Debatte um Abschaffung des Sexualstrafrechts in Deutschland

Debatte um Abschaffung des Sexualstrafrechts in Deutschland

In den 1970er und 1980er Jahren war das Sexualstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland sehr umstritten. Es wurde unter anderem auch eine völlige Abschaffung des Sexualstrafrechtes einschließlich des § 176 StGB über den sexuellen Missbrauch von Kindern diskutiert. Diese Forderung wurde von der breiten Öffentlichkeit meist abgelehnt.

Inhaltsverzeichnis

Sexualstrafrecht

Der 13. Abschnitt des deutschen Strafgesetzbuches regelt die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Der Inzest-Paragraph wird allerdings dem 12. Abschnitt zugeordnet. Bis zu den großen Strafrechtsreformen 1969 und 1973 waren außereheliche Sexualität, Homosexualität und Pornografie generell strafbar und Schutzgut war auch die Sittlichkeit und öffentliche Moral.

Diskussion der 1970er und 1980er Jahre

In den 1970er und 1980er Jahren gab es eine lebhafte Debatte über die Strafbarkeit der Homosexualität und die Streichung des § 175 StGB.

Pädophile versuchten, diese Diskussion für ihre Interessen zu nutzen, und warben in der Schwulenbewegung um Solidarität und Hilfe bei ihrem Anliegen der Abschaffung des § 176 StGB.

Auch Teile der Kriminologie und der Sexualwissenschaften diskutierten in der Folge der „Sexuellen Revolution“ der End-1960er und 1970er Jahre dieses Thema kontrovers und plädierten für einen neuen Umgang mit sexuellen Kontakten zwischen Kindern und Erwachsenen. Sie unterschieden dabei zwischen gewaltfreien Akten, denen das Kind zustimmte, und sexuellem Missbrauch. Diese Sicht wird von den meisten Wissenschaftlern seit den 1990er Jahren nicht mehr vertreten. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war als ein Faktor vom US-amerikanischen Soziologen David Finkelhor der Begriff des „Informed consent“ als wesentliches Maß eingeführt worden, nach dem es freiwillige sexuelle Handlungen durch Kinder geben kann, sie aber meist nicht die Tragweite einer solchen Zustimmung überschauen können.

Diskussion innerhalb der Partei Die Grünen

Auch innerhalb der damaligen Partei Die Grünen gab es Diskussionen um eine Abschaffung des Sexualstrafrechts, und damit auch um eine Abschaffung des § 176 StGB über den sexuellen Missbrauch von Kindern. Ein entsprechendes Diskussionspapier, das unter dem Titel Sexualität und Herrschaft von der Arbeitsgruppe Schwule und Päderasten (Schwup) des Landesverbands Nordrhein-Westfalen beschlossen wurde, sorgte im Landtagswahlkampf 1985 für Aufregung („Kindersexskandal“) und wurde breit in der Presse und Öffentlichkeit als Beleg für eine pädophilenfreundliche Haltung innerhalb der GRÜNEN zitiert.[1]

Kernforderungen des Papiers waren die Streichung der §§ 174 bis 176Vorlage:§/Wartung/buzer StGB, die den sexuellen Missbrauch von Gefangenen und Kranken sowie Abhängigen, homosexuelle Handlungen an Jugendlichen sowie den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellen. Außerdem müsse jede sexuelle Handlung, die unter den Beteiligten gewaltfrei ausgeübt werde, straffrei sein (Unterscheidung zwischen gewaltsamem „sexuellen Missbrauch“ und gewaltfreiem „Kindersex“).

Im einzelnen heißt es in dem Papier: „einvernehmliche Sexualität (ist) eine Form der Kommunikation zwischen Menschen jeglichen Alters, Geschlechts, Religion oder Rasse und vor jeder Einschränkung zu schützen“.[2] Sex mit Kindern sei „für beide Teile angenehm, produktiv, entwicklungsfördernd, kurz: positiv“.[3] „Einvernehmliche sexuelle Beziehungen dürfen grundsätzlich nicht kriminalisiert werden“.[3]. Es sei nicht hinzunehmen, dass Erwachsene, die „die sexuellen Wünsche von Kindern und Jugendlichen ernst nehmen und liebevolle Beziehungen zu ihnen unterhalten“, mit Gefängnis bis zu zehn Jahren bedroht würden.[4]

Dieses Diskussionspapier, inklusive die von einer breiten Mehrheit abgelehnte Minderheitenposition zur Lockerung des Sexualstrafrechts,[5] wurde am 9. März 1985 von der Landesdelegiertenkonferenz in Lüdenscheid mit 76 zu 53 Stimmen mehrheitlich angenommen und (mit dem Status Diskussionspapier als Anhang) ins Wahlprogramm der NRW-Grünen aufgenommen.[6] Die Forderung nach Straffreiheit für „Kindersex“ wurde von der Presse aus dem unstrukturierten, additiven und 527 Seiten starken Wahlprogramm herausgegriffen und bestimmte die öffentliche Wahrnehmung der Grünen in Nordrhein-Westfalen.[6] Wenig später wurde eine revidierte Fassung des Programms beschlossen, in der diese Forderung nicht mehr auftauchte. Die Partei rückte in späteren Jahren deutlich von der Position nach einer kompletten Streichung der Sexualstraftatsbestände ab.

Auch bei den „Realos“ in der Partei war zu diesem Zeitpunkt weitgehend unumstritten, dass für sie eine wesentliche Forderung die Lockerung der Straftatbestände in den §§ 174 bis 184 StGB sei.[3]

Aus den zahlreichen Texten aus den 1970er und 1980er Jahren werden heute neben dem Diskussionspapier vor allem zwei Texte im politischen und medialen Diskurs – nicht nur in Deutschland – angesprochen, da aktive Politiker der Grünen als Autoren aufscheinen.

Der deutsch-französische Politiker Daniel Cohn-Bendit veröffentlichte im Jahre 1975 das Buch Le Grand Bazar bzw. Der große Basar, das vor allem Gespräche mit Michel Lévy, Jean-Marc Salmon und Maren Sell enthält. Darin schreibt er unter anderem in Kapitel 9 mit dem Titel „Little Big Men“ acht Seiten lang von seiner Zeit als Erzieher in einem Frankfurter Kinderladen. Dieser Teil wurde auch in der Zeitschrift „das da“ von Klaus Rainer Röhl abgedruckt.[7] Er erzählt, dass sein Flirt mit den Kindern „erotische Züge“ annahm. Später, dass Kinder seinen Hosenlatz geöffnet hätten, wobei er unterschiedlich reagiert hätte. Der Wunsch der Kinder hätte ihn vor Probleme gestellt, er habe sie gefragt, warum sie das nicht untereinander spielen würden. Bei ausdrücklichem Wunsch habe er zurückgestreichelt.[8]
Auslöser, dass man wieder darüber sprach, waren 2001 gemachte und kontrovers besprochene Veröffentlichungen von Bettina Röhl, Tochter von Klaus Rainer Röhl.[7] Cohn-Bendit bestreitet, dass die Erzählungen in jedem Detail die persönlich gelebte Wirklichkeit widerspiegeln. Es sei eine provokante „Verdichtung“ von Erlebnissen gewesen, Er verweist darauf, dass damals andere Zeiten waren und in der 68er-Bewegung außer den traditionellen Autoritäten auch die Tabus bei Sexualität von Kindern und Jugendlichen in Frage gestellt wurden. Heutzutage würde „niemand mehr so etwas schreiben“ und es sei „schlechte Literatur“. Er erzählte auch in einem Interview mit der Tageszeitung Libération, dass er von Anfang an für das Selbstbestimmungsrecht der Kinder sensibilisiert war und schon 1971 zusammen mit Feministinnen gegen die Legalisierung homosexueller Pädophilie protestiert hatte.[7][9][10][11]

Unter dem Pseudonym Angelo Leopardi veröffentlichte Joachim S. Hohmann als Herausgeber die Aufsatzsammlung Der Pädosexuelle Komplex. Handbuch für Betroffene und Ihre Gegner.[12] Enthalten sind darin Beiträge von B. Bendig, Frits Bernard (1920-2006), Edward Brongersma (1911-1998), Thomas J. Göbel, Rene Karthaus, W. Thomasek, W. Vogel, Th. Wagner, Peter F. Walter, Johannes Werres, Alexander Ziegler, Eberhard Schorsch, Volkmar Sigusch und angeblich von Volker Beck.
Heute wird vor allem der Beitrag von letzterem rezipiert, der unter dem Titel Das Strafrecht ändern?: Plädoyer für eine realistische Neuorientierung der Sexualpolitik erschien. Darin wird die Schwulenbewegung aufgefordert, für die rechtliche Gleichstellung zu kämpfen, um so die Zementierung eines sexual-repressiven Klimas verhindern zu können. Im Gegensatz zur Forderung der Entkriminalisierung der Homosexualität hielt Beck die Entkriminalisierung von Pädosexualität nicht für unproblematisch und erkannte auch einen „Schutzbedarf des Kindes“ an.[K 1] Er hielt den Ansatz, die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes zu fördern, für die einzige Möglichkeit für „eine tatsächliche Verbesserung der rechtlichen Situation der Pädophilen“[K 2], eine „Entkriminalisierung der Pädosexualität“ sei „dringend erforderlich, nicht zuletzt, weil sie im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen aufrechterhalten wird“.[K 3]
In einem Interview aus dem Jahr 2007 erklärte er, das Buch sei nicht von ihm autorisiert gewesen „und im Sinn durch eine freie Redigierung vom Herausgeber verfälscht“. Bald nach Erscheinen des Buchs habe er sich mit „den Berichten von Vereinen wie Wildwasser oder Zartbitter“ auseinandergesetzt und sei seitdem entschieden gegen solche Forderungen eingetreten. Seit seiner Mitgliedschaft im Bundestag hat er verschiedene Initiativen gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen oder zur Besserstellung der Opfer initiiert oder unterstützt. So trieb er auch nach Gesprächen mit Opferschutzorganisationen die Einführung des § 176a StGB (schwerer sexueller Missbrauch von Kindern) stark voran.[13]

Siehe auch

Quellen

  • K: Angelo Leopardi (Hg.): Der pädosexuelle Komplex, Foerster, Berlin 1988, ISBN 3-922257-66-6
    mit: Volker Beck: Das Strafrecht ändern?: Plädoyer für eine realistische Neuorientierung der Sexualpolitik
  1. S. 268.
  2. S. 260.
  3. S. 266.
  • Weitere
  1. Torso von SchwuP. In: Der Spiegel. Nr. 13, 1985, S. 47–48 (online).
  2. Frankfurter Rundschau, 16. März 1985, S. 3
  3. a b c Die Welt, 20. März 1985, S.4
  4. FAZ 16. März 1985, S.3
  5. Getroffene Hunde bellen
  6. a b Raschke, Joachim (1993): Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln, Bund-Verlag, S. 360.
  7. a b c Alice Schwarzer: Daniel Cohn-Bendit - In der Vergangenheit liegt die Gegenwart, EMMA 3/2001
  8. Daniel Cohn-Bendit - Ich hatte Lust, Auszüge aus: Daniel Cohn-Bendit, „Der große Basar“ (Trikont Verlag, 1975) in EMMA 3/2001
  9. Thomas Kerstan: Sexueller Missbrauch - »Wir haben Fehler gemacht« - Interview mit Daniel Cohn-Bendit, Die Zeit, Nr. 11, 11. März 2010
  10. APA: Missbrauch: Grüne werfen Regierung Untätigkeit vor, DiePresse.com, 21. April 2010
  11. APA: EU-Wahl: Grüne gegen "Kulturkämpfe", DiePresse.com, 2. Mai 2009
  12. Angelo Leopardi (Hg.): Der pädosexuelle Komplex, Foerster, Berlin 1988, ISBN 3-922257-66-6
  13. Frage und Antwort auf Abgeordnetenwatch, 17. August 2007

Weiteres Quellenmaterial zum Lüdenscheider Beschluss: SZ, 12. Februar 1985, S. 10; FAZ, 16. Februar 1985, S. 3; FR, 16. März 1985, S.3; Welt, 20. März 1985, S. 4; Spiegel, Nr 13/1985, S. 47 - 52; FAZ, 29. März 1985, S.5

Weblinks


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