Wehrkraftzersetzung

Wehrkraftzersetzung

Zersetzung der Wehrkraft“ (umgangssprachlich: „Wehrkraftzersetzung“) ist ein Begriff des nationalsozialistischen Militärrechts der Wehrmacht.

Zum Zwecke der Verfolgung aller Äußerungen und Handlungen, die das nationalsozialistische Herrschaftssystem oder dessen Träger angreifen sowie möglicherweise die Kampfkraft der Truppe schwächen könnten, wurden bislang genauer definierte Paragraphen des Militärstrafgesetzbuches zusammengefasst und als Tatbestand „Zersetzung der Wehrkraft“ neu definiert. So konnten bereits „demotivierende Äußerungen“ wie Zweifel am „Endsieg“ für das nationalsozialistische Deutsche Reich, jegliche Kritik an dessen politischen und militärischen Führern und dessen Staatsform mit schweren Freiheitsstrafen (in Wehrmachtgefängnissen, Lagern, (Feld)straf- oder Bewährungseinheiten etc.) oder mit dem Tode geahndet werden. Insbesondere wegen Kriegsdienstverweigerung Verurteilte wurden häufig zusätzlich wegen „Wehrkraftzersetzung“ bestraft - begründet wurde dies durch die mögliche negative Beeinflussung anderer durch Ablehnung der Wehrpflicht, auch wenn die Verweigerung ohne jegliche Öffentlichkeit erfolgt war. Wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ wurden auch viele Zivilisten vor Wehrmachtgerichten verurteilt.

Der Deutsche Bundestag hob erst nach langen Debatten mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege - NS-AufhG - vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2501) und mit einer Ergänzung vom 23. Juli 2002 (BGBl. I S. 2714) alle Urteile der NS-Militärjustiz wegen Kriegsdienstverweigerung, Fahnenflucht und „Zersetzung der Wehrkraft“ insgesamt als Unrecht auf. Die heutigen Soldatengesetze der Bundesrepublik Deutschland verfügen weder über den Begriff der „Zersetzung der Wehrkraft“ noch über entsprechend weitgehende Regelungen. Einzelne Tatbestände, die in der Zeit des Nationalsozialismus unter „Wehrkraftzersetzung“ fielen, sind allerdings in recht vager Form auch in bundesdeutschen Gesetzen enthalten; so ist z. B. „Störpropaganda“ gegen die Bundeswehr auch in Deutschland eine Straftat.

Definition des Begriffs der „Zersetzung der Wehrkraft“ im nationalsozialistischen Militärrecht

Mit der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) wurde der Begriff „Zersetzung der Wehrkraft“ juristisch gefestigt und damit insbesondere für die Militärjustiz der Wehrmacht eine weitere Möglichkeit zur Kriminalisierung von Kritik, Dissens und jeglichem abweichenden Verhalten gegenüber der politischen und militärischen Führung geschaffen. Die Definition der „Zersetzung der Wehrkraft“ in der am 17. August 1938 erlassenen KSSVO ist äquivalent zum „Heimtückegesetz“ vom 20. Dezember 1934 und stellt eine Steigerung des selbigen dar. Kritische Äußerungen der Soldaten konnten bis dahin bloß als Verstoß gegen das „Heimtückegesetz“ mit Gefängnis bestraft werden, die KSSVO ermöglichte die Verhängung der Todesstrafe, nur in minder schweren Fällen waren Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen vorgesehen.

Mit der Einführung der „Kriegsstrafverfahrensordnung“ (KStVO) wurde den Angeklagten gleichzeitig jede Berufungsmöglichkeit genommen und ihre Verfahrensposition somit weiter geschwächt. Wie groß der Entscheidungsspielraum und das Maß an Willkür der Militärrichter war, zeigt folgendes Zitat des Chefs des Allgemeinen Marinehauptamtes Admiraloberstabsarzt Prof. Dr. med. Alfred Fikentscher bei einer Tagung vor Militärjuristen 1942:

…ähnliche Verhältnisse liegen bei den zersetzenden Äußerungen vor, die als Verstöße gegen das Heimtückegesetz gesehen werden können. Die langwierige Vorlage beim Justizminister zur Anordnung der Strafverfolgung erübrigt sich, wenn Sie die Äußerung als Zersetzung der Wehrkraft anpacken, was in fast allen Fällen möglich sein wird.

Die im Zuge der Vorbereitungen für die Angriffs- und Vernichtungsfeldzüge der Wehrmacht geschaffene Verordnung diente in den Kriegsjahren tatsächlich als Terrorinstrument und zur Aufrechterhaltung des „Durchhaltewillens“ der Soldaten durch Zwang. Gerade im späteren Verlauf des Kriegs war die Angst der NS- und Wehrmachtsführung vor Ereignissen wie in der Novemberrevolution 1918 sehr groß; jeder aufkeimende Widerstand sollte mit allen Mitteln erstickt werden, um eine Wiederholung des vermeintlichen „Dolchstoßes“ zu verhindern.

Anfang 1943 ging die Zuständigkeit auf den Volksgerichtshof über, der leichte Fälle an die bei den Oberlandesgerichten eingerichteten Sondergerichte abgeben konnte. Der Volksgerichtshof verhängte in der Regel die Todesstrafe.

In §5 der KSSVO heißt es:

Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft … wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zersetzen versucht.

Anscheinend bot das Wort „öffentlich“ einigen Interpretationsspielraum: Selbst Äußerungen im Kreise der Familie konnten gegen den Angeklagten verwandt werden. Die vage Formulierung der Verordnung ermöglichte es, jede Art von Kritik zu kriminalisieren, auch bei Zivilisten. Hierdurch war der Denunziation ganz vorsätzlich ein Angriffspunkt gegeben worden, um die Kontrolle über die Bevölkerung noch umfassender zu machen. Dass „Wehrkraftzersetzung“ im „Dritten Reich“ keineswegs als Kavaliersdelikt galt, zeigt folgender Erlass des Chefs der Nationalsozialistischen Führungsoffiziere der Luftwaffe vom 1. November 1944:

Es ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden, daß, wer an dem Führer Zweifel äußert, ihn und seine Maßnahmen kritisiert, über ihn herabsetzende Nachrichten verbreitet oder ihn verunglimpft, ehrlos und todeswürdig ist. Weder Stand noch Rang, noch persönliche Verhältnisse oder andere Gründe können in einem solchen Fall Milde rechtfertigen. Wer in der schwersten entscheidenden Zeit des Krieges Zweifel am Endsieg äußert und dadurch andere wankend macht, hat sein Leben ebenfalls verwirkt!

Als weitere Zersetzungsbeispiele seien angeführt, u.a.:

  • Äußerungen gegen die nationalsozialistische Weltanschauung,
  • Zweifel an der Berechtigung des uns aufgezwungenen Lebenskampfes […]
  • Verbreitung von Nachrichten über Kampfmüdigkeit und Überlaufen deutscher Soldaten
  • Zweifel am Wehrmachtbericht
  • das Pflegen von privatem Umgang mit Kriegsgefangenen
  • Herabsetzung der als wichtiges Kampfmittel im Kriege eingesetzten deutschen Propaganda
  • Erörterungen der Möglichkeiten bei Verlust des Krieges,
  • die Behauptung, dass der Bolschewismus „so schlimm nicht sei oder daß die Demokratie unserer westlichen Nachbarn in Erwägung gezogen werden könne“.

Mit sogenannten Defätisten, deren Äußerungen keinerlei militärische Auswirkungen hatten, wurde Kurzer Prozess gemacht. So wurde der Heilgymnast und Masseur Norbert Engel zum Tode verurteilt, nachdem er gegenüber einer Krankenschwester Bedauern über das Scheitern des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 geäußert hatte: „Wenn es geklappt hätte, wäre in fünf Tagen der Krieg aus gewesen und wir hätten nach Hause gehen können.“ Engel konnte sich jedoch durch Flucht seiner Hinrichtung entziehen.

Die Einführung der KSSVO läutete eine neue Stufe der Verfolgung politischer Gegner der Nationalsozialisten ein, der viele Tausend zum Opfer fielen. Bis zum 30. Juni 1944 sind laut Wehrmachtkriminalstatistik 14.262 Verurteilungen wegen „Wehrkraftzersetzung“ ergangen, laut Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt dürfte die Zahl der während des Kriegs Verurteilten bei 30.000 gelegen haben. Die Zahl der Verurteilungen und der Anteil der Todesurteile zum Ende des Krieges nahm stetig zu, denn in dem Maße, in dem die Kampfhandlungen verlustreicher wurden und der erhoffte „Endsieg“ in immer weitere Ferne rückte, mehrten sich kritische Äußerungen. Aufgrund der Formulierung der Verordnung ging einer Verurteilung in der Regel eine Denunziation durch Kameraden voraus, vereinzelt wurden die Betroffenen auch durch Äußerungen in Briefen oder Parolen an Wänden überführt. Dass nicht noch mehr Kritikäußernde verurteilt wurden, hängt wohl mit der Natur einer Denunziation zusammen: Ein potenzieller Denunziant konnte wohl kaum sicher sein, im Verlauf der Ermittlungen nicht selbst solche Äußerungen vorgeworfen zu bekommen. Der Tatsache, dass jeder Soldat hinsichtlich der möglichen Konsequenzen wehrkraftzersetzender Äußerungen belehrt wurde, dürfte als Hemmschwelle zur Meldung wohl zu verdanken sein, dass nicht noch mehr Menschen Opfer der Militärjustiz wurden.

Bundesrepublik Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland ist die Ahndung einzelner Delikte, die in der Zeit des Nationalsozialismus unter „Zersetzung der Wehrkraft“ fielen, durch §§ 109-109 k des Strafgesetzbuches (Straftaten gegen die Landesverteidigung) geregelt - der Begriff selbst und entsprechend weite Möglichkeiten der Bestrafung finden sich allerdings nicht. Besonders anzumerken ist der § 109 d (Störpropaganda gegen die Bundeswehr), der wahrheitswidrige Äußerungen unter Strafe stellt, die die „Tätigkeit der Bundeswehr stören“, sowie § 109 StGB (Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung).

Literatur

  • Peter Hoffmann: Der militärische Widerstand in der zweiten Kriegshälfte 1942–1944/45. In: Heinrich Walle (Hrsg.): Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945. 4. durchgesehene und wesentlich erweiterte Auflage. Mittler, Berlin u. a. 1994, ISBN 3-8132-0436-7, S. 223–248.
  • Kristian Kossack: Vergessene Opfer, verdrängter Widerstand. herausgegeben vom deutschen Versöhnungsbund, Gruppe Minden.
  • Gerhard Paul: Ungehorsame Soldaten. Dissens, Verweigerung und Widerstand deutscher Soldaten (1939–1945). Röhrig Universitäts-Verlag, St. Ingbert 1994, ISBN 3-86110-042-8 (Saarland-Bibliothek 9).
  • Norbert Haase, Gerhard Paul (Hrsg.): Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg. Fischer Taschenbuchverlag GmbH, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-596-12769-6 (Fischer 12769 Geschichte – Die Zeit des Nationalsozialismus).
  • Frithjof Päuser: Die Rehabilitierung von Deserteuren der Deutschen Wehrmacht unter historischen, juristischen und politischen Gesichtspunkten mit Kommentierung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (NS-AufhG vom 28.05.1998). Universität der Bundeswehr, München 2005 (Dissertation).
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