Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch

Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch
Victor Serge

Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch (russisch Виктор Львович Кибальчич, wiss. Transliteration Viktor Lvovič Kibalčič; * 30. Dezember 1890 in Brüssel; † 17. November 1947 in Mexiko-Stadt), bekannt unter dem Pseudonym „Victor Serge“, war ein Schriftsteller und Revolutionär.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kibaltschitschs Eltern waren politische Flüchtlinge aus Russland, die der revolutionären Organisation Narodnaja Wolja angehörten. Zunächst schloss sich der junge Wiktor Kibaltschitsch der belgischen sozialistischen Jugendorganisation Jeunes Gardes an, die er wegen seiner Abneigung gegen den Reformismus bald verließ. Mit 19 Jahren siedelte Kibaltschitsch nach Paris über und schloss sich dort der anarchistischen Szene an und wurde Mitherausgeber der Zeitschrift L'Anarchie. Wegen seiner Unterstützung der sogenannten Bonnot-Bande, einer anarchistischen Gruppe, die auch Enteignungen und Anschläge durchführte, wurde er 1912 zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung 1917 siedelte er nach Barcelona über (hier nahm er den Namen Serge an), wo er an der anarcho-syndikalistischen Zeitung Tierra y Libertad mitwirkte und am Aufstand im Juli 1917 teilnahm.

Nach der Russischen Revolution

Nachdem Kibaltschitsch von dem Ausbruch der russischen Revolution erfuhr, versuchte er, nach Russland zu gelangen, wurde aber auf dem Weg dorthin über ein Jahr in Frankreich als „verdächtiger Ausländer“ inhaftiert und kam erst im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei. Dort im Januar 1919 angekommen, schloss er sich, trotz großer Skepsis und Bedenken gegenüber dem Vorgehen der Bolschewiki, der Kommunistischen Partei an, um die Revolution zu unterstützen. Dabei ging er davon aus, dass die Umstände (der von den Weißgardisten und imperialistischen Mächten angezettelte Bürgerkrieg) einerseits einen objektiven Druck erzeugten, diese Umstände aber auch nicht alles (wie beispielsweise die Gründung der Tscheka und Repression gegen andere Linke) rechtfertigten. Kibaltschitsch beteiligte sich in den nächsten Jahren vor allem am Aufbau der Kommunistischen Internationalen und arbeitete dabei eng mit Sinowjew zusammen.

Die Forderung des Aufstandes in Kronstadt im März 1921 hielt Kibaltschitsch für gerechtfertigt und vernünftig (zumal sein Schwiegervater zu den Beteiligten gehörte), andererseits fürchtete er auch, dass eine Niederlage der Bolschewiki den Beginn der (weißen) Konterrevolution markieren würde. Nach diesen Ereignissen zog Kibaltschitsch sich desillusioniert aus der Politik zurück und versuchte zusammen mit seinem Schwiegervater, Alexander Roussakow, auf einem verlassenen Gut in der Nähe Petrograds eine landwirtschaftliche Kommune aufzubauen, was aber schnell an der Feindschaft der örtlichen Bauern scheiterte. Kibaltschitsch ging nun für die Komintern nach Deutschland und war an der Planung des gescheiterten Aufstandes vom Herbst 1923 beteiligt.

In der Linken Opposition

Zurück in Russland, schloss sich Kibaltschitsch der Linken Opposition um Trotzki an, der wichtigsten innerparteilichen Oppositionsgruppe gegen den Stalinismus. Nach deren Zerschlagung und Verbot wurde Kibaltschitsch 1927 aus der Partei ausgeschlossen und zunächst für einige Wochen verhaftet, nach einer Solidaritätskampagne französischer Freunde aber zunächst freigelassen. Kibaltschitsch gehörte neben Trotzki und Sapronow zu der Minderheit der innerparteilichen Oppositionellen, die nie vor Stalin kapitulierten.

Die nächsten fünf Jahre verbrachte Kibaltschitsch mit der Abfassung von mehreren Romanen und historischen Aufsätzen und Studien, die nach Frankreich geschmuggelt und dort teilweise publiziert wurden. Die Zeit von 1928 bis 1933 war von ständigen Schikanen seitens der Geheimpolizei gekennzeichnet, die bei seiner Lebensgefährtin Liuba zum Ausbruch einer psychischen Krankheit führten. 1933 wurde Kibaltschitsch auf Grund eines von seiner Schwägerin erpressten Geständnisses zu drei Jahren Verbannung in Orenburg/Ural verurteilt. Dort baute er gemeinsam mit seinem Sohn und anderen Verbannten eine Oppositionsgruppe auf. 1936 konnte Kibaltschitsch nach einer weiteren Solidaritätskampagne seiner Unterstützer (darunter sind vor allem die Schriftsteller Romain Rolland und Magdaleine Paz zu nennen) die Sowjetunion verlassen, was ihm in Anbetracht der beginnenden Großen Säuberung in der Sowjetunion das Leben rettete. In Belgien erhielten er und seine Familie politisches Asyl, sie siedelten aber bald nach Paris über.

Im Exil

Von dort nahm er zunächst Kontakt mit dem ebenfalls exilierten Trotzki auf, überwarf sich mit diesem aber schnell. Hauptgründe hierfür waren Kibaltschitschs Kritik an Trotzkis Haltung zum Kronstädter Aufstand 1921 und Meinungsverschiedenheiten zum spanischen Bürgerkrieg. 1940, nach der Niederlage Frankreichs floh Kibaltschitsch zunächst nach Marseille, von dort aus gelang es ihm, ein Einreisevisum nach Mexiko zu erlangen, wo er 1941 eintraf.

Dort war er ständigen Anfeindungen bis hin zu Mordanschlägen der örtlichen Stalinisten ausgesetzt. In relativer politischer Isolation und materieller Armut verbrachte er dort seine letzten Lebensjahre. Zu seinen engsten Freunden gehörten die Trotzki-Witwe Natalia Sedowa und der ehemalige POUM-Vorsitzende Julian Gorkin. Seine Schriften, in welchen er sich jetzt vor allem einem Neuentwurf eines antiautoritären Sozialismus widmete, wurden kaum noch publiziert. Im November 1947 verstarb Wiktor Kibaltschitsch an einem Herzanfall; Gerüchte, er sei vergiftet worden, konnten nie vollständig ausgeräumt werden.

Wiktor Kibaltschitsch ist der Vater des mexikanischen Murales-Malers Wladimir Kibaltschitsch (1922-2005).

Werke in deutscher Übersetzung

  • Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew. Hamburg 1950 (Europäische Verlagsanstalt). (Roman über die Repression im Stalinismus, posthum veröffentlicht)
  • Die Klassenkämpfe in der chinesischen Revolution von 1927. Frankfurt/Main 1975 (Neue Kritik). (zeitgenössische Kritik an der Kapitulationspolitik der chinesischen KP gegenüber dem Guomindang)
  • Die sechzehn Erschossenen: Unbekannte Aufsätze II. Hamburg 1977 (Assoziation) (Texte aus der Zeit um 1936 zum Stalinismus und den Moskauer Schauprozessen)
  • Erinnerungen eines Revolutionärs 1901 - 1941. Hamburg 1991 (Nautilus). (Autobiographie)
  • Eroberte Stadt. Frankfurt 1977 (Freie Gesellschaft). (Roman von 1932, welcher das Leben im revolutionären Petrograd 1918/19 schildert)
  • Für eine Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze. Hamburg 1975 (Assosziation). (politische Texte aus Serges letzten Lebensjahren)
  • Geburt unserer Macht. München 1976 (Trikont). (autobiographischer Roman von 1931, welcher den Aufstand 1917 in Barcelona zum Thema hat)
  • Jahre ohne Gnade. Wien 1981 (Europaverlag). (Roman über den zweiten Weltkrieg, 1946 vollendet)
  • Leo Trotzki. Leben und Tod. München 1981 (dtv). (unter Mitarbeit der Trotzki-Witwe Natalja Sedowa in den 1940er Jahren verfaßte Biographie)
  • Schriftsteller und Proletarier. Frankfurt/Main 1976 (Neue Kritik). (Streitschrift gegen die administrative Gängelung der Literatur in der Sowjetunion, ca. 1930)

kürzere Texte von Victor Serge sind in folgenden Büchern enthalten:

  • Eschen, Klaus/ Plogstedt, Sybille/ Sami, Renate/ Serge, Victor: Wie man gegen Polizei und Justiz die Nerven behält. Berlin 1973 (Rotbuch). (dieser Sammelband enthält einen Text von Serge zur Arbeit der zaristischen Geheimpolizei)
  • Kronstadt. Frankfurt/Main 1981 (ISP). (enthält u.a. einen Text von Serge zum Thema)

Weblinks


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