Vertrag Von Rapallo

Vertrag Von Rapallo
Reichskanzler Joseph Wirth (2.v.l.) mit den Vertretern der russischen Seite: Krassin, Tschitscherin, Joffe

Der Vertrag von Rapallo ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der am 16. April 1922 im italienischen Rapallo zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (späteres Gründungsmitglied der Sowjetunion) geschlossen wurde. Der überraschende Vertragsschluss fand am Rande der Finanz- und Wirtschaftskonferenz von Genua statt. Unterzeichnet wurde der Vertrag von dem Außenminister des Deutschen Reiches Walther Rathenau und seinem russischen Amtskollegen Georgi Tschitscherin. Der Vertrag normalisierte die Beziehungen der beiden Staaten, die mit ihm ihre internationale Isolation durchbrechen wollten, und sollte die Verhandlungsposition des Deutschen Reiches gegenüber den Westmächten stärken. Mit dem Deutschen Reich, dessen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Frieden von Versailles konstatiert hatte, und dem kommunistischen Russland schlossen sich zwei Geächtete der damaligen internationalen Politik zusammen.

Inhaltsverzeichnis

Vertragsinhalt

Der Vertrag hatte hauptsächlich den Inhalt, dass das Deutsche Reich und Russland ihre durch den Krieg und die russische Revolution unterbrochenen diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen wieder aufnahmen (nach dem Prinzip der Meistbegünstigung). Letzteres war für das Deutsche Reich ein eminent wichtiger Punkt, da seine Waren von den ehemaligen Kriegsgegnern in Westeuropa weiterhin boykottiert wurden. Des Weiteren verzichteten beide Staaten auf Reparationen für Kriegsschäden, das Deutsche Reich zudem auf Entschädigungen für im Zuge der Revolution verstaatlichten ehemals deutschen Besitz.

Im Umfeld des Vertrags wurde die Lieferung von Industrieanlagen an Russland vereinbart, durch die es die Ölfelder von Baku ohne Unterstützung westlicher Firmen hätte betreiben können. Zudem hatte sich das Deutsche Reich verpflichtet, Lageranlagen und Tankstellen zur Vermarktung russischer Ölprodukte einzurichten. Auf diese Weise plante das Deutsche Reich, die Abhängigkeit von britischen und amerikanischen Ölkartellen zu mindern, die den Markt beherrschten.

Militärische Aspekte

Der Vertrag enthielt, entgegen der bis heute weit verbreiteten Annahme, kein geheimes militärisches Zusatzprotokoll, allerdings hatte schon vorher eine geheime militärische Zusammenarbeit begonnen, die jetzt vertraglich fixiert wurde. Lapidar hieß es dazu im Artikel 5, dass "sich die deutsche Regierung bereit erklärt, ihr neuerdings mitgeteilten, von Privatfirmen beabsichtigten Vereinbarungen" in der Sowjetunion zu unterstützen. Diese eingeführte Praxis von privatrechtlichen Vereinbarungen sollte die Reichsregierung nicht kompromittieren, obwohl die laufenden Kosten des Unterhaltes aus dem Etat des Reichswehrministeriums beglichen wurden. So wurde z. Bsp. eine Flugzeugfabrik nahe Moskau eröffnet, ein Testgelände für Giftgas sowie ein Panzerübungsgebiet eingerichtet. Russland und später die Sowjetunion erhielten zum Teil moderne Technologie, die Reichswehr die Möglichkeit, ihre Soldaten an schweren Waffen, die das Deutsche Reich nicht besitzen durfte, auszubilden. Die militärische Zusammenarbeit war eine wichtige Grundlage für den Aufbau einer deutschen Luftwaffe, was nach den Regelungen des Versailler Vertrages strikt verboten war. Eine geheime Fliegerschule und Erprobungsstätte der Reichswehr wurde ab 1925 in der Nähe der russischen Stadt Lipezk eingerichtet und bis September 1933 betrieben. Dort wurden etwa 120 deutsche Flieger, 100 Luftbeobachter und zahlreiches Bodenpersonal ausgebildet und im geringen Umfange, in Deutschland neu entwickelte Flugzeugkonstruktionen erprobt. Insgesamt benutzte diese Schule, die russischerseits offiziell als 4. Fliegerabteilung des 40. Geschwaders der Roten Armee bezeichnet wurde, eine Anzahl niederländischer, russischer und auch deutscher Flugzeuge.

Reaktionen

Im Deutschen Reich wurde der Vertrag mehrheitlich begrüßt, stieß aber auch auf Widerstand, beispielsweise bei Reichspräsident Friedrich Ebert und der weiteren sozialdemokratischen Führung; auch Rathenau hatte früher die russischen Bitten um einen Vertrag abgelehnt und war bis zuletzt zögerlich.

Nationalistische Tendenzen im Kommunismus einerseits und sozialistische Bestrebungen im völkischen Lager andererseits sowie drittens das zeitweilige Bündnis beider Strömungen im innenpolitischen Kampf gegen Weimar und im außenpolitischen Wunsch nach deutsch-sowjetrussischer Kooperation begrüßten den anti-westlichen Vertrag. Im faschistischen Lager wurde die Annäherung an das bolschewistische Russland abgelehnt und Rathenau, der dort schon wegen seiner jüdischen Abstammung verhasst war, angelastet. Rathenau wurde am 24. Juni 1922, wenige Monate nach Unterzeichnung des Vertrags, von Mitgliedern der rechtsextremen Organisation Consul ermordet.

Die Westmächte, vor allem Frankreich, standen dem Vertrag feindlich gegenüber, weil er die beteiligten Staaten stärkte und die Abhängigkeit des Deutschen Reiches von den Westmächten verringerte. Zwei Tage nach Abschluss des Vertrags protestieren sie auf diplomatischem Weg. Sie vermuteten, die beiden Staaten planten eine erneute Aufteilung Polens, das im Vertrag von Versailles als Staat wiedergegründet worden war. Diese Vermutung war nicht völlig unbegründet: die Reichswehr unter General Hans von Seeckt plante tatsächlich eine Revision der Ostgrenze.

Der Vertrag von Rapallo trug dazu bei, dass Frankreich eine geringfügige Unterschreitung der im Vertrag von Versailles vorgeschriebenen Reparationsleistungen als Vorwand zur Ruhrbesetzung nutzte.

Bis heute spricht man vom „Rapallo-Komplex“, wenn man das Misstrauen meint, das in den Ländern der westlichen Hemisphäre entsteht, sobald Deutschland sich zu sehr auf Russland zubewegt. Dieser Komplex wurde zuletzt beschworen, als die Regierung Schröder die Achse „Paris-Berlin-Moskau“ propagierte, aber auch im Zusammenhang mit Willy Brandts Ostpolitik nach 1970 spielte diese Furcht vor einer Wiederholung der Ereignisse von 1922 eine große Rolle.

Kuriosa

Zu den Kuriosa gehört, dass sich die deutsche Delegation nach Eintreffen der letzten sowjetrussischen Vorschläge in der Nacht vor der Vertragsunterzeichnung zu einer legendär gewordenen „Pyjamakonferenz“ traf, um sich vor Vertragsunterzeichnung noch einmal abzustimmen.

Siehe auch

Literatur

  • Wipert von Blücher: Deutschlands Weg nach Rapallo. Erinnerungen eines Mannes aus dem zweiten Gliede. Limes Verlag, 1951. 

Weblinks


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