Berg-Tataren

Berg-Tataren

Als Berg-Tataren (kumykisch Tuvhtatarlar, tatarisch Dağtatarları, türkisch Dağ Tatarları) bezeichnete man vor allem im ausgehenden 19. Jahrhundert die folgenden Völkerschaften des Kaukasus:

  1. Balkaren
  2. Karatschaier
  3. Kumyken

Ferner war dieser Name eine grob zusammenfassende Sammelbezeichnung des frühen 20. Jahrhunderts für die folgenden Kaukasusvölker:

  1. Aserbaidschan-Türken
  2. Balkaren
  3. Karatschaier
  4. Kumyken
  5. Mescheten
  6. Nogaier
  7. Urum

Insgesamt werden heute rund 12,8 Millionen Menschen zu dieser Gruppe gerechnet.

Inhaltsverzeichnis

Alternative Bezeichnungen

Die Berg-Tataren wurden lange Zeit auch nur als „kaukasische Muslime“ bezeichnet.

Namensherkunft

Seit dem 13. Jahrhundert war es bei den Russen und West-Europäern üblich, alle Völkerschaften als „Tataren“ zu bezeichnen, die ihren Ursprung in den Steppengebieten Zentralasiens hatten. „Bergtatare“ war demnach eine weitere Sammelbezeichnung für die verschiedenen Turkvölker Russlands.

Hauptverbreitungsgebiet

Die als Berg-Tataren bezeichneten Völker leben heute in folgenden Gebieten:

Religion

Die Berg-Tataren waren einst überwiegend orthodoxe Christen. Sie nahmen zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert den sunnitischen Islam an und sind nun überwiegend Hanafiten.
Die im weitesten Sinne zu den Bergtataren zugerechneten Aserbaidschan-Türken sind im Gegensatz zu diesen bereits seit dem 8. Jahrhundert islamisiert und gehören hauptsächlich den schiitischen Imamiten und ein kleinerer Teil von ihnen gehört den Ismailiten an.

Geschichte

Im 9. Jahrhundert fielen die Magyaren in den Kaukasus ein und begründeten dort ein magyarisches Herrschaftsgebiet.

Im 10. Jahrhundert gehörte das Gebiet zu den christlichen Königreichen Georgien und Armenien. Die südlichen Regionen wurden von Persien beherrscht.

Im 11. Jahrhundert fielen die türkischen Seldschuken im Kaukasus ein und setzten verschiedene Atabegs zur Verwaltung der Region ein. Diese gründeten nach dem Untergang des „Großseldschukischen Reiches“ eigenständige Reiche.

Zwischen 1219 und 1223 überfielen die Mongolen Dschingis Khans mehrfach die Kaukasusregion und gliederten diese schließlich ab 1243 in die spätere Goldenen Horde ein. De facto wurde die Region jedoch ab 1260 von den Herrschern der Nogaier-Horde autonom regiert. Im 13. und 14. Jahrhundert ließen sich auch zahlreiche Mongolen und Teile der zentralasiatischen Turkvölker in der Region nieder und diese wurden dann von der einheimischen Vorbevölkerung kulturell assimiliert. Doch setzte sich bei Teilen der kaukasischen Bevölkerung später türkische Sprachen durch. Die kulturell den Kaukasiern und sprachlich den „Tataren“ (Mongolen und Türken) nahestehenden Bevölkerungsteile wurden nun von ihren Nachbarn als Berg-Tataren benannt und sie übernahmen diese Bezeichnung in der Folge auch als Eigennamen.

1375-1405 war der Kaukasus dem erneuerten Mongolenreich Timur-i Lenks angeschlossen und gehörte nach dessen Tode zum Teil verschiedenen turkmenischen Stammesföderationen an, die dort dessen Nachfolge antraten. Am bekanntesten sind hier die Qara Qoyunlu.

Im 15. und 16. Jahrhundert war der Kaukasus zwischen dem Persischen und dem Osmanischen Reich hart umkämpft. In der Zeit zwischen 1510 und 1522 wurde der Kaukasus kurzfristig von den Osmanen unterworfen. Osmanisches „Reichstürkisch“ wurde dort nun Amtssprache. Die Berg-Tataren begannen in dieser Zeit sich dem Osmanischen sprachlich anzupassen. Schließlich wurden 1555 die Berg-Tataren erstmals von den persischen Safawiden unterworfen und konnten sich erst im 18. Jahrhundert befreien.

Doch bereits 1736 versuchte der persische Herrscher Nadir Chan Afshar den erneuten Versuch, die Kaukasusregion zu unterwerfen. Persisch wurde nun bei den Kaukasiern, und damit auch für die Berg-Tataren, Amtssprache. 1747 wurde von verschiedenen Kaukasusfürsten Nadir Chan der Treueeid verweigert und dieser rüstete zu einem Heerzug gegen die Abtrünnigen auf. Aber nun wurde der persische Schah Nadir kurz vor beginn des Feldzuges ermordet und das Kaukasusgebiet war eine Zeitlang wieder selbständigen Herrschern unterstellt.

Doch bereits 1783 versuchte der Kadscharenherrscher Aga-Mohammed von Persien aus den Kaukasus wieder zu unterwerfen und diesen endgültig dem Persischen Reich einzuverleiben. Teile der kaukasischen Fürsten suchten nun den Schutz des benachbarten Russlands und wurden dessen Vasallen. 1795 fiel Aga-Mohammed in Ostgeorgien ein und unterwarf in kurzer Zeit die Kaukasusregion. Nun schritten die Russen ein: Auf Befehl Katharina der Großen wurden die Perser innerhalb von fünf Jahren vertrieben und um 1800 galt der Kaukasus wieder als autonom.

Aber bereits 1801 unterstellten sich die ersten Kaukasusfürsten der russischen Direktherrschaft und wurden vom russischen Zar als „Gouverneure“ in ihren Stammesgebiete eingesetzt. Das bedeutete für sie, dass Russland vorerst nicht in die alten Stammesrechte eingriff.

1878 wurde das Siedlungsgebiet der Berg-Tataren nach Beendigung der Persisch-Russischen Kriegen zwischen Russland und Persien entlang des Arak geteilt; die nördlichen Gebiete gehörten nun zum Russischen und die südlichen zu Persien. Russland entdeckte nun den „muslimischen Markt“ in Persien und Turkestan und setzte nun verstärkt Tataren, Baschkiren und Krimtürken bei den Berg-Tataren als Dolmetscher ein, auch kamen nun tatarische Händler zu diesen. Aufgrund der ethnisch-sprachlichen Nähe der eigentlichen Tataren und Berg-Tataren war es nun leicht möglich, die Berg-Tataren endgültig zu islamisieren. Doch mit der Eroberung Turkestans durch Russland wurde der Weg über den Kaukasus nach Persien nicht mehr benötigt und die Berg-Tataren wurden nun verfolgt und entrechtet.

1917 schlossen sich die Berg-Tataren zur einer autonomen „Nordkaukasischen Föderation“ zusammen, die jedoch 1918 wieder aufgelöst wurde. Sie gehörten nun im Rahmen einer ASSR zur Russischen Föderation.

In der Zeit zwischen 1921 und 1936 wurden die Siedlungsgebiete der Berg-Tataren auf verschiedene Autonome Sozialistische Sowjetrepublike aufgeteilt: ASSR Dagestan (1921), Kabardino-Balkarische ASSR (1936). Ein Teil der Berg-Tataren bildete seit 1920 die SSR Aserbaidschan.

1944 wurden die muslimischen Volksgruppen des Kaukasus auf Befehl Josef Stalins nach Sibirien zwangumgesiedelt, da Teile von ihnen mit der kurzfristigen deutschen Besatzungsmacht zusammenarbeitete. Erst 1967 durften sie wieder in die alten Siedlungsgebiete zurückkehren.

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR wurden sich die Berg-Tataren ihrer nationalen Eigenart wieder bewusst und schlossen sich 1989/90 zu zahlreichen Bürgerbewegungen zusammen. Diese forderten 1991 die nationale Unabhängigkeit im Rahmen eines föderativen Russlands und die Bildung einer türkisch-tatarischen Kaukasusföderation, die auch das nördliche Aserbaidschan umfasst hätte. Diese ökonomisch-kulturelle Kaukasusföderation wurde von den Berg-Tataren „Union der Berg-Tataren“ (aserbaidschanisch Dağtatarlari Birliqi) genannt. In dieser Union hätte das moderne Aserbaidschanisch die Rolle einer „Gemeinschaftssprache“ gehabt und es wurde die Wiedereinführung der arabischen Schrift gefordert.
Auch der benachbarte Iran förderte nun seinerseits zwischen den Jahren 1989 und 1991 die Re-Islamisierung und bezüglich des Schriftsystems Re–Arabisierung der Kaukasusregion. Das wurde ihm vom Westen allgemein als „Erneuerung seines einstigen Einflussgebietes“ argwöhnisch beobachtet, da man eine Radikalisierung und die Schaffung einer „Islamischen Kaukasusrepublik“ nach iranischen Vorbild vorwarf. Doch dieses traf so nicht zu, denn der Iran war (und ist) für die Beibehaltung des staatlichen Status quo gegenüber den Nachfolgestaaten der UdSSR, da er (wohl zurecht) befürchten muss, dass der NATO-Partner Türkei seinen ethnisch-kulturellen Einfluss auf die Kaukasusregion erneuern und ausbauen will. Auch leben im Iran weit über 20 Millionen turkstämmige Menschen, deren Gros, die Aserbaidschan-Türken und Turkmenen, ein geschlossenes Siedlungsgebiet an der ehemaligen iranisch-sowjetischen Grenze besitzen. Die iranischen Aserbaidschanern forderten bereits im Sommer 1989 erstmals seit 1917 wieder die Vereinigung mit dem damals noch sowjetischen Nordaserbaidschan. Und genau solche Situationen galt es in den Augen Teherans um jeden Preis zu verhindern. 1992 brach die „Union der Berg-Tataren“ aufgrund des neu erwachten aserbaidschanischen Unabhängigkeitsbestreben zur völligen politischen Unabhängigkeit wieder auseinander. Mit der Unterzeichnung des Föderationsvertrages (1992) steht den Berg-Tataren im Rahmen Russlands eine weitgehende Autonomie zu, während sich die Türkei nun als „offizielle Schutzmacht“ dieser Volksgruppe betrachtet.

Siehe auch


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