Wissenschaftspropädeutik

Wissenschaftspropädeutik

Propädeutik (aus gr. προ: vor und παιδεύω: bilden – Vorbildung) bedeutet Vorbildung, Vorübung, Vorunterricht, Einführung in eine Wissenschaft. In der klassischen Wissenschaftstheorie dient die Propädeutik der Einführung in wissenschaftliche Methodik und Sprache. Als allgemeine Propädeutik wird dabei die Logik angesehen. Davon abgeleitet werden Leistungskurse der gymnasialen Oberstufe als Propädeutik für ein wissenschaftliches Studium verstanden. Ein propädeutisches Seminar an der Universität vermittelt wichtige Grundkenntnisse für weitere Kurse.

Inhaltsverzeichnis

Propädeutik in der Antike

In der Antike wird sie als Vorbereitung auf die Philosophie verstanden. So will Platon den Heranwachsenden von "falschen Meinungen" und "Verhaftungen an Erscheinungen" lösen. Im Mittelalter bestand die Wissenschaftspropädeutik in der Vermittlung der "sieben freien Künste" (septem artes liberales) vor dem Studium an einer höheren Fakultät. Schon von Anfang an waren Gymnasien Schulen, die auf ein Hochschulstudium hinführen. Im Neuhumanismus soll die gymnasiale Bildung in forschendes Lernen an der Universität übergehen, wenn die Reife erreicht ist. Die verschiedenen Reformen der westdeutschen Gymnasialen Oberstufe ab 1972 standen ausdrücklich und gezielt im Zeichen einer besseren Studierfähigkeit und führten speziell zu diesem Zweck die Leistungskurse ein. Gerade unter diesem Aspekt werden allerdings auch erhebliche Defizite des bestehenden Kurssystems kritisiert.

Propädeutik in der heutigen Philosophie

Besondere Bedeutung hat die Propädeutik in der heutigen Philosophie. Sie ist dabei als Einführung in das philosophische Denken zu verstehen. In dieser Form impulsgebend war die Logische Propädeutik von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen (1967/1973), die als "Vorschule des vernünftigen Redens" konzipiert war und als Einführung in die Philosophie des methodischen Konstruktivismus gilt. 1983 nahmen Ernst Tugendhat und Ursula Wolf die Idee auf und legten eine "Logisch-semantische Propädeutik" vor, die sich inhaltlich von Kamlah/Lorenzen abgrenzt, indem sie einen Einstieg in die Analytische Philosophie bietet. 2001 legte der Lorenzen-Schüler Peter Janich eine "Logisch-pragmatische Propädeutik" vor. Sie gilt als Einführung in die Philosophie des methodischen Kulturalismus.

Wissenschaftspropädeutik

Wissenschaftspropädeutik ist die Hinführung zu wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen, zu Methoden des Erkenntnisgewinns und allgemein zu Wissenschaftstheorien.

Wissenschaftspropädeutik im Unterricht

Wissenschaftspropädeutik, verstanden als Anbahnung wissenschaftlichen Vorgehens, ist ein verbindlicher Unterrichtsbestandteil vor allem im Sekundarbereich II an allen Schulen, die zur Hochschulreife führen. Sie bedeutet nicht zwingend, dass Schüler bereits selbstständig Wissenschaft betreiben sollen (etwa wie bei der Idealform von "Jugend forscht"), sondern nur einen anfänglichen, exemplarischen Einblick in die Arbeitsweisen erhalten. Dies beinhaltet zugleich die Auseinandersetzung mit den Grenzen eines bestimmten methodischen Vorgehens oder allgemein wissenschaftlichen Arbeitens.

Wissenschaftspropädeutik ist auch nicht zu verwechseln mit der Wissenschaftsorientierung der Unterrichtsinhalte, die selbstverständlich den Erkenntnisstand der Wissenschaften wiedergeben müssen, allerdings nicht in der umfassenden und differenzierten Weise, wie dies in Universitätsvorlesungen geschieht. Ein Missverständnis liegt auch vor, wenn Leistungskurse das Ziel verfolgen, die Studieninhalte des Grundstudiums bereits möglichst tiefgründig vorwegzunehmen, wenn z. B. Geschichtsleistungskurse sich ein halbes Jahr ausschließlich mit den Punischen Kriegen befassen.

Aus gegenwärtiger Sicht gehören zur Studierfähigkeit verschiedene Kompetenzen:

  • inhaltlich-sachbezogen: fachliche Kenntnisse aller Art (welche genau, wird äußerst kontrovers in der Gesellschaft diskutiert);
  • methodisch-formal: wissenschaftsbezogene Medien- und Methodenkompetenzen sowie Arbeitstechniken, Differenzierungsvermögen etc.;
  • sozial: Verantwortung, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit etc.;
  • personal: Ausdrucksvermögen, Bekenntnis zur Rationalität, Dispositionen wie Arbeitsdisziplin, Lernbereitschaft, Selbstständigkeit, Ausdauer, Genauigkeit etc.

Im Unterricht der Sekundarstufe II müssen diese Kompetenzen systematisch aufgebaut werden. Wie dies in den Aufgabenfeldern, Fächern und Lernbereichen geschehen soll, ist Aufgabe der Allgemeinen Didaktik und Fachdidaktik.

Legitimation

Unterricht soll (in allen Sekundarbereichen) wissenschaftspropädeutisch ausgerichtet sein, weil

  • das Abitur zum Besuch einer Hochschule berechtigt, wo wissenschaftliche Arbeitsmethoden angewandt und erweitert werden;
  • er den Schülern Möglichkeiten zur Orientierung in unserer durch die Wissenschaften geprägten Welt geben soll (Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, Hilfe zur eigenen „Standortbestimmung“);
  • hierdurch die Arbeitsweisen aufzeigt werden, mit denen die unterschiedlichen Wissenschaften arbeiten und Erkenntnisse gewinnen (korrektes Zitieren, Quellenauswahl und -analyse, Hypothesenbildung, Methoden des Problemlösens, Verfahren der Datengewinnung und -auswertung, beobachten, messen, vergleichen, experimentieren, befragen, interpretieren etc.);
  • die Schüler so die Methodik z. B. des naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns mit anderen Methoden des Erkenntnisgewinns (z. B. geisteswissenschaftlich, mathematischen, philosophischen aber auch des naiven Erkenntnisgewinns „Ich nehme das so wahr, also ist es so…“) vergleichen sollen;
  • den Schülern auch die Begrenztheit wissenschaftlicher Aussagen und Arbeitsmethoden transparent werden soll (z. B. „Die Elektronenmikroskopie konnte das Phänomen selektivpermeabler Membranen nicht erklären."), d. h. wir uns der „Wahrheit“ nur unendlich anzunähern vermögen, sie aber nie vollständig erreichen können (vgl. Falsifikation bei Karl Popper). Begriffe, Methoden und auch Theorien sind dabei wie Scheinwerfer, die die Wirklichkeit in einem Ausschnitt und einem Winkel beleuchten, jedoch nicht völlig erfassen.

Siehe auch

Literatur

  • Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Mannheim u.a.: Bibliografisches Institut, 1987. - ISBN 3-411-05227-9
  • Ernst Tugendhat: Logisch-Semantische Propädeutik (zusammen mit Ursula Wolf). - Stuttgart : Reclam, 1986. - ISBN 3-15-008206-4
  • Dietfried Gerhardus, S. M. Kledzik/G. H. Reitzig: Schlüssiges Argumentieren. Logisch-propädeutisches Lehr- und Arbeitsbuch, Göttingen 1975.
  • Peter Janich: Logisch-pragmatische Propädeutik. Weilerswist: Velbrück, 2001. - ISBN 3-934730-37-x
  • W. Griese: Wissenschaftspropädeutik in der gymnasialen Oberstufe, Oldenburg, 1983
  • Friedrich Rost: Artikel Propädeutik, in: Dieter Lenzen (Hg.), Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 2, rororo, 6. Aufl., Reinbek 2001, S. 1281-1285
  • Werner Habel: Wissenschaftspropädeutik - Untersuchungen zur gymnasialen Bildungstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts, Böhlau 1990 ISBN 3-412-19589-8

Weblinks


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