Contrada (Venedig)

Contrada (Venedig)

Die venezianischen Contrade entsprechen etwa den Kirchengemeinden oder Pfarrsprengeln, von denen Venedig rund 70 aufwies. Vielfach repräsentierten sie eine der über 100 Inselchen, aus denen sich die Kernstadt Venedigs zusammensetzte. In den mittelalterlichen Quellen erscheinen sie meist als confinia, später, als sich das Venezianische auch im Schriftgebrauch gegenüber dem Lateinischen durchgesetzt hatte, als contrade. Zu einer venezianischen Contrada gehören üblicherweise die meist namengebende Kirche, ein Platz (campo), ein Brunnen sowie eine Infrastruktur für die Warenverteilung, wie Bäckereien oder Gastwirtschaften, Lebensmittel- oder Buchläden. Mit der Reduzierung der Pfarrstellen wurden nach dem Ende der Republik Venedig im Jahr 1797 vielfach mehrere Contrade zu einem Sprengel zusammengefasst und darüber hinaus viele der Kanäle, die die Inselchen getrennt hatten, zugeschüttet.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Contrade und Sestieri

Die Contrade, die lange Zeit meist einer Insel entsprachen, waren jeweils genau einem Sestiere zugeordnet. San Marco setzte sich im 12. Jahrhundert aus 16 Contrade zusammen, Castello und Cannaregio aus je 12, Dorsoduro aus 10 und Santa Croce und San Polo aus je 8. Diese Zahlen änderten sich entsprechend dem Bevölkerungswachstum und den Landgewinnungen geringfügig. 1586 wiesen Castello, Cannaregio, San Polo und Dorsoduro je eine Contrada mehr aus, als im 12. Jahrhundert.[1]

Gesellschaftsstruktur

Die vergleichsweise große wirtschaftliche Eigenständigkeit in der Warenverteilung gab den Contrade eine erhebliche Selbstständigkeit, die sich auch darin zeigte, dass alle gesellschaftlichen Schichten dort vertreten waren, seien es Adlige, Handwerker oder Stadtarmut. Zwar gab es Bereiche innerhalb der Stadt, die begehrter und materiell besser ausgestattet waren - viele adlige Familien bevorzugten San Marco, den Canal Grande oder Rialto, während die Peripherie eher als unattraktiv galt[2] -, doch innerhalb der Contrade lebten die gesellschaftlichen Gruppen nahe beieinander und daher in engem Kontakt.[3]

Politische Rolle

Auch wählte jede Contrada eines der Capita contratarum bzw. Capi contrade und den Priester, der vom Bischof, später vom Patriarchen nur bestätigt wurde. Dennoch waren die venezianischen Contrade bei weitem nicht so machtvoll und selbstständig gegenüber der Kommune, wie etwa in Florenz oder Siena. Zudem wurden die Contrade zugunsten der politischen Zentralisierung ab dem 14. Jahrhundert zunehmend entmachtet.

Fiskalische Rolle

Auch für Vermögensschätzungen boten die Contrade und die Sestieri die Basis. Zugleich zeigen sie die unterschiedliche Vermögensverteilung in der Stadt. So ermittelte man 1367 und 1425 die genauen Vermögenswerte der Contrade, um sie unregelmäßigen Abgaben, den imprestiti, unterwerfen zu können, die eine Art Zwangsanleihe darstellten. Diese Anleihen bemaßen sich nach der Höhe des Vermögens, das anfangs nur vom Zeichnenden deklariert werden musste, ab dem Spätmittelalter jedoch in Katasterform erfasst wurde. Für die Gesamtstadt ergab sich dabei 1425 ein Wert von 363.421 Dukaten, wozu San Marco 95.641, Castelo 65.363, Cannaregio 61.404, San Polo 55.933, Dorso Duro 46.367 und Sta. Croxe 38.713 Dukaten besteuerbaren Vermögens beitrugen.[4]

Rivalitäten zwischen den Contrade, 12 Marien

Zwischen den Contrade bestand eine beachtliche Rivalität, die vor allem in der Feier der zwölf Marien zum Ausdruck kam, wenn sich die Jugendlichen der rivalisierenden Contrade verspotteten oder beschimpften.[5] Die Marie wurden als einzige übergreifende Feier ausschließlich von den Contrade organisiert und finanziert. Dabei kam es zum jährlichen Besuch des Dogen in Santa Maria Formosa, einer der Contrade östlich des Canal Grande. Dieser Besuch des Dogen ging der Legende nach auf die Entführung von Bräuten durch Triestiner Piraten zurück, die von Handwerkern aus der Contrada Santa Maria Formosa befreit worden waren. In den ältesten Chroniken taucht diese Legende noch nicht auf, doch im 13. Jahrhundert geht der Besuch bereits auf einen angeblichen Sieg über einen Piraten zurück. Damit nahm eine sukzessive Ausschmückung ihren Lauf, die die zwölf Marien auf die Ebene des Raubs der Sabinerinnen hob und vielfach literarisch verarbeitet wurde. Das Fest der zwölf Marien, das die Frauen der Contrade organisierten, wurde allerdings 1379 untersagt, nachdem es spätestens seit der Mitte des 12. Jahrhunderts gefeiert worden war.

Bis dahin erstreckte sich die Feier im Rahmen des Karneval vom 25. Januar bis zum 2. Februar. Während dieser Zeit gab es Bankette in den Adelspalästen und die ludi mariani, Spiele, die aus Regatten, Spielen im engeren Sinne und der öffentlichen Versammlung von Frauen bestanden, sowie mehreren Prozessionen. Turnusmäßig waren jeweils zwei Contrade für die Durchführung und Finanzierung verantwortlich, und sie führten eine ihrem Prestige entsprechende Prozession durch. Liturgische und theatralische Aufführungen sowie der Empfang des Dogen stellten die Höhepunkte dar. Nachdem die Prozessionsteilnehmer in ihre beiden Contrade zurückgekehrt waren, begannen neue Spiele. Sechs adlige oder vermögende Bürgerfamilien öffneten ihre Häuser und präsentierten eine überreich geschmückte Marienskulptur. Die Frauen des Sestiere zogen ihre besten Kleider an und unterhielten sich, während die Männer draußen standen und große Mengen Wein tranken. Am letzten Tag fand eine ausgedehnte Wasserprozession statt. Während ganz im Osten der Stadt, in der Bischofskirche von San Pietro di Castello ein Gottesdienst stattfand, rüsteten die beiden Contrade sechs Boote (scaule) aus. Eines trug 40 bewaffnete Männer, ein anderes die Priester und den Bischof, die anderen vier Boote trugen je drei Marienstatuen in Begleitung von Frauen und Mädchen. Zusammen mit den beiden Booten aus Santa Maria Formosa ruderte die Gesellschaft, gefolgt von zahlreichen Booten, zum Molo, um einen Gottesdienst in San Marco zu zelebrieren. Danach schloss sich das Dogenschiff der Prozession an, die bis 1250 nach Santi Apostoli, danach bis zum Fontego dei Turchi den Canal Grande aufwärts fuhr. Von dort ging es in einen kleineren Kanal nach Santa Maria Formosa.

Der Schmuck der Boote, Häuser, Wege und der Teilnehmer wurde so aufwändig, dass erstmals 1379 der Fiskus während des Chioggia-Kriegs gegen Genua die Feier untersagte, um den beiden Contrade die Kosten zu ersparen. Danach wurde die Feier, die Teil des Karnevals war und von Frauen beherrscht wurde, völlig verändert. Dabei gaben die obersten Machtorgane vor, nicht nur die Verschwendung bekämpfen zu wollen. So ertrug das adlige Stadtregiment auch die exzessiven Feierlichkeiten mit ihren angeblich orgienhaften Auswüchsen nicht länger. Die ansonsten streng eingesperrten Frauen der oberen Klassen waren plötzlich in der Öffentlichkeit zu sehen, und man warf den Männern vor, zu viel Zeit mit dem Beobachten ihrer Prozessionen zu verbringen. Dabei sollten bereits seit Jahrzehnten Aufläufe, Kämpfe zwischen den jungen Männern der konkurrierenden Contrade, Messerstechereien durch den Rat der Zehn verhindert werden, wobei die Verbote sehr detailreich wurden. So war es etwa verboten, die Marie mit Äpfeln zu bewerfen oder dem Schiff des Dogen zu nahe zu kommen. Nach 1379 gab es keine Prozessionen mehr durch die Stadt. Die Teilnehmer an der Feier blieben stattdessen in Santa Maria Formosa. Es gab keine konkurrierenden Contrade mehr und das Marienfest wurde verlegt, um nicht weiterhin mit dem Karneval mit seinen eigenen Regeln vermengt zu werden. Die Präsentation der Heiligen Maria am 21. November, die erst 1369/70 eingeführt worden war, übernahm nun die Funktion des wichtigsten Marienfests.

Die Rivalitäten zwischen den Contrade wurden nun stärker kanalisiert, indem nun zwei Gruppen junger Männer mit langen Stöcken versuchten, ihre Gegner von einer Brücke zu drängen und sie ins Wasser zu stürzen. Die sozialen Aufgaben der Contrade wurden zunehmend auf Bruderschaften und Zünfte verlagert, die politischen zentralisiert. In der Renaissance führten schließlich alle Prozessionen über den Markusplatz. Die Ausgleichsfunktion, die der Karneval zwischen den ansonsten eher getrennten Gesellschaftsgruppen ermöglichte, und der damit deren Gemeinschaftsgefühl steigerte, sollte auf Venedig als Ganzes ausgerichtet sein, weniger auf die Contrade.

Überblick

Das Verhältnis zwischen den Inseln und den Pfarreien im Sestiere San Polo stellt sich wie folgt dar:

Insel Fläche (ha) Einwohner (2009) gehört zur
Pfarrei
Frari ... 1296 Santa Maria Gloriosa dei Frari
Meloni ... 275 San Silvestro
Nomboli ... 459 Santa Maria Gloriosa dei Frari (früher San Polo)
San Boldo ... 377 Santa Maria Gloriosa dei Frari
San Cassiano ... 843 San Cassiano
San Polo ... 454 Santa Maria Gloriosa dei Frari (früher San Polo)
San Silvestro ... 1318 San Silvestro
Sestiere San Polo 34 5022 3 Pfarreien

Literatur

  • Jason D. Hardgrave: Parishes and Patriarchy. Gender and Boundaries in Late Medieval Venice, in: Viator 41,1 (2010) S. 251–275.

Anmerkungen

  1. Karl Julius Beloch: Bevölkerungsgeschichte Italiens, Bd. 3: Die Bevölkerung der Republik Venedig, des Herzogtums Mailand, Piemonts, Genuas, Corsicas und Sardiniens. Die Gesamtbevölkerung Italiens, Berlin 1961, Abschnitt VII: Die Republik Venedig und G. Gallicciolli: Delle memorie venete antiche, profane ed ecclesiastiche, Venedig 1795, Bd. 2, S. 185.
  2. Donald E. Queller: The Venetian Family and the Estimo of 1379, in: Bernhard S. Bachrach, David Nicholas (Hg.): Law, Custom and the Social Fabric in Medieval Europe. Essays in Honor of Bryce Lyon, Kalamazoo 1990, 185–209, hier: S. 188.
  3. Élisabeth Crouzet-Pavan: "Sopra le acque salse". Escpaces, pouvoir et société à Venise à la fin du Moyen Age, 2 Bde, Rom 1992, Bd. 1, S. 569.
  4. Biblioteca Marciana, Cronaca Veneta attribuita a Gasparo Zancaruolo, dalle origini della città al 1466, Bd. 2 dall'elezione di Marin Falier a. 1354 - (c. 695) "A di 26. Decembrio MCDXLVI., Abschrift des Codex Braidense (VII, 49–50) von 1519 aus dem 18. Jahrhundert, It. VII 1274–1275 (9274–9275), f. 515r–516r.
  5. Dies und das Folgende nach Edward Muir: Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton University Press 1981, S. 135–181.

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