Crimmitschauer Streik

Crimmitschauer Streik

Der Crimmitschauer Streik der Textilarbeiter von Crimmitschau im Königreich Sachsen dauerte vom August 1903 bis in den Januar 1904. Der Streik beziehungsweise die Aussperrung löste sowohl unter der organisierten Arbeiterschaft wie auch unter den Arbeitgebern eine beispiellose breite reichsweite Solidarisierung mit den lokalen Konfliktparteien aus. Die Auseinandersetzung endete mit einer klaren Niederlage der Arbeiter. Der Streik hatte langfristig Auswirkungen auf die Bildung der Arbeitgeberverbände.

Solidaritätspostkarte mit streikenden Arbeiterinnen

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Die Stadt Crimmitschau war ein Zentrum der Textilindustrie im 19. Jahrhundert. Zahlreiche Tuchfabriken, Spinnereien und andere textilindustrielle Betriebe gaben einem Großteil der Einwohner Arbeit. Die Betriebe in der Stadt waren vergleichsweise klein und kapitalschwach. Der Exportmarkt war weitgehend weggebrochen und in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Arbeitskampf mussten 40 % der Unternehmen geschlossen werden. Die Stadt war eine Hochburg der freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Bei der Reichstagswahl von 1903 hatte die SPD mehr als 50 % der Stimmen in der Stadt erzielt.[1] Die Beschäftigten der örtlichen Textilindustrie waren sehr konfliktbereit und hatten seit 1882 schon vier Mal für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gestreikt.[2]

Die Arbeitszeit in der sächsischen Textilindustrie war um die Wende zum 20. Jahrhundert mit elf Stunden länger als in vergleichbaren Betrieben etwa in Berlin, wo bereits eine Arbeitszeit von nicht mehr als acht Stunden üblich war. Ein Großteil der Beschäftigten im Raum Crimmitschau war weiblich und 40 % aller beschäftigten Frauen waren verheiratet. Vor allem die verheirateten Arbeiterinnen klagten, dass ihnen die lange Arbeitszeit nicht genügend Zeit für ihre Kinder und den Haushalt übrig ließe. Hinzu kam, dass allgemein die Geschwindigkeit der Maschinen erhöht wurde.

Verlauf

Hermann Jäckel

Dies führte dazu, dass die Filiale des (freigewerkschaftlichen) Deutschen Textilarbeiterverbandes in Abstimmung mit der Gewerkschaftszentrale am 25. Juli 1903 an den örtlichen Fabrikantenverein die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit auf zehn Stunden, Erhöhung der Akkordlöhne um 10 % und einige weitere Forderungen stellte. Die Parole insbesondere der Arbeiterinnen war: „Eine Stunde für uns! Eine Stunde für unsere Familie! Eine Stunde fürs Leben!“ Eine führende Rolle spielte auf Seiten der Arbeiter Hermann Jäckel.

Die Fabrikanten waren bereit den Forderungen teilweise entgegen zu kommen und die Arbeitszeit um eine halbe Stunde zu verkürzen. Dies reichte den Arbeitern nicht. Nach ersten Streikmaßnahmen von 600 Arbeitern kündigten am 20. August die Arbeiter von fünf Fabriken. Daraufhin sperrten die Fabrikanten am 21. August alle 7500–8000 Beschäftigten der Textilindustrie in der Stadt aus. Nachdem die Aussperrung bereits zehn Wochen angedauert hatte, erklärten sich die Fabrikanten bereit die Arbeiter zu den alten Bedingungen wieder einzustellen. Die meisten Beschäftigten gingen nicht darauf ein und hielten am Streik fest. Die Streikenden boten den Arbeitgebern Verhandlungen an. Die Arbeitgeber lehnten ab.

Haltung der Behörden

Durch den langen Streik wurde nicht nur die lokale Wirtschaft von Handwerkern und Geschäftsleuten in Mitleidenschaft gezogen, sondern der Ausfall des sonst produzierten Garns machte sich in der deutschen Textilindustrie negativ bemerkbar. Zu Unruhen oder Ausschreitungen kam es trotz der langen Dauer des Ausstandes nicht. Dennoch standen Behörden und die Polizei auf Seiten der Arbeitgeber. Die Behörden gingen streng gegen auch harmlose Belästigungen von Arbeitswilligen vor. Es gab zahlreiche Anzeigen und Strafverfügungen gegen Streikende. Streikposten wurden verhaftet. Besonderen Unmut erregte die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes. Außerdem wurden Anfang Dezember alle Versammlungen verboten. Davon betroffen war auch die für die Familien der Ausgesperrten geplante Weihnachtsfeier.

Über den Ort und Sachsen hinaus rief ein Zeitungsbeitrag des örtlichen Pfarrers Unverständnis hervor, der die Position der Unternehmer und das Verbot der Weihnachtsfeier verteidigte. Die Position des Pfarrers, dem sich auch einige seiner Amtskollegen in der Gegend angeschlossen hatten, hat dem Ansehen der evangelischen Kirche unter den Arbeitern in Sachsen nachhaltig geschadet. Es gab aber auch Stimmen in der Geistlichkeit, die sich gegen eine unternehmerfreundliche Haltung aussprachen.

Reichsweite Resonanz

Je länger die Auseinandersetzung dauerte, um so mehr verlor der Streik seinen rein lokalen Charakter. Er wuchs sich zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern und den in Arbeitgeberverbänden organisierten Unternehmern aus.

Zahlreiche Arbeiter traten während des Streiks der Textilarbeitergewerkschaft bei. Allerdings zeigte sich auch, dass der Textilarbeiterverband den Streik unzureichend vorbereitet hatte. Es waren nicht genug Mittel vorhanden, um einen langen Streik durchzustehen. Die Ausgesperrten wurden von den freien Gewerkschaft und der Sozialdemokratie unterstützt. Insgesamt kamen etwa eine Million Mark Spenden für die Streikenden zusammen.

Vor diesem Hintergrund sahen sich auch die Unternehmer nach auswärtiger Unterstützung um. Die lokalen Fabrikanten wurden schließlich vom Centralverband deutscher Industrieller unterstützt. Nachdem dieser längere Zeit die Situation weitgehend nur beobachtet hatte, beschloss er am 16. Dezember 1903 aktiv einzugreifen. Er erließ einen Spendenaufruf zu Gunsten der bestreikten Unternehmen. Dieser stilisierte die Ereignisse in Crimmitschau zu einer grundsätzlichen Kampf zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Danach handelte es sich um einen Kampf: „der gesamten deutschen Sozialdemokratie gegen die gesamte deutsche Arbeitgeberschaft um die Machtfrage, um die Frage, ob der Arbeitgeber Herr in seiner Werkstätte sein soll oder die sozialdemokratische Organisation.“[3]

Streikende

Obwohl die Mehrzahl der Streikenden über fünf Monate im Ausstand verblieben, nahm vor allem durch Zuzug von Außen die Zahl der Arbeitswilligen zu, so dass die Streikleitung am 18. Januar 1904 beschloss, den Streik zu beenden und den Arbeitern empfahl, zu den alten Bedingungen die Arbeit wieder aufzunehmen. Über 500 Streikende fanden keine Beschäftigung mehr und wurden ausgewiesen.

Folgen

Über die Auseinandersetzung selbst hinaus, war der Sieg der Unternehmer auf Dauer folgenreich. Die Unternehmer stellten im Zuge des Streiks fest, dass sie den Arbeitsmarkt nicht mehr allein beherrschten. Ihnen stand eine starke organisierte Arbeiterbewegung gegenüber.

Der Sieg stärkte nachhaltig die Bereitschaft der Arbeitgeber sich in Verbänden zusammenzuschließen. Der Centralverband der deutschen Industrie leitete noch während des Streiks die Gründung einer Zentralstelle der Arbeitgeberverbände ein. Es wurde ein Arbeitgeberverband der Textilindustrie gegründet, der sich sofort der Hauptstelle anschloss.[4]

Insgesamt verschoben sich nach dem Streik die Kräfteverhältnisse zwischen organisierter Arbeit und Kapital deutlich zu Gunsten der Arbeitgeber.[5] In der Folge des Streiks systematisierten die Arbeitgeber auch ihre Kampfmittel. Diese wurden nun planmäßig eingesetzt. Dazu gehörten schwarze Listen, Arbeitsnachweise, die Förderung wirtschaftsfriedlicher Verbände, Aussperrungen oder die Zahlung von Streikentschädigungen.[6]

Die Unternehmer setzten Gewerkschaften und Sozialdemokraten gleich. Sie verlangten von der Regierung Maßnahmen um „die Freiheit der Arbeit gegen den Terrorismus der sozialdemokratischen Gewerkschaften zu sichern.“ Die Folge war die Gründung des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie.[7]

Einzelnachweise

  1. Achim Knips. Deutsche Arbeitgeberverbände der Eisen- und Metallindustrie. 1888-1914 Stuttgart, 1996 S. 160
  2. Andrea Bergler, Patricia Ober. Das Textilunternehmen Pfau in Crimmitschau (1859-990). In: Unternehmen im regionalen und lokalem Raum. Leipzig, 2004 S. 152
  3. Hans-Peter Ullmann: Unternehmerschaft, Arbeitgeberverbände und Streikbewegung 1890-1914 In: Klaus Tenfelde, Heinrich Volkmann (Hrsg.). Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. München, 1981 S. 194
  4. Achim Knips. Deutsche Arbeitgeberverbände der Eisen- und Metallindustrie. 1888-1914 Stuttgart, 1996 S. 162 f.
  5. Hans-Peter Ullmann: Unternehmerschaft, Arbeitgeberverbände und Streikbewegung 1890-1914. In: Klaus Tenfelde, Heinrich Volkmann (Hrsg.). Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. München, 1981 S. 197
  6. Hans-Peter Ullmann: Unternehmerschaft, Arbeitgeberverbände und Streikbewegung 1890-1914 In: Klaus Tenfelde, Heinrich Volkmann (Hrsg.). Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. München, 1981 S. 199
  7. Terror, Terrorismus In. Geschichtliche Grundbegriffe Bd.6 Stuttgart, 1990 S. 401

Literatur

  • Klaus Schönhoven: Die Gewerkschaften als Massenbewegung im Wilhelminischen Kaiserreich 1890 bis 1918. In. Ulrich Borsdorf (Hrsg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Von den Anfängen bis 1945. Köln, 1987 S. 220
  • Lassotta, Arnold u. a. (Hg.): Streik: Crimmitschau 1903 – Bocholt 1913. Ein Lesebuch zu den Arbeitskämpfen in der Crimmitschauer und Bocholter Textilindustrie aus Anlaß der gleichnamigen Ausstellung. Essen 1993
  • Hans-Peter Ullmann: Unternehmerschaft, Arbeitgeberverbände und Streikbewegung 1890-1914 In: Klaus Tenfelde, Heinrich Volkmann (Hrsg.). Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. München, 1981 S. 194-208
  • Johannes Herz: Crimmitschauer Streik. In: Ludwig Heyde (Hrsg.): Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens. Bed.1 Berlin, 1931. S. 323-325. Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2009

Weblinks


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