Wiener Literatencafé

Wiener Literatencafé

Als Kaffeehausliteratur werden literarische Werke bezeichnet, die ganz oder zumindest teilweise in einem Kaffeehaus geschrieben wurden. Die Autoren wurden Kaffeehausliteraten genannt. Das Zentrum dieser Literaturform war Wien, aber Kaffeehausliteratur entstand auch in anderen europäischen Städten.

Die Epoche der Kaffeehausliteratur

Geschichtsträchtig, wechselhaft und widersprüchlich war jene Epoche, die mit der Blütezeit der Wiener Kaffeehausliteratur zusammenfiel. Dabei handelte es sich um jene Periode zwischen 1890 und 1938, zu deren Beginn sich der Untergang der Habsburger Monarchie vollzogen hat, bis zum Anschluss Österreichs an Deutschland. Aber nicht nur die wechselhaften politischen Ereignisse haben Österreich während dieser Jahre gebeutelt und schließlich geformt. Seine großen schöpferischen Leistungen in der Literatur, Architektur, Malerei und Musik sowie das Kunstschaffen im Allgemeinen haben nicht unwesentlich dazu beigetragen jene verhängnisvollen Jahre in der Erinnerung der Menschheit zu halten.

Scharf eingrenzen lässt sich die Zeit der Kaffeehausliteratur nicht. Wenn auch die Hochblüte der Wiener Kaffeehausliteratur seit dem Zeitpunkt des Einmarsches Hitlers in Österreich vorbei zu sein scheint, so gibt es doch spärliche Reste davon bis in unsere Gegenwart, immer wieder tauchen Spuren davon auf, wenn auch in veränderter Form und Gestalt.

Der Beginn der Hochblüte der Wiener Kaffeehausliteratur fällt in die Zeit des Fin de siècle, dem vom Verfall geprägten Ende des 19. Jahrhunderts, und ihr Ende zwangsläufig auf den Zeitpunkt des Anschlusses Österreichs und den Beginn der Judenverfolgung. Das typische Wiener Kaffeehaus gab es natürlich schon lange Jahre zuvor und existiert heute in veränderter Form noch immer, aber seine besondere Ausprägung erfuhr es während der Hochblüte der Wiener Kaffeehauskultur. Man möchte fast behaupten, das eine Phänomen wäre ohne das andere nicht möglich gewesen.

Das Kaffeehaus selbst wurde durch sein intellektuelles Klientel geadelt und erreichte nie wieder dagewesene Höhen. Geist und Kultur jener Zeit hätten sich ohne das Ambiente des Kaffeehauses nie im erreichten Maße ausbilden und verbreiten können. Insgesamt fielen diese Ereignisse in die Zeit der, zumindest teilweisen, Emanzipation des Jüdischen Bürgertums in der Habsburger Monarchie. Gerade das jüdische Großbürgertum war es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das die Säulen von Kultur und Wissenschaft in jener widersprüchlichen Epoche bildete. Das Phänomen „Wiener Kaffeehausliteratur“ beschränkte sich nicht nur auf Wien selbst, sondern ist auf alle Städte der Monarchie übertragbar, die sich im direkten Einflussbereichs der Hauptstadt befanden, so zum Beispiel auf Budapest, Pressburg, Brünn, Iglau und besonders natürlich auf Prag. So gab es ähnliche Wirkungsstätten in Zürich, Berlin und natürlich auch in Paris. Man traf sich im „Romanischen Café“ oder im „Größenwahn“ in Berlin, ebenso wie im Prager „Continental“ oder „Arco“, im Budapester „Abbazia“ oder im Zürcher „Odeon“, im Pariser „Café du Dôme“ oder „Café Flore“ und im Café „Verbano“ in Ascona.

Zu einem letzten zaghaften Aufflackern des Geistes der Wiener Kaffeehauskultur kam es schließlich und endlich in jenen Ländern und Städten, in die es die Akteure in die Emigration getrieben hat, bevor er schließlich endgültig verglomm.

Insgesamt gab es während der Blütezeit der Wiener Kaffeehausliteratur zwei Höhepunkte mit einem jeweils folgenden Niedergang. Die erste Hochblüte fiel auf den „Fin de Siècle“ und endete mit dem Ersten Weltkrieg, da das Ende der Monarchie auch ein Ende des Einflusses des Großbürgertums auf die Geschicke der Zeit bedeutete. Der Geist der Monarchie konnte sich jedoch beinahe unverändert in die Zwischenkriegszeit hinüberretten, bevor er mit dem Einmarsch Hitlers in Österreich endgültig und unwiderruflich ausgelöscht wurde. Es waren dann auch dieselben Charaktere, im Tun und Denken noch der untergegangen Monarchie verhaftet, welche die zweite Hochblüte der Kaffeehausliteratur, die etwa mit der Zeit der Weltwirtschaftskrise zusammenfiel, begründeten. Jedenfalls ist festzustellen dass zu Zeiten besonderer wirtschaftlicher Not immer ein ausgeprägter Drang zum Kaffeehausleben herrschte. Daher ist es mehr als verständlich, dass zu jenen Epochen besonders viele Kaffeehäuser entstanden sind.

Kaffeehausliteraten

Stefan Zweig beschreibt in „Die Welt von Gestern“ rückblickend auf seine Jugendjahre im Kaffeehaus. Als Gymnasiast hatte er die letzten Atemzüge des Griensteidl noch miterlebt. Für ihn, den die Schule langweilte, stellte das Kaffeehaus „die beste Bildungsstätte für alles Neue“ dar, und so sog er in der Clique seiner gleichgesinnten Freunde gierig alles in sich auf, was er dort als Anregungen von den Älteren bekommen konnte.

„Das Wiener Kaffeehaus stellt eine Institution besonderer Art dar, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann“. Und weiter: „So wussten wir alles, was in der Welt vorging, aus erster Hand, wir erfuhren von jedem Buch, das erschien, von jeder Aufführung und verglichen in allen Zeitungen die Kritiken; nichts hat so viel zur intellektuellen Beweglichkeit des Österreichers beigetragen, als dass er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge der Welt umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen Kreise diskutieren konnte. Täglich saßen wir stundenlang, und nichts entging uns. Denn wir verfolgten dank der Kollektivität unserer Interessen den orbis pictus der künstlerischen Geschehnisse nicht mit zwei, sondern mit zwanzig und vierzig Augen (…)“

Zum Stammpublikum dieser Kaffeehäuser gehörten:

Alfred Adler, Peter Altenberg, Hermann Bahr,Richard Beer-Hofmann, Hermann Broch, Arthur Schnitzler, Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal, Anton Kuh, Egon Friedell, Karl Kraus, Adolf Loos, Alfred Polgar, Oskar Kokoschka, Robert Musil, Joseph Roth, Franz Werfel, Friedrich Torberg und Ernst Polak.

Beispiele und Literatur

  • Peter Altenberg: Kaffeehaus, aus: Vita ipsa. Berlin 1918; So wurde ich. Stammgäste, aus: Semmering. Berlin 1913; Nachtcafé, aus: Neues Berlin. Berlin 1911
  • Géza von Cziffra: Anton Kuh, der Schnorrer-König, aus: Der Kuh im Kaffeehaus. Die goldenen Zwanziger in Anekdoten. München–Berlin, 1981
  • Heimito von Doderer: Meine Caféhäuser, aus: Franz Hubmann: Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Wien 1982
  • Milan Dubrovic: Diagnose des Literaturcafés. Ein Literat ohne Werk aus: Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literaturcafés. Wien–Hamburg 1985
  • Friedrich Hansen-Löwe: Kaffeehausgesellschaft, aus: Franz Hubmann: Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Wien 1982
  • André Heller: Ein Ort der selbstverständlichen Täuschungen, aus: Franz Hubmann: Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Wien 1982
  • Ernst Hinterberger: Die Kaffeehäuser der anderen. Mein Kaffeehaus. 1997
  • Ludwig Hirschfeld: Kaffeehauskultur aus: Das Buch von Wien. Was nicht im Baedeker steht. 1927
  • Gina Kaus: Leben im Herrenhof aus: Und was für Leben … mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg 1979
  • Oskar Kokoschka: Über Adolf Loos. Karriere im Café Central, aus: Mein Leben. München 1971
  • Karl Kraus: Die demolierte Literatur, aus: Frühe Schriften 1892–1900. Frankfurt am Main 1988
  • Anton Kuh: Central und Herrenhof. Lenin und Demel aus Luftlinien. Wien 1981; Zeitgeist im Literaturcafé. Café de l’Europe. Wien 1983
  • Ernst Molden: Der Teufel im Prückel, aus: Die Krokodilsdame. München 1997
  • Alfred Polgar: Die Theorie des Café Central, aus: Kleine Schriften. Reinbek 1983
  • Felix Salten: Aus den Anfängen. Erinnerungsskizzen, aus: Jahrbuch deutscher Bibliophilen und Literaturfreunde. Berlin 1933
  • Hilde Spiel: Heimkehr ins Herrenhof, aus: Rückkehr nach Wien. Tagebuch. München 1968
  • Friedrich Torberg: Traktat über das Wiener Kaffeehaus. Sacher und Wider-Sacher, Café de l’Europe – Café Imperial, aus: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München 1975
  • Hans Weigl: Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung, aus: Das Wiener Kaffeehaus. Wien–Zürich–München 1978
  • Franz Werfel: Im Kaffeehaus für Gott und Lenin, aus: Barbara oder die Frömmigkeit. Berlin–Wien–Leipzig 1929; Der letzte Kaffeehausliterat, aus: Zwischen Oben und Unten. München–Wien 1975
  • Susanne Widl: Eine kleine Kaffeehausphilosophie. 1997
  • Stefan Zweig: Das Kaffeehaus als Bildungsstätte. Jugend im Griensteidl, aus: Die Welt von gestern. Stockholm 1944
  • Christoph Braendle: Kaffeehausblues, aus Wiener Sonaten, 1998

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