Bildungsparadoxon

Bildungsparadoxon

Der Ausdruck Bildungsparadox oder Qualifizierungsparadox bezeichnet den Effekt, dass durch eine Erhöhung des Bildungsniveaus einer Gesellschaft die damit angestrebte Erhöhung der Berufschancen nicht erreicht wird. Traditionelle Privilegien bessergestellter Familien bleiben erhalten und werden dadurch sogar verstärkt.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsverwendung

Der Begriff kritisiert im speziellen die Bildungsreformen der 1960er und 70er Jahre der Bonner Republik, die das Ziel der Chancengleichheit nicht erreicht haben. Pierre Bourdieu benutzt für diesen Zusammenhang in Die verborgenen Mechanismen der Macht den Begriff "Inflation der Bildungsabschlüsse".

Der Effekt wurde durch den Beginn der Massenarbeitslosigkeit in den frühen 1980er Jahren noch verstärkt: zunehmend entschieden sich junge Menschen, die keine Ausbildungsplätze bekommen hatten, weiter zur Schule beziehungsweise auf die Universität zu gehen. In diesem Zug sind die Zugangsbedingungen zu den Ausbildungsberufen ebenfalls gestiegen: weil nicht genügend Ausbildungsplätze für Abiturienten zur Verfügung standen, drängten die Absolventen der Gymnasien in Bereiche, die früher Realschulabgängern vorbehalten waren.

Anteil der allgemeinen Bildungsabschlüsse unter den abhängig Beschäftigten in der gewerblichen Wirtschaft in einer Stichprobe des Fraunhofer ISI [1]:

1970 1982 1991 2000
Hauptschulabschluss 87,7 % 79,3 % 66,5 % 54,9 %
Realschulabschluss 10,9 % 17,7 % 27 % 34,1 %
Abitur 1,4 % 3 % 6,5 % 11 %

Zudem hat diese Entwicklung den Effekt, dass Schüler nicht-deutscher Muttersprache überproportional in Hauptschulen vertreten sind, die von der frühen Entscheidung über den Bildungsweg und diskriminierenden Entscheidungspraxen besonders benachteiligt sind. Dieses Paradox ist auch ein Grund dafür, warum alleine formale Bildungsmaßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit nicht ausreichen.

Siehe auch: Begabtenförderung

Die Lösung des Bildungsparadox durch die Kritik der Chancengleichheit

Ein Hundertmeterlauf ist nur dann sinnvoll, wenn alle die Chance haben zu gewinnen und, was entscheidend ist, wenn nicht alle gleichzeitig ankommen. Die Forderung nach Chancengleichheit ist insofern ein Indikator dafür, dass es als Ergebnis der Chancengleichheit unbedingt Ungleichheit geben soll und muss, sonst ergibt der zugrundeliegende Wettbewerb keinen Sinn. Die diversen Funktionen der Forderung nach Chancengleichheit:

  1. Die bildungspolitische Position, dass "Bildung ein Bürgerrecht" sei, das noch nicht ideal verwirklicht ist, wird in erster Linie so praktiziert, dass Chancengleichheit gefordert wird (Dahrendorf 1965). Grundlage dafür ist die bekanntermaßen zu unterstellende ungleiche Realisierungsmöglichkeit für verschiedene Bevölkerungsgruppen. Die Einlösung des besagten Rechtsanspruchs bleibt also Angelegenheit der einzelnen Wettbewerber.
  2. Die Forderung nach Chancengleichheit ist eine Wettbewerbsformel und als solche die Kehrseite des Leistungsprinzips (Heckhausen 1974). Seine Chance nutzen zu dürfen, verspricht keinen leichteren oder schnelleren Erfolg. Im Gegenteil: Es kann immer nur "Einer" gewinnen.
  3. Durch die Forderung nach Chancengleichheit sollen neue Schichten von bisher benachteiligten Personen an der Bildung beteiligt werden: Ausschöpfung des Begabungspotentials! Die Konkurrenz wird dadurch verschärft. Die Aussicht auf Erfolg für den Einzelnen wird geringer.
  4. Es besteht ein Wechselverhältnis zwischen der beabsichtigten Herstellung von Bildungsunterschieden für die soziale Hierarchie und der damit verbundenen Legitimation durch gleiche Chancen, denn: Wenn alle Zugang haben, muss man sich auch Erfolgsbeschränkungen zumuten lassen, weil die sozialen Positionen, die Bildungserfolg zur Voraussetzung haben, bereits durch politische und ökonomische Rahmenbedingungen vorgegeben wurden. Die Bezugsgrößen der "Ausgewogenheit" sind: Erfüllung gesellschaftlicher Arbeitsaufgaben, das gesellschaftliche Interesse an sozialer Hierarchie (Unterschiede) und das "Ideal einer freien Entfaltung der Persönlichkeit" der einzelnen Bürger.
  5. Das System der Chancengleichheit in der Bildung begrenzt die Anpruchshaltung der Beteiligten. Jeder sieht die Wahrnehmung seiner Chancen als persönliche Kalkulation bzw. Risikoabwägung. Keine Leistung begründet Ansprüche für die soziale Karriere. Angebot und Nachfrage regeln die soziale Wertigkeit der erreichten Bildungsabschlüsse und Qualifikationen. Wer das Risiko langer Ausbildung scheut (z.B. vermögenslose Arbeiterkinder) wird sich "gern" mit weniger begnügen. Wer sich dank besserer sozialer Absicherung durch die Familie längere Bildung sowieso leistet, wird auch leichter das spätere Risiko eines entwerteten Abschlusses hinnehmen. Man könnte insofern die Gewährung von Chancengleichheit als Einladung an ungebetene Gäste betrachten, die durch die Umstände von der Wahrnehmung der Einladung auch wieder Abstand nehmen (Tawney 1951).

Das Bildungsparadox ist also gar nicht paradox, sondern die reale Verlaufsform der Herstellung von Chancengleichheit, was deren gesellschaftliche Zwecksetzungen und Wirkungen unterstellt - wie in 1 bis 5 dargestellt.

Helmut Heid, der die "Paradoxie der Chancengleichheit" analysierte (siehe: Literatur), ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni-Regensburg und assoziiertes Mitglied der nationalen PISA-Kommission. Er kritisiert am Konzept der Chancengleichheit:

"Chancengleichheit ist weder eine Utopie noch eine Illusion. Die abstrakte Verwirklichung von Chancengleichheit im Bildungswesen oder durch das Bildungswesen ist nichts anderes als die Legitimation (oder Verschleierung) der Regeln und Verfahren, nach denen Menschen tatsächlich in Güteklassen eingeteilt werden. Mit diesen Regeln und Verfahren werden nicht nur bereits erörterte Prämissen, Zwecke und Konsequenzen, sondern auch die Kriterien anerkannt, hinsichtlich derer Erfolg versus Misserfolg (häufig völlig fraglos) jeweils definiert sind." (Helmut Heid 1988, S.11)

Siehe auch

Quellen

  1. Rainer Frietsch: "Intensivierung" von Bildungsabschlüssen zwischen 1970 - 2000. (PDF) In: Studien zum deutschen Innovationssystem. Nr. 5-2004, November 2003. ISSN 1613-4338

Weblinks

Literatur

  • Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. VSA, Hamburg, 1997, ISBN 3-87975-605-8.
  • Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron: Die Illusion der Chancengleichheit. Klett-Cotta, Stuttgart, 1971.
  • Pierre Bourdieu: Homo academicus. Suhrkamp, Frankfurt, 1992, ISBN 3-518-28602-1.
  • Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Leske + Budrich Verlag, Opladen, 2002, ISBN 3-8100-1987-9.
  • Helmut Heid: Zur Paradoxie der bildungspolitischen Forderung nach Chancengleichheit. In: Zeitschrift für Pädagogik. Beltz Verlag, Weinheim, 1988, S. 1–17, ISSN 0044-3247.
  • Friedrich H. Steeg: Lernen und Auslese im Schulsystem am Beispiel der „Rechenschwäche“, Peter Lang, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien, 1996, ISBN 3-631-30731-4.
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