Warenfetisch

Warenfetisch

Als Warenfetisch bezeichnet Karl Marx in seinem Hauptwerk Das Kapital (1867) das quasireligiöse dingliche Verhältnis zu Produkten, die Menschen in arbeitsteiliger Produktion bzw. gesellschaftlicher Arbeit füreinander herstellen.

Einem Fetisch werden Eigenschaften oder Kräfte zugeschrieben, welche dieser in Wahrheit nicht besitzt. Schon zu Marx’ Zeiten wurde der Begriff „Fetisch“ in erster Linie in Zusammenhang mit animistischen Religionen benutzt. In seinem Hauptwerk Das Kapital (Erster Band, 1867) überträgt Marx den Fetischbegriff auf Erscheinungen der politischen Ökonomie: Im Kapitalismus würden den Waren, dem Geld und schließlich dem Kapital Eigenschaften zugeschrieben, die diese in Wahrheit nicht haben. Infolgedessen würde

„„die der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche, und aus ihrem Wesen entspringende fetischistische Anschauung, welche ökonomische Formbestimmtheiten, wie Ware zu sein, produktive Arbeit zu sein etc., als den stofflichen Trägern dieser Formbestimmtheiten oder Kategorien an und für sich zukommende Eigenschaft betrachtet.“[1]

Der Kerngedanke lautet: So wie Gott, als ein Geschöpf menschlichen Denkens, seinen Schöpfer beherrscht, erscheinen den Produzenten die von ihnen produzierten Waren wie ein Fetisch, obwohl sie nur Vergegenständlichungen ihrer Arbeit sind.

Der Geldfetisch und der Kapitalfetisch stellen logische Weiterentwicklungen des Warenfetischs dar.

Inhaltsverzeichnis

Der Warenfetisch

In vorkapitalistischen Gesellschaften waren Warenproduktion und Warentausch stets nur Randphänomene. Der weit überwiegende Teil der Gesellschaft bestand aus Bauern, die ihre Arbeitsprodukte nicht verkauften, sondern selbst konsumierten. Wenn mittelalterliche Bauern einen Teil ihrer Ernte an den Lehnsherren abgeben mussten, so nicht darum, weil der Lehnsherr diese Produkte als Waren verkaufte, sondern weil er, seine Familie, seine Beamten, Soldaten usw. diese unmittelbar selbst konsumierten. Der Kapitalismus dagegen wird nach Marx dadurch charakterisiert, dass in ihm alle Arbeitsprodukte zu Waren werden, also über einen Markt getauscht werden. In einer Gesellschaft, in der praktisch alle Produkte als Waren getauscht werden, brauche man einen allgemein gültigen Maßstab für den Tausch. Soweit die Waren Arbeitsprodukte sind, sei der Maßstab die in ihnen vergegenständlichte Arbeit. Vereinfacht ausgedrückt: Wird zur Produktion der Ware X doppelt so viel Arbeitszeit aufgewandt wie zur Produktion der Ware Y, so tauschen sich die Waren X und Y im Verhältnis 1:2. Ein Stück der Ware X ist genau so viel wert wie zwei Stück der Ware Y. Dieses Austauschverhältnis bestimme den so genannten „Wert“ der Ware, der sich in einem bestimmten Geldwert ausdrückt. Der Wert sei also ein Verhältnis zwischen (mindestens) zwei Waren, genauer gesagt ein Verhältnis zwischen den zur Herstellung der verschiedenen Waren aufgewandten Arbeit. Der Wert drücke deshalb ein gesellschaftliches Verhältnis aus. Dieser gesellschaftliche Charakter des Wertes werde allerdings verdeckt durch den Schein, als hätten die Produkte „von Natur aus“ und über alle historischen Produktioneverhältnisse hinweg die Eigenschaft, „Ware“ zu sein bzw. „Wert“ zu besitzen:

„„Dass Arbeitsprodukte, solche nützlichen Dinge wie Rock, Leinwand, Weizen, Eisen u. s. w., Werte, bestimmte Wertgrößen und überhaupt Waren sind, sind Eigenschaften, die ihnen natürlich nur in unsrem Verkehr zukommen, nicht von Natur, wie etwa die Eigenschaft schwer zu sein oder warm zu halten oder zu nähren.““

Marx, Das Kapital, Band 1, Erstausgabe Erstes Kapitel

Der Warenfetisch bestehe also darin, dass den Produkten die Eigenschaften, Ware zu sein und Wert zu besitzen, als dingliche Eigenschaften zugesprochen wird, während es sich in Wirklichkeit bei „Ware“ und „Wert“ um gesellschaftlich bestimmte Zuschreibungen handelt. Der gesellschaftliche Charakter ihrer eigenen Arbeit erscheine den Menschen daher als gegenständlicher Charakter der Arbeitsprodukte selbst, als deren Natureigenschaften. Das hinter dem „Wert“ verborgene gesellschaftliches Verhältnis erscheine „unter dinglicher Hülle versteckt“.

Marx vergleicht diesen Vorgang mit der Religion:

„„Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.““

Marx: Das Kapital, Erster Band, Zweite Auflage, MEW 23,86

Die Illusion einer scheinbaren Verselbständigung der Waren gegenüber ihren Produzenten beruhe indes nicht nur auf einem falschen Bewusstsein, sondern habe einen realen Kern: Weil die Produzenten unabhängig voneinander produzieren, im Produktionsprozess also keine unmittelbare Gesellschaftlichkeit gegeben ist, muss eine nachträgliche „Vergesellschaftung“ über den Wert erfolgen. Im kapitalistischen Alltag stelle sich erst im Warenaustausch heraus, ob ein Produkt ein Bedürfnis erfüllt und welchen Wert es hat. Dieser Wert könne wechseln, wenn die Produktivkraft wechselt, also wenn eine gesellschaftliche Veränderung stattfindet. Es scheine aber so, als würde die Ware selber den Wert wechseln: „Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“[2] Die Aufhebung des Warenfetisch setzt also für Marx die Aufhebung der Warenproduktion selbst voraus. Indem der Warenfetisch die tatsächlichen sozialen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder verschleiere und die Warenform der Produkte als zeitlos „fetischisiere“, erschwere der Warenfetisch diese Aufhebung jedoch.

Der Geldfetisch

Der Tauschwert erhält nach Marx im Geld eine eigene Existenzweise. Geld habe im Gegensatz zu den anderen Waren keinerlei Gebrauchswert, sondern nur Tauschwert. Dadurch verstärke sich der Fetischismus noch. Geld wird die Eigenschaft zugeschrieben, „an sich“ Wert zu haben bzw. Wert zu sein. So erscheine das Geld fälschlicherweise geradezu als die Substanz der übrigen Waren, anstatt als deren Wertausdruck:

„„Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die anderen Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist.“ Im Geld fänden die übrigen Waren „ihre eigne Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper.““

Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23: 107

Eben weil die schöpferische Arbeit in der Gestalt des Geldes unsichtbar sei, erscheine das Geld als eigene Macht: „Daher die Magie des Geldes.“[3]

Der Kapitalfetisch

Nach Marx gibt es nicht nur einen Warenfetisch, sondern auch einen das Kapital betreffenden Fetischismus. Dieser liege - analog zum Warenfetischismus - darin, dass dem Kapital eine ihm in Wirklichkeit nicht innewohnende Eigenschaft zugesprochen werde, nämlich die Eigenschaft, aus sich selbst heraus Mehrwert zu bilden. Ihre „äußerlichste und fetischartigste Form“[4] erreiche das Kapital mit der Stufe des zinstragenden Kapitals. Im Zins sei die scheinbare Selbstverwertung des Kapitals auf die Spitze getrieben. „G–G', Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertender Wert, ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt.“[4]

„„Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltlose Form. […] In G-G' haben wir die begriffslose Form des Kapitals, die Verkehrung und Versachlichung der Produktionsverhältnisse in der höchsten Potenz: zinstragende Gestalt, die einfache Gestalt des Kapitals, worin es seinem eignen Reproduktionsprozeß vorausgesetzt ist; Fähigkeit des Geldes, resp. der Ware, ihren eignen Wert zu verwerten, unabhängig von der Reproduktion - die Kapitalmystifikation in der grellsten Form.““

Marx: Das Kapital Bd. 3, MEW 25: 405

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Berlin 2009, S. 131
  2. Marx, MEW 23,89.
  3. Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23: 107
  4. a b Marx, Das Kapital Bd. 3, MEW 25: 404

Literatur

  • Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre – Die methodische Irrationalität der ökonomischen Basistheorien des ‚Kapitals‘. Hoffmann und Campe, Hamburg 1972
  • Konrad Lotter, Reinhard Meiners, Elmar Treptow: Marx-Engels-Begriffslexikon. Beck, München 1984, Seite 103-105. ISBN 340609273X
  • Dieter Wolf, [1] Warenfetisch und dialektischer Widerspruch in: Dieter Wolf, Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg 2002, ISBN 3-87975-889-1
  • Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006 (Kapitel 3: Der Warenfetischismus)

Weblinks


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