlicher Weise in den sozialen Zusammenhang integriert (oder negativ integriert). Vergesellschaftung vollzieht sich vor allem klassen-, ethnien- und geschlechtsspezifisch und unterliegt sich verändernden sozialhistorischen Bedingungen. Im Gegensatz dazu steht bei Weber die Vergemeinschaftung (wie bei Tönnies die Gemeinschaft), die auf Affekt oder Tradition beruht.

Vergesellschaftung bei Georg Simmel

Die vermutlich häufigste Bedeutung, in welcher der Begriff verwendet wird, ist jedoch die von Georg Simmel (1908). Er sieht den Gegenstand der Soziologie in den Wechselwirkungen der Gesellschaft. Diese nennt er Vergesellschaftung. Simmel definiert die Geselligkeit „als Spielform der Vergesellschaftung und als - mutatis mutandis - zu deren inhaltsbestimmter Konkretheit sich verhaltend wie das Kunstwerk zur Realität.“ Geselligkeit im engeren Sinn entsteht nach ihm, wenn der Prozess der Vergesellschaftung als Wert an sich und Glückszustand jenseits der sozialen Realitäten erlebt wird.

Soziologie als Lehre von den Formen der Vergesellschaftung

Klaus Lichtblau schreibt in seiner Schrift Von der „Gesellschaft“ zur „Vergesellschaftung“. Zur deutschen Tradition des Gesellschaftsbegriffs über Simmels Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsbegriff. Diese habe im engen Zusammenhang mit seinem Bemühen gestanden, der Soziologie eine sichere wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen, die es ihr ermöglichen sollte, sich als eigenständige Disziplin im Konzert der überlieferten Geistes- und Staatswissenschaften erfolgreich zu behaupten [2]. Simmel habe vorgeschlagen, von "Gesellschaft" bezüglich etwas Funktionellem zu sprechen und diesen Begriff weitestgehend durch Begriff der Vergesellschaftung zu ersetzen, um Missverständnisse zu vermeiden.

Klaus Lichtblau: „Simmel zufolge bildet also nicht die "Gemeinschaft" oder der "Staat", sondern das Individuum den eigentlichen Gegenbegriff zu dem der Gesellschaft. […]. Für Simmel ist es dabei nicht entscheidend, wie flüchtig bzw. dauerhaft oder wie räumlich begrenzt bzw. ausgedehnt ihr "Miteinander-", "Füreinander" und "Gegeneinander-Handeln" ist (Simmel 1992a: 57, 1992b: 18). Sein Gesellschaftsbegriff ist deshalb prinzipiell offen und auch im Hinblick auf eine Theorie der Weltgesellschaft anschlussfähig, auch wenn Simmel selbst es vorzog, sich primär mit jenen "mikroskopisch-molekularen Vorgängen" zu beschäftigen, bei denen sich das soziale Geschehen noch nicht zu "festen, überindividuellen Gebilden" verfestigt hat, sondern sich die Gesellschaft gleichsam im Geburtszustand zeigt (Simmel 1992b: 33).

Vergesellschaftung und Verstaatlichung

Häufig werden die beiden Begriffe Verstaatlichung und Vergesellschaftung undifferenziert verwendet oder wenig erläutert. Um den Unterschied zu verdeutlichen, zitiert Frank Deppe Friedrich Engels, der in seiner Frühschrift „Grundsätze des Kommunismus“ die Organisation der neuen Gesellschaft wie folgt beschreibt: „Sie wird vor allen Dingen den Betrieb der Industrie und aller Produktionszweige überhaupt aus den Händen der einzelnen, […] nehmen und dafür alle diese Produktionszweige durch die ganze Gesellschaft, d.h. für gemeinschaftliche Rechnung, nach gemeinschaftlichem Plan und unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft, betreiben lassen müssen[3]. Engels hebt also hervor, dass es die Gesellschaft ist, die das Eigentum verwendet und besitzt. Im gemeinsam mit Karl Marx verfassten Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 steht: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren[4]. Marx und Engels schreiben dem Staat also für die Enteignungen eine wichtige Rolle zu. Obwohl Engels im modernen Staat seiner Zeit aber den Vertreter der herrschenden und besitzenden Klasse sieht: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus“ [5] . Frank Deppe schreibt: „Vergesellschaftung bedeutet Überführung von individuellem Privateigentum an Produktionsmitteln in Eigentum von Gesellschaftern bzw. in das Eigentum der Gesellschaft, in der sich Menschen genossenschaftlich assoziieren, in deren Namen der demokratische Staat handelt“ [6]. In diesem Sinne regelt auch das Grundgesetz in Artikel 15 die „Vergesellschaftung“. Deppe betont also die demokratische Verfasstheit und „hebelt“ den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft streng genommen wieder aus. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung liegt darin, dass „Verstaatlichung“ letztlich nur das Eigentumsverhältnis regelt, während Vergesellschaftung auch ein Organisationsprinzip ausdrückt, die Wirtschaftsdemokratie oder die Rätedemokratie.

Zur aktuellen Debatte über Vergesellschaftung – Daniela Dahn

Um einen Einblick in die aktuelle Debatte über Vergesellschaftung zu geben, soll hier der Artikel „Wem gehört das Staatseigentum? Vom falschem Sozialismus und richtiger Vormundschaft. Zur Debatte über Vergesellschaftung“[7] der Autorin Daniela Dahn hinzugezogen werden. Diese schreibt, die Konfusion darüber, ob Verstaatlichung schon Sozialismus sei, habe Tradition und seit der Krise wieder Konjunktur.

Wer, fragt Dahn, seien die Leute, denen Staatseigentum gehöre? Absolutistische Potentialen hätten noch unumwunden zugegeben: „Der Staat – das bin ich“. De jure könne nur natürlichen oder juristischen Personen etwas gehören. Früher oder später müsse es also vollbracht werden – in dem Fall eher früher: Im Jahre 1837 habe der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht die Fiktion des Staates als juristische Person postuliert. „In der DDR gab es kein Staatseigentum. Das war von der Verfassung nicht vorgesehen. Es gab kein staatliches Vermögen, das nicht Volkseigentum war. Im Interesse des Volkes sollte es vom Staat verwaltet werden. Immer wieder wird behauptet, das Volkseigentum sei nur eine ideologisch verbrämte Bezeichnung für Staatseigentum gewesen. Nein, der Staat durfte ganz entscheidende Dinge nicht, die er heute darf. […] Es handelte sich also erstmals um eine ökonomische Vergesellschaftung, der aber die politische fehlte.“

Sträflich, so Dahn, sei ignoriert worden, was sogar im offiziellen Verfassungskommentar vorausgesetzt worden sei: „Die Mitwirkung an der Leitung der Wirtschaft durch alle Werktätigen“ und „die sozialistische Demokratie ist eine notwendige Bedingung für die schöpferische Nutzung und Mehrung des sozialistischen Eigentums.“

Vergesellschaftung mit Bezug auf Geschlechterrollen

Regina Becker-Schmidt (2003) bezeichnet mit „Doppelte Vergesellschaftung von Frauen“ die doppelte Einbindung von Frauen in Erwerbs- sowie in Familienarbeit als Ergebnis eines sozialen Wandels. Reinhard Kreckel hebt hervor, dass die doppelte Vergesellschaftung in der bürokratisch-kapitalistischen Gesellschaft für beide Geschlechter gelte, dass aber Frauen typischerweise den widersprüchlichen Anforderungen aus beiden Bereichen voll ausgesetzt seien.[8] Mit einer heute als Ethnosoziologie bezeichneten Perspektive hat Claude Lévi-Strauss 1949 eine strukturelle Betrachtung von Heirats- und Verwandtschaftsprozessen begründet.

Ökonomie

In der Ökonomie versteht man unter Vergesellschaftung die Überführung von Gütern in Gemeineigentum.

Karl Marx (1848) bezeichnet mit „Vergesellschaftung“ den Übergang der Produktionsmittel aus Privateigentum in gesellschaftliches Eigentum bzw. Gemeineigentum, meist durch Enteignung und Verstaatlichung. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist nach Marx die wichtigste Bedingung für den Sozialismus bzw. Kommunismus.

Die rechtliche Möglichkeit der Vergesellschaftung ist auch im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vorgesehen. Gemäß Artikel 15 können Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Artikel 14 regelt die Enteignung in Einzelfällen.

Biologie

Flora

Eine Pflanzengesellschaft bezeichnet eine bestimmte, abstrahierbare Artzusammensetzung (Biozönose) von Pflanzen. Die Lehre von der Vergesellschaftung von Pflanzen bezeichnet man auch als Pflanzensoziologie.

Fauna

Bei Tieren bezeichnet die Biologie (teilweise als „Tiersoziologie“) mit „Vergesellschaftung“ den Prozess, ein Individuum oder eine Gruppe in eine existierende Gruppe einzugliedern, etwa beim Umsiedeln von Nutz- oder Haustieren oder auch beim Aussiedeln von Wildtieren aus der Gefangenschaft in die natürliche Umgebung. Im Verlauf dieses Prozesses wird etwa die Rangordnung zwischen den Tieren neu ausgehandelt.

Weitere Bedeutungen

In der Geologie bezeichnet die Paragenese eine charakteristische Ansammlung oder Vergesellschaftung verschiedener Mineralien an ihrem Bildungsort.

In der Archäologie kennt man den vergesellschafteten Fund, der eine Ansammlung von Fundstücken kennzeichnet, die als "gleichzeitig niedergelegt" betrachtet werden.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie. 3. Auflage. Berlin 1920
  2. Klaus Lichtblau: Von der Gesellschaft zur Vergesellschaftung. Abgerufen am 8. September 2010.
  3. Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus. Abgerufen am 8. September 2010.
  4. Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 481 [1]
  5. Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Abgerufen am 8. September 2010.
  6. Frank Deppe: Vergesellschaftung, in: Brand, Ulrich, Lösch, Bettina und Stefan Timmel (Hrsg.), 2007: ABC der Alternativen. Von »Ästhetik des Widerstands« bis »Ziviler Ungehorsam«, Hamburg, 242-243.)
  7. Dahn,Daniela: Wem gehört das Staatseigentum? Abgerufen am 17. September 2010.
  8. Reinhard Kreckel: Soziologie der Herrschaft – 14. Vorlesung. In: Soziologie der Herrschaft: Arbeitsblätter. Abgerufen am 24. Juni 2008 (PDF).

Literatur

Soziologische Bedeutung

Ökonomische Bedeutung

Biologische Bedeutung

  • Reinhold Tüxen: Pflanzensoziologie als synthetische Wissenschaft, in: „Miscellaneous Papers“, Bd. 5, Wageningen 1970, S. 141-159

Weblinks


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