Wandrers Nachtlied

Wandrers Nachtlied

Wandrers Nachtlied ist der Titel von zwei der bekanntesten Gedichte Johann Wolfgang Goethes aus den Jahren 1776 und 1780, die immer zusammen abgedruckt werden sollen und dabei jeweils mit „Wandrers Nachtlied“ und „Ein Gleiches“ betitelt werden.

Diese Zusammenstellung hatte Goethe selbst angeordnet, allerdings erst im Jahr 1815 beim ersten Band einer neuen Gesamtausgabe. Zu diesem Zeitpunkt war besonders das zweite Gedicht jedoch bereits in vielen nicht autorisierten Drucken verbreitet und zum berühmtesten Gedicht deutscher Sprache avanciert.

Inhaltsverzeichnis

Wandrers Nachtlied

Franz Schubert: Wandrers Nachtlied op. 4/3 (D 224), komponiert am 5. Juli 1815, veröffentlicht 1821, dem Patriarchen Johann Ladislaus Pyrker von Felsö-Eör gewidmet. Autograph

„Wandrers Nachtlied“ schrieb Goethe im Februar 1776 vom Ettersberg bei Weimar aus und fügte es einem Brief an Charlotte von Stein bei:

Der du von dem Himmel bist,
Alle Freud und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all die Qual und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!

Dieses Gedicht findet sich handschriftlich zwischen den Briefen an Frau von Stein mit der Unterschrift „Am Hang des Ettersberg, d. 12. Feb. 76“.

Für die 1789 bei Göschen erschienene Ausgabe seiner Werke führte Goethe einige Änderungen durch, und er ersetzte „Alle Freud“ durch „Alles Leid“ sowie „die Qual“ durch „der Schmerz“:

Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!

Durch den frühen Ruhm und das berüchtigte Genie-„Treiben“ kam Goethes literarische Produktivität zum Erliegen. Absorbiert durch die Staatsgeschäfte kam er kaum noch dazu, sich literarisch zu betätigen.

Der Titel „Wanderers Nachtlied“ erweckt den Eindruck, dass das Lied von einem müden Wandersmann handelt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Goethe hier den Wanderer nicht im übertragenen Sinn sehen wollte.

In seinem Buch Goethe / Neue Ansichten - Neue Einsichten (Verlag Königshausen & Neumann, 2007) kommt Prof. Hans-Jörg Knobloch jedoch zu einer völlig anderen Interpretation, und weist diesem Gedicht eine starke persönliche Note im Rahmen der Beziehung von Goethe zu Frau Charlotte von Stein zu.

Ein Gleiches

Goethehäuschen auf dem Kickelhahn

„Ein Gleiches“ schrieb Goethe am Abend des 6. Septembers 1780 mit Bleistift an die Holzwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau und gab ihm den gleichen Namen. Es hat das gleiche Thema, ist also ein weiteres (deshalb „gleiches“) Nachtlied des Wanderers. Die Inschrift erneuerte Goethe 1813.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Im August 1831, ein halbes Jahr vor seinem Tod, besuchte Goethe während seiner letzten Reise mit dem Bergingenieur Johann Christian Mahr die Hütte ein letztes Mal und stieg sofort in das obere Stockwerk, um zu schauen, ob sein Gedicht an der Holzwand noch zu lesen war. Mahr berichtet darüber folgendermaßen:

„Goethe überlas diese wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: Ja: warte nur, balde ruhest du auch! Schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düsteren Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den Worten: Nun wollen wir wieder gehen!“

Rezeption

Franz Schubert, der Goethe sehr verehrte und sich von ihm stark inspiriert fühlte, vertonte Der du von dem Himmel bist am 5. Juli 1815 als op. 4/3 (D 224) und Über allen Gipfeln um 1823 als Opus 96 Nr. 3 (D 768).

Dem Goethe-Kult auch um den Entstehungsort, der bereits 1838 auf Wanderkarten als „Goethehäuschen“ verzeichnet ist, entsprach eine Verehrung des Gedichtes, das als Feier universeller Ruhe gesehen wurde.

Die Hütte brannte 1870 ab und wurde 1874 wieder aufgebaut. Eine Fotografie aus dem Jahr 1869 dokumentiert Goethes Text in dem Zustand, den er, in 90 Jahren durch Übermalungen usw. verändert, unmittelbar vor seiner Vernichtung hatte. Das Foto zeigt auch Sägespuren: Ein Tourist hatte vergeblich versucht, den Text aus der Wand herauszuschneiden.

Folgende Aussagen wurden diesem Gedicht zugeschrieben:

  • ein Abendlied, das an den Tod mahnt
  • ein Naturgedicht
  • Stellung des Menschen im Kosmos.

Für die beiden letzten Deutungen spricht die Organisation der Elemente:

  • Gipfel: unbelebt bzw. anorganisch. Wipfel und Vögel: belebt bzw. organisch, aber schon ruhig. Du (Mensch): noch unruhig
  • Gestein – Pflanze – Tier – Mensch (Abfolge der Evolution)
  • Ferne – zoomartig näher bis ins Innere des Menschen.

Im Goethejahr 1999 wurde im Goethehäuschen eine Schautafel angebracht, auf welcher das Gedicht „Ein Gleiches“ in zahlreiche Sprachen übersetzt abgedruckt ist.

Parodien

Fisches Nachtgesang

Bei der außerordentlichen Bekanntheit von Goethes Gedicht konnten – wie bei Schillers Lied von der Glocke – Parodien nicht ausbleiben.

Fisches Nachtgesang [1] aus Christian Morgensterns 1905 erschienenen Galgenliedern, von dem fiktiven Herausgeber späterer Auflagen, lic. Dr. Jeremias Mueller, in einer Anmerkung als „das tiefste deutsche Gedicht“ bezeichnet, besteht ausschließlich aus metrischen Zeichen, die - zusammen mit der Überschrift als Schwanzflosse - die Form eines Fisches bilden. Oder sollte man sich mit Martin Beheim-Schwarzbach[2] lieber "an das Auf- und Zuschnappen eines Karpfenmauls" erinnert fühlen?

Das Abendgebet einer erkälteten Negerin[3] aus Joachim Ringelnatz' Gedichtband Kuttel Daddeldu von 1920 endet mit folgenden Zeilen:

Drüben am Walde
Kängt ein Guruh – –
Warte nur balde
Kängurst auch du.

In Karl Kraus’ Tragödie Die letzten Tage der Menschheit über den Ersten Weltkrieg wird in der 13. Szene des zweiten Akts ein „Wanderers Schlachtlied“ vorgestellt, das die letzten Verse Goethes durch diese ersetzt:

Der Hindenburg schlafet im Walde,
Warte nur balde
Fällt Warschau auch.[4]

Liturgie vom Hauch aus Bertolt Brechts Hauspostille von 1927 schildert in sechs Strophen mit einem Refrain, der Wandrers Nachtlied parodiert, den Hungertod einer alten Frau; denn „das Brot, das fraß das Militär“. Zunehmender Protest: „ein Mensch müsse essen können, bitte sehr“, wird mit wachsender Brutalität erst von einem „Kommissar“ mit „Gummiknüppel“ und dann von „Militär“ mit „Maschinengewehr" niedergeschlagen. Der Refrain dreht Goethes Gedicht um, nennt, nachdem vom Tod in jeder Strophe bereits die Rede gewesen ist, zuerst die „Vögelein“ und kombiniert danach Goethes Gipfel, über denen Ruh ist, und seine Wipfel, in denen du kaum ein Hauch spürst, neu:

Darauf schwiegen die Vögelein im Walde.[5]
Über allen Wipfeln ist Ruh
In allen Gipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.

In der siebten und letzten Strophe kommt schließlich „ein großer roter Bär einher“ (die Oktoberrevolution) und „fraß die Vögelein im Walde“.

Da schwiegen die Vögelein nicht mehr
Über allen Wipfeln ist Unruh
In allen Gipfeln spürest du
Jetzt einen Hauch.

Oft und gern wird folgende Anekdote kolportiert: „1902 war Ein Gleiches ins Japanische übersetzt worden, 1911 wurde es aus dieser Sprache ins Französische übertragen und aus dem Französischen kurz darauf ins Deutsche, wo es als japanisches Gedicht unter dem Titel Japanisches Nachtlied in einer Literaturzeitschrift abgedruckt wurde."[6]

Stille ist im Pavillon aus Jade
Krähen fliegen stumm
Zu beschneiten Kirschbäumen im Mondlicht.
Ich sitze
Und weine.

Eine Primärquelle, insbesondere die deutsche „Literaturzeitschrift“, wird allerdings nie namhaft gemacht. Es dürfte sich mithin um eine parodistische Mystifikation handeln, die inzwischen allerdings wie eine moderne Sage vielfach für bare Münze genommen wird.

In Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt wird Alexander von Humboldt, in einem Boot unterwegs auf dem Rio Negro, von seinen Begleitern gebeten,

„auch einmal etwas zu erzählen.
Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt... Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt...
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein...“ [7]

Walter Moers' Fantasy-Roman Die Stadt der Träumenden Bücher präsentiert Goethes Gedicht als Der Nurnenwald des zamonischen Dichters Ojahnn Golgo van Fontheweg, bei dem Goethes "Vögelein" durch "Nurnen" ersetzt sind, meterhohe, blutrünstige Tiere mit acht Beinen, die Bäumen ähneln und deshalb im Wald kaum zu erkennen sind.

Weblinks

 Wikisource: Wandrers Nachtlied – Quellen und Volltexte
 Wikisource: Ein Gleiches – Quellen und Volltexte

Literatur

  • Wulf Segebrecht: Goethes Gedicht über allen Gipfeln ist Ruh und seine Folgen. Texte, Materialien, Kommentar. Carl Hanser, 1978, ISBN 3-446-12499-3
  • Uwe C. Steiner: Gipfelpoesie. Wandrers Leiden, Höhen und Tiefen in Goethes beiden Nachtliedern. In: Bernd Witte (Hrsg.): Gedichte von Johann Wolfgang Goethe (Interpretationen). Philipp Reclam jun., Stuttgart 1995, ISBN 3-15-017504-6

Einzelnachweise

  1. Fisches Nachtgesang
  2. ders., Christian Morgenstern, Rowohlts Monographien, 1964, Seite 79
  3. Abendgebet einer erkälteten Negerin auf Wikisource
  4. http://www.spiegel.de/kultur/gutenberg/dokument-GBA_colon__slash_kraus_slash_letzttag_slash_letzttag.xml_hash_chap004-name.html
  5. alternativ: 12 „Auch die Vögelein schwiegen im Walde“ bzw. 24 „Und jetzt schweigen die Vögelein im Walde“
  6. Dagmar Matten-Gohdes: Goethe ist gut – Ein Lesebuch. Beltz und Gelberg, Weinheim / Basel 1982, 2006 S. 66 in der Google Buchsuche
  7. Rowohlt Reinbek, 2005, Seite 127 f.

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