Carl Friedrich Goerdeler

Carl Friedrich Goerdeler
Carl Friedrich Goerdeler, 1925

Carl Friedrich Goerdeler (* 31. Juli 1884 in Schneidemühl, Provinz Posen; † 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee) war ein deutscher Jurist, nationalkonservativer Politiker und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Er gehörte zu den führenden zivilen Köpfen der Widerstandsbewegung und sollte nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, an dessen Planung er maßgeblich beteiligt war, das Amt des Reichskanzlers übernehmen.

Goerdeler entstammte einer preußischen Beamtenfamilie. Er war seit 1911 als Kommunalpolitiker tätig und von 1930 bis 1937 Oberbürgermeister von Leipzig. Geistig orientierte Goerdeler sich an der preußischen Tradition und einem wirtschaftsliberalen Wertkonservatismus. Der Verwaltungsfachmann war in den 1920er Jahren mehrfach als Reichskanzler im Gespräch, bevor er 1931/1932 und 1934/1935 das Amt des Reichskommissars für Preisüberwachung innehatte.

Die nationalsozialistische „Machtergreifung“ bewertete Goerdeler zunächst positiv. Aus seiner konservativen Weltanschauung heraus weigerte er sich jedoch von Anfang an Mitglied der NSDAP zu werden und entwickelte sich bis 1936 zu einem entschiedenen Gegner des Regimes. Als in Leipzig im November 1936 das Denkmal des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy abgerissen wurde, trat Goerdeler demonstrativ vom Amt des Oberbürgermeisters zurück. In den folgenden Jahren reiste er durch die Staaten der Westmächte, um vor dem Nationalsozialismus zu warnen und die alliierten Regierungen zu beraten.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges bildete sich um Goerdeler ein konservativer Kreis des zivilen Widerstands heraus, der das Ende der NS-Herrschaft herbeiführen wollte. Dieser sogenannte „Goerdeler-Kreis“ war ein geistiges Zentrum der Opposition gegen Hitler und verfügte über zahlreiche Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen, insbesondere zum militärischen Widerstand um Ludwig Beck. Nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli wurde Goerdeler im August 1944 denunziert, vom „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt und am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.[1]

Inhaltsverzeichnis

Herkunft und Kindheit

Wohnhaus der Familie Goerdeler am Marktplatz von Schneidemühl, um 1890

Carl Friedrich Goerdeler wurde als dritter Sohn von Julius Goerdeler und seiner Frau Adelheid, geborene Roloff, in Schneidemühl, Kreis Kolmar i. Posen geboren. Seine Familie gehörte väterlicher- und mütterlicherseits zur preußischen Beamtenelite. Bereits sein Urgroßvater Christian Goerdeler, ursprünglich aus Lüchow, war als Oberrevisionsrat zur Zeit Friedrich Wilhelms III. in Berlin tätig gewesen. Sein Großvater, Dietrich Wilhelm Goerdeler, arbeitete am Oberlandesgericht Hamm in der Provinz Westfalen. Seitdem er 1852 an das Appellationsgericht Marienwerder in der Provinz Westpreußen versetzt worden war, war die Familie eng mit dem ländlichen Ostelbien verbunden.[2] Der Vater, Julius Goerdeler, noch in Hamm geboren, wuchs in Marienwerder auf und heiratete die Tochter des dortigen Appellationsgerichtsrats Carl Roloff, nachdem er als Offizier der Reserve aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zurückgekehrt war. Aus dieser Ehe gingen vier Söhne, Gustav, Franz, Carl und Fritz Goerdeler sowie eine Tochter, Else, hervor.[2] Über die Jugendzeit Goerdelers liegen aufgrund seiner erhaltenen „Jugenderinnerungen“, die er kurz vor seiner Verhaftung 1944 verfasste, detaillierte Quellen vor.[3]

Nach der Geburt des dritten Sohnes Carl Friedrich gab Julius Goerdeler seine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Schneidemühl auf und ergriff die Chance, als Amtsrichter und gleichzeitig als Geschäftsführer der Landwirtschaftsbank „Neue Westpreußische Landschaft“ zu arbeiten. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wuchs Carl Friedrich Goerdeler in der kleinen Landstadt Schneidemühl auf, bevor sein Vater 1890 ins nahe Marienwerder versetzt wurde und die Familie dorthin umzog.[4] Am Umfeld der Familie änderte sich jedoch wenig: Ihre Lebensführung war bürgerlich und von provinzieller Einfachheit und Naturverbundenheit geprägt. Sein Vater führte die Familie patriarchalisch-autoritär, kompensiert durch die „liebreizende Würde“ und Lebhaftigkeit der Mutter. Der große Familienzusammenhalt und insbesondere auch die geschlechterspezifische Rollenverteilung bestimmten Goerdelers spätere Auffassungen über die Familie als wichtigste Stütze der Gesellschaft – er selbst nannte dies das „Grunderlebnis“ seiner Kinder- und Jugendzeit.[5] Hinzu kam der „Geist altpreußisch-konservativen Beamtentums“: Goerdeler erfuhr eine Erziehung zu preußischen Tugenden und königstreu-konservativer Grundeinstellung. Auch politische Diskussionen fanden im Hause der Familie häufig statt, besonders, seitdem der Vater 1899 für die Freikonservative Partei in den preußischen Landtag eingezogen war.[6]

Seit 1891 besuchte Goerdeler das humanistische Gymnasium Marienwerder, wo schon sein Vater das Abitur gemacht hatte. Auch wenn er nicht zu den besten Schülern gehörte, so beurteilte er im Rückblick seine Schulzeit als „vorzüglich“.[7] Am humanistischen Gymnasium erwarb er eine bürgerlich ästhetisch-geschichtlich ausgerichtete Bildung. Besonders die Kultur des antiken Griechenlands und die friederizianisch-protestantische Tradition standen im Vordergrund.[8] Am 22. März 1902 legte Carl Friedrich Goerdeler dort die Reifeprüfung erfolgreich ab. Anschließend meldete er sich, der Mode der Jahrhundertwende folgend,[9] zur Offiziersausbildung bei der kaiserlichen Marine.[6] Er verbrachte aber nur wenige Monate als Schüler der Marineakademie in Kiel, da ihn „furchtbares Heimweh“ packte.[10] Nach dem kurzen Zwischenspiel als Marinesoldat entschloss sich Goerdeler schließlich, die Familientradition fortzusetzen und Jurist zu werden.

Studium in Tübingen und Königsberg

Neue Aula der Eberhard Karls Universität Tübingen, in der eine Gedenktafel an die ehemaligen Tübinger Studenten erinnert, die am 20. Juli beteiligt waren.

Am 13. November 1902 nahm Goerdeler an der Eberhard Karls Universität Tübingen das Jura-Studium auf.[11] Dort hatten bereits seine beiden älteren Brüder studiert und wie sie wechselte auch Carl Friedrich nach drei Semestern die Universität: 1905 ging er an die Albertina nach Königsberg. Die juristischen Fakultäten dieser beiden Hochschulen galten als besonders konservativ und elitär. Neben Vorlesungen der Rechtswissenschaft besuchte Goerdeler auch historische, da er sich sehr für die Geschichte des 19. Jahrhunderts, insbesondere für die Preußischen Reformen interessierte. Dieses historische Interesse prägte später auch seine politischen Ansichten.

In Tübingen trat er der „Akademischen Turnerschaft Eberhardina“ (heute: Alte Turnerschaft Eberhardina-Markomannia) bei. Im Kaiserreich bildeten die Verbindungen die zentralen Institutionen des studentischen Lebens. Die „Eberhardina“, der auch Goerdelers Brüder angehörten, war eine 1884 gegründete, freie, farbentragende und pflichtschlagende Turnerverbindung.[12] Zu seinen Kommilitonen gehörte Eugen Bolz, der als Zentrumspolitiker 1928 bis 1933 württembergischer Staatspräsident war und später im Widerstandskreis des 20. Juli mitwirkte. Nach Goerdelers Wechsel nach Königsberg legte er am 31. Oktober 1905 sein erstes Staatsexamen mit dem Prädikat „befriedigend“ ab.[13] Wenige Tage später erfolgte seine Ernennung zum Referendar. In Königsberg lernte er die Arzttochter Anneliese Ulrich kennen, mit der er sich 1903 verlobte.[14] Er war Mitglied der Verbindung Rossitten, aus der 1926 die Fliegerschaft Preußen hervorging.

Vom 1. November 1905 bis zum 30. September 1906 stand Carl Friedrich Goerdeler als Einjährig-Freiwilliger beim „1. Ostpreußischen Feldartillerie-Regiment Nr. 16“. Nach Beendigung der militärischen Dienstpflicht begann er mit einer praktischen Ausbildung als Referendar. Er absolvierte seinen Vorbereitungsdienst an verschiedenen Stationen, so in Fischhausen, Braunsberg, Königsberg und Marienwerder. Neben seinem Referendariat hat Goerdeler die Zeit gefunden, zum Thema „Das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit im Schuldinhalte und Behandlung in der Literatur und den wichtigsten deutschen Gesetzbüchern des 19. Jahrhunderts“ zu promovieren.[15] 1907 reichte er die Dissertation bei Professor Robert von Hippel an der Universität Göttingen ein.[16] Insgesamt erhielt er hierfür aber nur die Note „rite“.

Drei Jahre später beendete er seine Referendariatszeit und legte am 31. März 1911 in Berlin das zweite Staatsexamen ab. Wenig später wurde er zum Gerichtsassessor ernannt. Dies bedeutete jedoch keineswegs die Übernahme in den dauerhaften Beamtenstatus; vielmehr verdiente die Mehrheit der Juristen in der Kaiserzeit erst ab Mitte vierzig ihr erstes Gehalt.[17] So war Goerdeler veranlasst, auf anderen Gebieten einen Arbeitsplatz zu finden. Aufgrund seines politischen Interesses entschied er sich, wie später auch sein Bruder Fritz, für eine kommunalpolitische Laufbahn. Um hierauf besonders gut vorbereitet zu sein, entschloss sich Carl Friedrich Goerdeler auf Anraten des mit seinen Eltern befreundeten Königsberger Oberbürgermeisters Siegfried Körte dafür, zunächst Praktika im Bankwesen zu absolvieren. Zu diesem Zweck ließ er sich am 21. April 1911 für ein Jahr aus dem Justizdienst beurlauben.

Vom 24. April bis zum 14. September arbeitete Goerdeler bei der Bank der „Ostpreußischen Landschaft“ und anschließend bis zum 10. Oktober in der Königlichen Seehandlung, der preußischen Staatsbank, am Gendarmenmarkt in Berlin.[18] Das Praktikum im Bankwesen verschaffte ihm Einblicke in ökonomische Zusammenhänge, die ihm später in der Kommunalverwaltung von Nutzen waren. Nach Abschluss der Praktika und des Referendariats strebte Goerdeler, nunmehr Jurist, einer ersten festen Anstellung entgegen. Zudem hatte er während seiner Praktikumszeit seine Verlobte Anneliese Ulrich geheiratet, die er in Königsberg kennengelernt hatte. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor.[19]

Kommunalpolitische Anfänge in Solingen

Am 15. Oktober 1911 trat Goerdeler als Gerichtsassessor in den Dienst der Stadtverwaltung von Solingen ein, der Oberbürgermeister August Dicke vorstand. Er fand zunächst neben der reinen Verwaltungstätigkeit durch die Teilnahme an den Stadtverordnetenversammlungen einen Einblick in die kommunalpolitische Praxis, bevor er seit dem 17. Oktober auch das Recht hatte, den Kommissionssitzungen beizuwohnen. Am 10. Juni 1912 erfolgte seine dauerhafte Anstellung als besoldeter juristischer Hilfsarbeiter.[20] Der Posten des juristischen Hilfsarbeiters war für die Vorbereitung auf höhere Beamtenposten geschaffen worden, weshalb Oberbürgermeister Dicke Goerdeler auch von Anfang an mit der Leitung kleinerer Dezernate betraute. Die Stadt Solingen stellte in vielerlei Hinsicht einen Gegensatz zu den Orten seiner Jugend dar: Sie war eine moderne Industriestadt, politisch eine Hochburg der Sozialdemokratie. So entwickelte der konservative Preuße eine stärkere Offenheit gegenüber anderen politischen Strömungen, ohne in irgendeiner Weise von seinen nationalkonservativen Überzeugungen abzurücken.[21]

Am 17. Dezember 1912 wählte ihn die Stadtverordnetenversammlung für zwölf Jahre in das Amt des Beigeordneten. Goerdeler hatte zuvor erwogen, als Stadtrat nach Halberstadt zu wechseln. Wegen seiner besonderen fachlichen Befähigung war die Stadtverordnetenversammlung schließlich bereit, ihn ungewöhnlich schnell zu befördern, um ihn auf diese Weise in Solingen zu halten.[22] Für die Familie war sein beruflicher Aufstieg „ein schöner Erfolg“, wie seine Frau Anneliese später schrieb[23], insbesondere deshalb, weil wenige Tage nach Goerdelers Amtseinführung das erste Kind, Sohn Ulrich, zur Welt kam.[24] Zu den Aufgaben als Beigeordneter gehörte die Leitung des Schul-, Sozial-, Finanz-, Steuer- und Versicherungswesens sowie die Vertretung des Bürgermeisters, womit er auch tatsächlich während einer Abwesenheit Dickes betraut wurde.[24] Bereits in Solingen bildete sich heraus, was Goerdeler in späteren Schriften häufig betonte: Im Vergleich der beiden Kommunalverfassungen, der Bürgermeister- und der Magistratsverfassung bevorzugte er eindeutig die Bürgermeisterverfassung, weil diese die seines Erachtens effektivste Verwaltungsstruktur hätte.[25] Aus der geregelten Tätigkeit als Beigeordneter wurde Goerdeler schließlich durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs herausgerissen.

Offizier im Ersten Weltkrieg

Goerdeler als Ordonnanzoffizier in Weißrussland, 1916

Carl Friedrich Goerdeler war derjenige, der am 31. Juli 1914 in Solingen von der Rathaustreppe die allgemeine Mobilmachung verkündete.[24] Als Reserveoffizier musste er sich sofort nach der Mobilmachung beim „Feldartillerie-Regiment Nr. 71“ melden. Seit dem 4. August 1914 stand er bei diesem Regiment in Ostpreußen. Goerdeler fand Verwendung als Adjutant des Kommandeurs der Ersatzabteilung, mit der er an der für die Deutschen siegreichen Schlacht bei Tannenberg teilnahm. Es folgten die Schlacht von Wilna und der Stellungskampf um Smorgon. Im Oktober 1915 erfolgte die Auflösung des Regiments; die Truppen wurden dem „Feldartillerie-Regiment Nr. 93“ überstellt. Dort stieg Goerdeler, mittlerweile im Rang eines Oberleutnants, zum Führer der 6. Batterie, wobei es sich um leichte Feldhaubitzen handelte, auf. Danach war er als Ordonnanzoffizier bei verschiedenen Stäben an der Ostfront tätig, zuletzt als Hauptmann der Reserve beim Oberkommando der 10. Armee, die General Erich von Falkenhayn unterstellt war. Dort gehörte die Finanzverwaltung des besetzten Gebiete Weißrusslands und Litauens zu seinen Aufgaben. Goerdeler nahm bis zum 31. Januar 1919 an der Ostfront am Ersten Weltkrieg teil. Für seine Verdienste wurde er mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse ausgezeichnet.

Seit Beginn des Krieges kämpfte er „mit größtem Optimismus bis zum letzten Tag“.[26] Sein patriotischer Enthusiasmus entsprang einer unbedingten Übereinstimmung mit den Kriegszielen des Kaiserreichs. Diese Haltung behielt er bis zum Kriegsende, trotz der grauenhaften Kriegserfahrungen, darunter auch dem Tod seines Bruders Franz 1918 bei Saint-Quentin an der Westfront. Allerdings teilte Goerdeler nicht die Erfahrungen des Grabenkrieges im Westen, die seine Generation prägen sollten.

Zu der schweren Enttäuschung durch die Kriegsniederlage kam bei Goerdeler das Entsetzen über die politischen Umbrüche im Zuge der Novemberrevolution. Nach seiner Rückkehr kämpfte er am 3. und 4. März 1919 in Straßenkämpfen in Berlin als Freikorps-Mitglied gegen den Spartakusbund. Später sah er dies kritisch: Angesichts der politischen Entwicklung 1918 sei der Versuch einer Revolution rückblickend „eine natürliche Selbstverständlichkeit“ gewesen.[27] Die veränderte Situation führte bei Goerdeler 1918/19 zu seiner Sinnkrise. So bezweifelte er, dass es überhaupt sinnvoll sei, unter diesen Bedingungen wieder in den Verwaltungsdienst einzutreten.[28] Letztendlich nahm er seine Tätigkeit als Beigeordneter in Solingen aber wieder auf. Der jungen Weimarer Republik stand Carl Friedrich Goerdeler vom ersten Moment an ablehnend gegenüber und setzte sich in den folgenden Jahren auch für die Wiedererrichtung der Hohenzollern-Monarchie ein.

Zweiter Bürgermeister von Königsberg

Das Kneiphöfische Rathaus in Königsberg, ca,. 1908

Im Februar 1919 trat Goerdeler in die junge Deutschnationale Volkspartei ein. Die DNVP stand rechts im politischen Spektrum der Weimarer Republik und verstand sich als Erbin der konservativen Parteien aus der Kaiserzeit. Zudem meldete sich Goerdeler freiwillig zum vom Alldeutschen Verband ausgerufenen „Volkskampf“ gegen Polen. Für Carl Friedrich Goerdeler stellte das „Diktat von Versailles“ einen Verlust der Heimat und eine Erniedrigung Deutschlands dar. Nachdem die Nationalversammlung für den Versailler Vertrag gestimmt hatte, waren die Pläne eines militärischen Konflikts mit Polen zur Rückgewinnung der abgetrennten Gebiete endgültig gescheitert. Goerdeler zog aus seiner intensiven Beschäftigung mit dem Thema des polnischen Korridors die Konsequenz, sich in revanchistischen und nationalistischen Organisationen zu betätigen. Hierzu zählt unter anderem seine Mitgliedschaft im „Deutschen Ostbund“, der seine Aufgabe in der Herstellung einer „Einheitsfront des ostmärkischen Deutschtums“ gegen „slawische Überflutung“ sah.[29] So trug Goerdelers verstärktes politisches Engagement seit 1919 nicht nur reaktionär-revanchistische, sondern auch deutlich völkische Züge. Er hatte sich weltanschaulich verstärkt von einem traditionellen Wertkonservatismus altpreußischer Prägung hin zu einem aggressiv-völkischen Nationalismus bewegt; eine Geisteshaltung, gegen die Goerdeler später kämpfte und deren Opfer er selbst wurde.[30] Goerdeler war zu diesem Zeitpunkt auch von der Dolchstoßlegende überzeugt, die er später als „Gift“ bezeichnete.[28]

Da sich die Familie Goerdeler nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr in Solingen heimisch fühlte und sie in Gedanken bei ihrer ostdeutschen Heimat war, entschloss sich Goerdeler, für das Amt des Zweiten Bürgermeisters von Königsberg zu kandidieren. Am 14. Januar 1920 setzte er sich in der Wahl nur knapp gegen den sozialdemokratischen Gegenkandidaten durch.[31] Als 11. Februar 1920 fand in der Königsberger Stadtverordnetenversammlung seine Amtseinführung statt, während der die SPD- und USPD-Fraktionen unter Protest den Saal verließen: Da der liberale Oberbürgermeister Lohmeyer mit ihren Stimmen gewählt worden war, beanspruchten sie Goerdelers Posten für einen Linken. Obwohl Goerdeler in seiner Amtseinführungsrede seine Verpflichtung für das Allgemeinwohl, nicht für Parteiinteressen, bekräftigte, beherrschte vor allem heftiger Parteienstreit seine Zeit als Zweiter Bürgermeister. So gelang es etwa seit 1927 nicht mehr, den Haushalt in der Stadtverordnetenversammlung durchzubringen.

Goerdeler sah die Selbstverwaltung der Städte, die auf den von ihm bewunderten Freiherrn vom Stein zurückging, als wichtigsten kommunalpolitischen Grundsatz an.[32] Da die Verwaltungsstrukturen nach den Umbrüchen der Revolution noch ungeordnet waren, gelang es Goerdeler, den Verwaltungsapparat durch Neuordnung zu straffen und gleichzeitig mehr Gewicht gegenüber der Stadtverordnetenversammlung zu geben. Auf dem Deutschen Städtetag engagierte er sich für eine einheitliche deutsche Gemeindeordnung, die eine starke Stellung des Bürgermeisters garantieren und gleichzeitig die Parteipolitik „aus dem Rathaus heraushalten“ sollte.[33] Nach Goerdelers Konzeption führe dies schließlich zu besseren Ergebnissen für alle Seiten, obwohl das tatsächliche demokratische Mitspracherecht geschwächt würde. Ähnliche Verfassungspläne entwickelte er später auch für die Reichsebene, wo er mehr Macht für einen überparteilichen Reichspräsidenten (oder Monarchen) forderte.[34] Da Goerdeler über seine Tätigkeit beim Deutschen Städtetag in Politikerkreisen überregionale Bekanntheit erlangt hatte und für seine kommunalpolitischen Vorstellungen und seinen Pragmatismus auch Zuspruch aus der Zentrumspartei und der DVP erhielt, war er in den 20er Jahren mehrfach als Reichskanzler im Gespräch.[35] Als Carl Friedrich Goerdeler 1930 nach Leipzig wechselte, lobten auch SPD-Vertreter seine Verdienste um die Stadtverwaltung; die linken Parteien nahmen geschlossen an seiner feierlichen Verabschiedung teil.[33] Aus pragmatischen Gründen hatte sich Goerdeler in seiner Königsberger Zeit an die Weimarer Republik angenähert und insbesondere positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten gemacht.

Oberbürgermeister von Leipzig

Bürgermeister und Preiskommissar in der Weimarer Republik

Carl Friedrich Goerdeler als Oberbürgermeister von Leipzig, ca. 1932

Am 23. Mai 1930 „geschah das Unerwartete[36]: Der konservative Ostpreuße Goerdeler wurde mit den Stimmen des „Vereinigten Bürgerblocks“ (DNVP, Zentrum und Vertreter von konservativen Kleinparteien) sowie einzelnen Stimmen sowohl aus der SPD- als auch aus der NSDAP-Ratsfraktion zum Oberbürgermeister der sächsischen Metropole Leipzig gewählt.[37] Leipzig hatte nicht nur als Messestadt mit 700.000 Einwohnern und einem pulsierenden Geschäftsleben überregionale Bedeutung, sondern auch als Sitz des Reichsgerichts, der Deutschen Bücherei und kultureller Institutionen wie dem Gewandhaus-Orchester.[36] So bedeutete dies für Goerdeler einen enormen Karrieresprung. Die Familie zog aus ihrer mittelgroßen Königsberger Etagenwohnung in eine repräsentative Bürgervilla im Leipziger Stadtteil Leutzsch.[38] Unmittelbar nach seiner Amtseinführung begann Goerdeler mit der Umstrukturierung der Leipziger Stadtverwaltung hin zu einer schlanken, klar hierarchischen Struktur nach Königsberger Vorbild. So begann er, gleichartige Verwaltungsstellen zu großen Dezernaten zusammenzulegen und auch den Einfluss der Parteien über die Verringerung der Ratsmitgliederzahl zu beschränken.[39] Zudem gehörte er seit seiner Wahl zum Oberbürgermeister dem Vorstand des Deutschen Städtetages an, wodurch seine kommunalpolitischen Vorstellungen deutschlandweit an Gewicht gewannen.[40]

Kurz bevor Goerdeler sein Amt übernommen hatte, hatte die Weltwirtschaftskrise eingesetzt. Die schwierige Finanzsituation infolge dessen belastete seine Amtszeit schwer. Zudem hatten sich die Arbeitslosenzahlen erheblich erhöht und mit ihnen die Wahlergebnisse für die extremen Parteien, insbesondere die NSDAP. Gleichzeitig gab es in Leipzig Probleme mit der zunehmenden Verstädterung: Weite Teile der Stadt waren nicht kanalisiert, hinzu kam Wohnraummangel.[41] Es gelang Goerdeler dennoch, diese Probleme weitgehend zu lösen und dabei das Haushaltsdefizit durch eiserne Sparpolitik zu beseitigen. Der Wohnungsnot begegnete er durch eine Intensivierung der Vorstadtbebauung.[41] Goerdeler erarbeitete sich zudem den Ruf eines Experten für öffentliche Finanzen, was ihn in Verbindung zu Reichskanzler Heinrich Brüning brachte, der auf Reichsebene eine ähnliche Politik verfolgte. Brüning leitete ein Präsidialkabinett, das mit Notverordnungen eine rigide Deflationspolitik betrieb. Als die ersten Einsparungen kaum Wirkung zeigten und die politische Radikalisierung zunahm, suchte Brüning nach einem geeigneten Preiskommissar, der staatlich verordnete Preissenkungen von 10 Prozent gegen den Widerstand der Wirtschaft durchsetzen sollte. Für diese Aufgabe wählte er 1931 Goerdeler aus. Dieser zögerte zunächst, da derartige staatlichen Eingriffe seinen wirtschaftsliberalen Überzeugungen vom „freien Spiel der Kräfte“ entgegenstanden. Schließlich entschloss er sich nach einem Gespräch mit Reichspräsident Paul von Hindenburg die Aufgabe parallel zum Oberbürgermeisteramt anzunehmen. Dies war eine bewusste Entscheidung für Brünings Deflationspolitik und gegen die Deutschnationalen und insbesondere ihren Vorsitzenden Alfred Hugenberg, der Fundamentalopposition gegen das verhasste „schwarz-rote System“ betrieb. Diese grundsätzliche Differenz führte schließlich zum Austritt Goerdelers aus der DNVP 1931.[42]

Goerdeler als Preiskommissar, um 1933

Für Brüning, dem durch Andeutungen Hindenburgs seit Ende 1931 klar war, dass er ein Reichskanzler auf Abruf war, war Goerdeler der Wunschnachfolger im Amt. Nach seiner schlussendlichen Demission schlug er diesen Hindenburg in seiner letzten Aussprache am 30. Mai 1932 direkt als möglichen Nachfolger vor. Da Hindenburg jedoch mit der Wirtschaftspolitik im Stile Brünings brechen und einen Rechtsruck der Regierung herbeiführen wollte, kam Goerdeler für ihn als neuer Reichskanzler nicht in Frage.[43][44] Er erkannte, dass die drängende Frage der Umgang der Deutschnationalen und des Zentrums mit der NSDAP war. Er schrieb: „Schon nach dem Sturz Brünings musste sofort die NSDAP vor die Entscheidung gestellt werden, nunmehr die Verantwortung mit zu übernehmen oder nicht mehr zu einer neuen Wahl zu kommen.[45] Hierbei handelte es sich nicht um eine Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie, sondern Goerdeler sah lediglich zwei Möglichkeiten, den Aufstieg der NSDAP aufzuhalten: Entweder, sie an Regierungsverantwortung zu beteiligen, sie zu „zähmen“, oder sie zu verbieten und „Hitler und seine gesamte entourage endgültig hinter Schloss und Riegel“ zu bringen.[45] Die Kanzlerschaft Franz von Papens unterstützte er nicht. Als dieser ihm anbot, als Innen- oder Finanzminister in sein Kabinett einzutreten, lehnte Goerdeler ab. In der Folgezeit verlor er rasch an Einfluss und wurde nicht länger als Preiskommissar zu Kabinettssitzungen herangezogen.[46] Später machte er sich wegen dieses Entschlusses schwere Vorwürfe, dass er die Chance verpasst hätte, den weiteren Aufstieg Hitlers zumindest etwas abzubremsen.

Seine Forderung, die NSDAP mit in die Regierungsverantwortung zu nehmen, wird von einzelnen Historikern als Unterstützung für den Nationalsozialismus gewertet. Hierbei werden belegte Äußerungen Goerdelers über ein Verbot der NSDAP aus den Jahren 1932 und 1933 nicht beachtet.[47] Andererseits kann von einer konsequenten Ablehnung des Nationalsozialismus von Beginn an ebenso wenig die Rede sein, wie von einer begeisterten Unterstützung. In den politischen Auffassungen Goerdelers gab es durchaus einen Konsensbereich mit der NSDAP, der zu einer gespaltenen Haltung Goerdelers und einer anfänglichen Kooperation zwischen ihm und den neuen Machthabern führte.[48]

Machtübernahme und Anfänge nationalsozialistischer Herrschaft

Wirkungsstätte Goerdelers: Das Neue Rathaus in Leipzig

Goerdelers Haltung zur Machtübernahme der NSDAP ist ambivalent: Einerseits erschienen seiner bürgerlichen Natur das lärmende Auftreten der Nazis, ihre wirtschaftlichen Vorstellungen und ihre Gewalttätigkeit als bedenklich.[49] Neben dieser Distanz gab es allerdings auch Schnittmengen zwischen seinen politischen Vorstellungen und dem Programm der NSDAP: Insbesondere die Beseitigung des „Diktats von Versailles“ und die Stärkung der Reichsexekutive führten dazu, dass Goerdeler der Machtergreifung 1933 auch positive Seiten als „nationale Revolution“ abgewinnen konnte.[50] Zu einer Stellungnahme gegen die politischen Umwälzungen konnte er sich zu diesem Zeitpunkt nicht durchringen, obgleich er sie kritisch sah. Trotz seiner Hoffnungen auf eine baldige Beseitigung des Versailler Vertrags und einer innenpolitischen Umformung weg vom reinen „Parteienstaat“ kann von einer euphorischen Unterstützung der Machtergreifung nicht gesprochen werden.[51] Dass Deutschland sich aber gerade durch den stetigen Machtausbau der NSDAP in den von Goerdeler abgelehnten Parteienstaat verwandelte und seine Ideale von Recht, die auf einem tiefen Vertrauen in die preußische Rechtsstaatlichkeit beruhten, in ihren Grundfesten erschüttert werden sollten, erkannte er nicht. So unterschätzte er insgesamt – trotz gegenteiliger Äußerungen aus der Weimarer Zeit – die aufsteigende Gefahr.[49]

Am Abend des 30. Januar 1933 blieb Goerdeler bis spät in die Nacht im Rathaus, um persönlich die Besetzung der Behörde durch die SA zu verhindern. Anders als in vielen Städten gelang dieses Vorhaben.[52] In Sachsen war Goerdeler der einzige Oberbürgermeister, der auch nach der Machtergreifung im Amt blieb – auf Reichsebene waren es nur vier Oberbürgermeister, die Großstädten weiterhin vorstanden.[53] Sein Bruder, Fritz Goerdeler, der bis 1933 das Amt des Oberbürgermeisters seiner Heimatstadt Marienwerder innehatte, wurde aus dem Amt gedrängt, da er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten. Da Carl Friedrich Goerdeler in der Metropole Leipzig nach wie vor über großen Rückhalt in der Bevölkerung verfügte, konnten die Nationalsozialisten ihn nicht einfach aus dem Rathaus zwingen. Durch den Vorfall mit seinem Bruder hatte sich seine Skepsis den neuen Machthabern gegenüber noch verstärkt. Er beschloss, im Amt zu bleiben, um die gemäßigten Kräfte zu stärken und die nationalsozialistische Regierung zu beraten, um dem Allgemeinwohl weiterhin dienlich zu sein.[54] Dies als aktive Unterstützung Hitlers zu interpretieren, erscheint verkürzt.[55]

Besonders deutlich zeigte sich seine Skepsis im sogenannten „Flaggenkonflikt“: Goerdeler war nicht bereit, am Leipziger Rathaus und dem Reichsgericht die Hakenkreuzflagge zu hissen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Nationalflagge war.[56] Stattdessen flaggte Goerdeler, wie es zu diesem Zeitpunkt das Gesetz vorschrieb, am Rathaus mit der sächsischen Landesflagge sowie der Stadtflagge Leipzigs und am Reichsgericht mit Schwarz-Weiß-Rot. SA und SS forderten eine unbedingte Verwendung der Hakenkreuz-Flagge und drohten, dies mit Terroraktionen zu untermauern. Die Flaggenkrise wurde schließlich durch einen Erlass Hindenburgs entschärft, wonach Hakenkreuzflagge und schwarz-weiß-rote Fahne gemeinsam zu hissen seien.[57] Als am Tag von Potsdam die Nationalsozialisten ihr vermeintliches Anknüpfen an die Traditionen Preußens inszenierten, war Goerdeler nicht, wie die meisten Konservativen, begeistert von diesem Wiederaufleben des „preußischen Geistes“. Er schrieb: „Der Geist von Potsdam will nicht nur angerufen sein, er muss auch lebendig werden.[58] Hiermit verknüpfte Goerdeler, der der NS-Propaganda mit mäßig beeindruckter Distanz begegnete, zahlreiche Kritikpunkte an die nationalsozialistische Regierung, welche er im Sommer 1934 in einer Denkschrift an Adolf Hitler formulierte: Er setzte die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten, die durch Neuverschuldung und Geldschöpfung die Arbeitslosenzahlen senkten, in Gegensatz zur Sparsamkeit des Großen Kurfürsten.[59] Für Goerdeler galt: „Wirtschaftspolitik ist Friedenspolitik.“ Die nationalsozialistischen Wirtschaftsvorstellungen, die letztlich zur Autarkie, der Loslösung vom Weltmarkt führen würden, hielt er für gefährlich und lehnte sie aus wirtschaftsliberaler Überzeugung ab, jedoch auch, weil er bereits 1934 militärische Auseinandersetzungen in Form von Wirtschaftskriegen fürchtete.[58]

Reaktionen auf die Verfolgung von Minderheiten

Aufruf der NSDAP zum Judenboykott vor dem Eingang des Warenhaus Tietz in Berlin, 1933

Ein wichtiger Bezugspunkt der zunehmenden Gegnerschaft Goerdelers zum Nationalsozialismus war die Verfolgung von politischen Gegnern und der jüdischen Minderheit.[60] Der NS-Schutzhaftpraxis fielen allein bis März 1933 über 1.000 Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten zum Opfer, die seit Ende April in die Konzentrationslager Colditz, Hainichen und Sachsenburg überstellt wurden.[61] Goerdeler nannte diese Vorgänge ein „gesetzloses Treiben“, dem ein „Ende zu machen“ sei.[60] Die nationalsozialistische „Judenpolitik“ kritisierte er ebenfalls seit Beginn der NS-Herrschaft. Aus humanistischer und rechtsstaatlicher Überzeugung setzte er sich für betroffene jüdische Bürger ein. Zunächst betraf dies vor allem die Reaktionen Goerdelers auf die Verdrängung von Juden aus dem kulturellen Leben Leipzigs: Er bemühte sich, wenn auch vergeblich, um den Verbleib des Kapellmeisters am Leipziger Gewandhaus, Bruno Walter, und des Direktors des Alten Theaters, Detlef Sierck, der wegen seiner jüdischen Ehefrau aus dem Amt gedrängt wurde. Im Falle des Leipziger Jura-Professors Ludwig Ebermayer war Goerdelers Einsatz sogar vorerst erfolgreich. Daneben äußerte Carl Friedrich Goerdeler seinen Widerspruch gegenüber der antisemitischen Praxis durch demonstratives Grüßen von renommierten jüdischen Intellektuellen in Anwesenheit einflussreicher Nationalsozialisten.[62]

Als am 1. April 1933 während des sogenannten Judenboykotts in ganz Deutschland jüdische Geschäfte boykottiert wurden, ging Goerdeler auf den Brühl, das damalige Zentrum des Pelzhandels in Leipzig, wo sich viele jüdische Geschäfte befanden.[51] Dort besuchte er trotz der Wachposten der SA, die vor den Warenhäusern stationiert waren, die jüdischen Geschäfte.[63] Dieser ungewöhnliche Vorgang, dass sich ein amtierender Oberbürgermeister in dieser Form gegen die Politik des NS-Regimes stellte, sorgte auch überregional für gewisses Aufsehen; so berichtete die Frankfurter Zeitung darüber.[64] In der Diskussion, die sich in der Folgezeit zwischen führenden Leipziger Nazis und Goerdeler ergab, führte dieser vor allem den außenpolitischen Schaden, insbesondere in Leipzig als Messestadt, an, zu dem solche Aktionen führten.[65]

Die Verabschiedung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums bedeutete den Übergang von willkürlichen antisemitischen Maßnahmen hin zu einer gesetzlich geregelten Diskriminierung von Juden. Das Gesetz vom 7. April 1933 bestimmte in seinem sogenannten Arierparagraphen, dass „Beamte nicht-arischer Abstammung […] in den Ruhestand zu versetzen“ seien.[66] Davon ausgenommen waren jüdische Beamte, die bereits vor dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder am Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite teilgenommen haben bzw. einen gefallenen Vater oder Sohn hatten. Goerdeler äußerte sich nicht explizit gegen das Gesetz, da ein Protest wegen des offiziellen Charakters des Arierparagraphen nicht ohne einen vollständigen Bruch mit dem NS-Regime möglich gewesen wäre.[67] Diesen wollte er jedoch nach wie vor vermeiden.

Zunehmende Desillusionierung und Preiskommissariat 1934/35

Goerdeler als Oberbürgermeister mit dem späteren NS-Justizminister Otto Georg Thierack, 1935
Hitler und Goerdeler während der Grundsteinlegung des Richard-Wagner-Hains, 6. März 1934

Am 30. Januar 1935 wurde die Deutsche Gemeindeordnung (DGO) erlassen, eine grundlegende Reform des Kommunalverfassungsrechts. Die Nationalsozialisten griffen hierbei in Teilen auf Vorschläge Goerdelers zurück, die er im Deutschen Städtetag geäußert hatte. Gleichzeitig bedeutete die DGO das Ende der kommunalen Selbstverwaltung, die für Goerdeler eines der bedeutendsten Elemente der deutschen Bürokratie überhaupt war. Das neue Gesetz beseitigte die unmittelbare oder mittelbare Mitwirkung der Bevölkerung an innergemeindlicher Willensbildung und übertrug weite Teile der städtischen Aufgaben an den Staat oder an die Partei. Die verbliebenen Aufgaben der Gemeinde gingen nach dem „Führerprinzip“ auf die Person des Bürgermeisters über. Obwohl Goerdeler einen ähnlichen Machtausbau immer gefordert hatte, lehnte er das Gesetz als Ganzes ab. Auf die Beteiligung der Bevölkerung wollte er nicht verzichten, ebenso beklagte er das Ende der Selbstverwaltung: „Die Zeit wird lehren, ob man auf die Dauer damit auskommt, auf jeden Befragungsakt der urteilsfähigen Bürger einer Gemeinde zu verzichten.[68] Er selbst suche nach dem Mittelweg zwischen „überspitzten demokratischen Gedankengängen“ und den „uns wesensfremden faschistischen“.[69] Die DGO bedeutete für ihn aber die „Tötung der Idee der Selbstverwaltung“.[70] Diese grundsätzliche Argumentation im Spannungsfeld zwischen Bejahung autoritärer Strukturen preußischer Prägung und der Ablehnung nationalsozialistischer Politik weist bereits den Weg, der Goerdeler in den Widerstand führte.

Am 5. November 1934 erfolgte die Berufung Carl Friedrich Goerdelers auf das Amt des Reichskommissars für Preisüberwachung.[71] Für dieses Amt hatten ihn seine praktischen Erfahrungen als Preiskommissar unter Brüning sowie die Beratung der Regierung durch die Denkschrift vom August 1934 empfohlen. Der Historiker Gerhard Ritter vermutet, dass Hitler ihn in Unkenntnis seiner tatsächlichen Ansichten, die aus einer vermeintlichen Nicht-Beachtung der Denkschrift von 1934 resultierten, lediglich wegen seiner Erfahrung zum Preiskommissar berufen habe.[72] Diese Geste Hitlers bewertete Goerdeler als einen „Lichtblick“; er hatte die Illusion, die Nationalsozialisten würden in der Wirtschaftspolitik einen anderen Kurs einschlagen, noch nicht aufgegeben. Trotzdem zögerte er, unter diesen politischen Bedingungen das Amt anzunehmen.[73] Für seine Entscheidung spielte der Wunsch, mäßigend auf die Regierung einwirken zu können, eine große Rolle.[73] Seine Befürchtung, als Preiskommissar die Konfrontation mit der NS-Politik nicht vermeiden zu können, bestätigte sich.[74] Am zweiten Tag als Preiskommissar erschien Robert Ley, der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, der Vollmachten für die NSDAP forderte und vorschlug, „einige Wucherer und Hamsterer aufzuhängen“, um den Preiserhöhungen ein Ende zu machen.[73] Goerdeler war entsetzt von dieser Forderung willkürlicher Gewalt und stattete die Landesbehörden bzw. in Preußen die Regierungspräsidenten mit den Vollmachten zur Preissenkung aus. Dieser Schritt führte zu Differenzen mit Hitler, der damit Kompetenzen aus dem Bereich der NS-Regierung verloren hatte.[72]

Im März 1935 führte das NS-Regime die allgemeine Wehrpflicht ein und proklamierte den Aufbau einer deutschen Luftwaffe. Die Kosten für die Aufrüstung der Wehrmacht machten eine geordnete Haushaltspolitik für die Zukunft unmöglich. Die von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht ins Spiel gebrachte Finanzierung durch die sogenannten Mefo-Wechsel lehnte Goerdeler strikt ab. Im Juni 1935, kurz vor Ablauf von Goerdelers reguärer Amtszeit als Preiskommissar, fand eine Aussprache zwischen Goerdeler, Schacht und Hitler statt, in der der Preiskommissar erweiterte Vollmachten verlangte. Als diese ihm nicht zugestanden wurden, stellte er sein Amt zur Verfügung, obwohl Hitler eine Verlängerung der Amtszeit gern gesehen hätte. Auch nach weiteren Anfragen, ob er für ein anderes hohes Reichsamt, etwa in Zusammenhang mit den von Hermann Göring Anfang 1936 übernommenen Aufgaben im Bereich der Devisen- und Rohstoffwirtschaft, zur Verfügung stände, beharrte Goerdeler auf seinem Standpunkt.

Eine letzte wirtschaftspolitische Kooperation zwischen ihm und dem NS-Regime stellte eine von Göring im August 1936 angeforderte Denkschrift dar, in der er den nationalsozialistischen Wirtschaftspolitikern seinen Standpunkt unzweideutig darlegte und ihnen ein letztes Mal seine Unterstützung anbot, solange sie umdachten: Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich bei der von ihm beklagten Politik nicht um negative Begleiterscheinungen handelte, sondern, dass eine vollständige Neuorientierung notwendig war.[75] Göring bewertete die Denkschrift Hitler gegenüber als „vollständig unbrauchbar“, zumal sie völlig mit Hitlers eigener in dieser Zeit entstandenen programmatischen Denkschrift über den Vierjahresplan kollidierte.[76] Seine Erfahrungen als Preiskommissar und seine Einblicke in wirtschafts- und rüstungspolitische Angelegenheiten des NS-Regimes hatten zu einer direkten Konfrontation mit Führungsgrößen der NSDAP geführt und seine in der Kommunalpolitik angesammelten Zweifel zum Kulminieren gebracht: Seine kritische Begleitung der nationalsozialistischen Politik schlug in Opposition um.[77] Er war nicht nur bei der Führung in Ungnade gefallen, sondern wollte von sich aus „nur noch mit Anstand aus der Sache herauskommen“.[76] Der Rücktritt vom Oberbürgermeisterposten zeichnete sich ab.

Rücktritt vom Amt des Oberbürgermeisters

Das 1936 abgerissene Mendelssohn-Denkmal, um 1900

Die Richtlinien der DGO verschlechterten die Situation der Kommunalverwaltung immer weiter. Goerdeler kritisierte die „öde Mechanisierung und Gleichmacherei“, die sich als ein „Unglück für unser Vaterland“ erweisen werde.[78] Seine Tätigkeit als Oberbürgermeister empfand er nicht länger als interessant und seine Position als einflussreich, sondern sämtliche Prozesse nur noch als abstumpfend. Daher erwog er im Frühjahr 1936, in die Privatwirtschaft zu wechseln. Am 5. Mai 1936 erklärte er sich bereit, in den Dienst des Krupp-Konzerns einzutreten.[78] Bereits seit Oktober 1935 stand Goerdeler in Kontakt mit Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Seit seinem Besuch auf der Villa Hügel am 4. Dezember 1935 arbeitete Goerdeler auf seinen Eintritt in das Krupp-Direktorium hin. Dennoch wollte er seine anstehende Wiederwahl abwarten, um eine Machtprobe mit dem Reichsinnenminister Wilhelm Frick zu provozieren.[79] Am 22. Mai 1936 erfolgte schließlich die Wiederwahl Goerdelers durch den von den Nationalsozialisten instrumentalisierten Rat der Stadt Leipzig. Ausschlaggebend für die Wiederwahl des parteilosen NS-Kritikers Goerdeler durch die Nazis war, dass er „trotz seiner politischen Unzulänglichkeit das Vertrauen unseres Führers besaß.[80] Die Differenzen zwischen Goerdeler und der NS-Führung vom Sommer 1935 blieben den nationalsozialistischen Ratsherren wohl verborgen. Der wiedergewählte Goerdeler selbst wartete nun lediglich auf einen Anlass für seinen Rücktritt.

Noch vor Goerdelers Wiederwahl wandte sich der Leiter des Amtes für Handwerk und Handel der NSDAP-Kreisleitung Leipzig, Eckert, an den Oberbürgermeister: Er forderte den Abriss des „vor dem Gewandhaus aufgestellten Denkmals des VollblutjudenFelix Mendelssohn Bartholdy.[81] Zu diesem Zeitpunkt bestand im gesamten Deutschen Reich bereits ein Aufführverbot „nicht-arischer Kompositionen“, zu denen die Nazis auch die Werke Mendelssohns zählten.[82] Goerdeler hatte sich stets für deren Aufführung eingesetzt, und so konnte beispielsweise der Thomanerchor noch im September 1936 ungeahndet Lieder Mendelssohns singen. Nach der Abrissforderung prüfte der Kulturstadtrat Hauptmann zunächst die Rechtslage im Fall des Denkmals. Der Stadtrat übte unterdessen immensen Druck auf Goerdeler aus, den „Juden in Erz“ zu beseitigen.[81] Schließlich machte der Stadtkämmerer Köhler den Vorschlag, das Denkmal durch ein Bildnis eines anderen bedeutenden deutschen Musikers zu ersetzen. Carl Friedrich Goerdeler nannte diese Alternative „prüfbar“, unter der Voraussetzung, dass das Denkmal unangetastet bleibe, bis er seine Entscheidung getroffen habe. Dadurch gewann er Zeit, um in Regierungskreisen Unterstützung für seine ablehnende Haltung zu suchen. Ausgerechnet das Reichspropagandaministerium ließ verlauten, dass „solche Bildstürmerei“ nicht gewünscht sei.[83] Diese Stellungnahme beruhte allerdings nicht auf tatsächlicher Unterstützung der Position Goerdelers, sondern wurde nur mit Blick auf die Olympischen Spiele in Berlin abgegeben. Joseph Goebbels befürchtete in dieser Frage ein negatives Echo im Ausland.

Als Carl Friedrich Goerdeler vom 8. bis 13. November nach Skandinavien reiste, um u.a. am 10. November in Helsinki einen Vortrag über Wirtschaft, Preise und Währung zu halten, ergriffen die Nationalsozialisten die Initiative und entfernten in der Nacht vom 9. auf den 10. November eigenmächtig das Mendelssohn-Denkmal.[84] Die Nachricht vom Abriss erhielt Goerdeler auf seiner Rückreise in Stockholm. Nach seiner Rückkehr warf er seinem NS-Stellvertreter Haake Illoyalität vor; als er bemerkte, dass der Stadtrat und auch die Reichsregierung gegen ihn standen und eine Wiedererrichtung des Denkmals auf keinen Fall unterstützen würden, reichte er am 25. November 1936 sein Pensionierungsgesuch ein. Er wurde sofort beurlaubt. Später, als er im Gefängnis über seinen Rücktritt berichtete, schrieb er: „Damals führte ich den klaren Entschluss aus, nicht die Verantwortung für eine Kulturschandtat zu übernehmen.[85] Am 22. März 1937 erfolgte Goerdelers Verabschiedung aus dem Dienst der Stadt Leipzig.

Auslandsreisen 1937/1938

„Ein beruhigtes Europa, in organischer Entwicklung zu immer größer werdender wirtschaftlicher Einheit fortschreitend, bedeutet die Sicherung des Friedens und der Wohlfahrt der Welt.[86]

Carl Friedrich Goerdeler, 1938.

Nach dem offenen Konflikt mit der NSDAP wagte Gustav Krupp von Bohlen und Halbach nicht mehr die Berufung Goerdelers in den Krupp-Vorstand ohne Rücksprache mit Hitler. Noch im März 1937 teilte er Goerdeler mit, dass Hitler einen Mann mit den wirtschaftspolitischen Ansichten Goerdelers nicht in der Schwerindustrie sehen möchte.[87] Stattdessen kam dieser über Theodor Bäuerle in Kontakt mit dem Kreis oppositioneller Demokraten in Stuttgart, der sich um den Industriellen Robert Bosch gebildet hatte.[88] Bosch verfolgte das Ziel, die westeuropäischen Staatsmänner vor der Gefährlichkeit des Nationalsozialismus zu warnen. Aus diesem Grund schloss er 1937 mit Goerdeler einen Beschäftigungsvertrag ab, der nun als Berater der Firma Bosch in Finanzfragen angestellt war. Dieses Vertragsverhältnis gab seiner bevorstehenden ausgedehnten Reisetätigkeit ein legales Aussehen – sogar Hermann Göring, bei dem er wegen einer Visa-Angelegenheit vorsprach, unterstützte das Vorhaben in Unkenntnis des tatsächlichen Zwecks.[89] Gleiches gilt für Krupp von Bohlen und Halbach, der Goerdelers Reisen finanziell unterstützte. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bereiste Goerdeler mehr als zehn europäische Länder, den Nahen Osten und Nordafrika sowie Kanada und die Vereinigten Staaten.[90] Ausführliche Berichte über seine Reiseeindrücke sandte er an Krupp, Bosch, Göring, Schacht, daneben an die Generäle Werner von Fritsch, Georg Thomas, Franz Halder und Ludwig Beck. Diesen kannte er vermutlich bereits seit seiner Zeit als Preiskommissar 1935.[91] Die Auslandsreisen Goerdelers legten den Grundstein für die Zusammenarbeit mit Beck, die später den Kern des konservativen Widerstandes bildete.[92]

Seine erste Reise führte ihn nach Brüssel (4. bis 16. Juni 1937) und England (bis 15. Juli).[90] In Belgien knüpfte er nicht nur Kontakte zu einflussreichen Wirtschaftsführern, sondern wurde auch von König Leopold III. und Premierminister Paul van Zeeland empfangen.[93] Die Weise, auf die Goerdeler aufgenommen wurde, obwohl er ohne Auftrag irgendeiner Behörde oder Partei reiste, zeigt, dass er im Ausland durchaus als politische Persönlichkeit hohen Ranges und in gewisser Weise auch als Vertreter eines „anderen Deutschlands“ angesehen wurde.[90]

Sein Aufenthalt in London bot ihm gleichermaßen Anlass zur Kritik wie zur Bewunderung[94]: Mit Sorge betrachtete er die unsichere Sozialpolitik und das Nachlassen der wirtschaftlichen Kraft. Dagegen machten vor allem der englische Lebensstil und die politischen Traditionen des Vereinigten Königreichs, wie etwa das britische „selfgovernment“, großen Eindruck auf ihn. Überrascht zeigte er sich von der Verhandlungsbereitschaft Großbritanniens ('Appeasement'), obgleich die Juden- und Kirchenpolitik der Nationalsozialisten das Verhältnis schwer getrübt hatten. Besonders intensive Gespräche ergaben sich mit Außenminister Anthony Eden. Später, als der Widerstand seine außenpolitischen Ansichten formulierte, blieb Goerdeler der Anglophile, während Ludwig Beck vor allem auf eine Verständigung mit der „Grande Nation“ Frankreich setzte.[92]

Ende Juli plante Goerdeler eine ausgedehnte Südamerika-Reise, zog es dann aber vor, zunächst nach Paris zu fahren. In seinem Bericht aus Frankreich schilderte er die große Verständigungsbereitschaft, aber auch die Empfindlichkeit wegen der Beteiligung deutscher Truppen im Spanischen Bürgerkrieg.[95] Es gelang ihm, dauerhafte Kontakte zum französischen Politiker Paul Reynaud zu knüpfen. Von Boulogne aus setzte er im September 1937 nach Kanada über. In Ottawa sprach er von großen Möglichkeiten einer deutsch-kanadischen Kooperation, da Deutschland als Industrie- und Forschungsnation für eine Partnerschaft mit dem rohstoffreichen Kanada besonders geeignet sei.[95] Über diese Idee sprach er auch mit Premierminister Mackenzie King. Ab dem 2. Januar 1938 hielt sich Goerdeler in den Vereinigten Staaten auf, wo der emigrierte Anwalt Gotthilf Bronisch in New York als sein Vertrauter agierte. Ausführlich kritisierte er die New Deal-Politik Roosevelts, wobei er gleichzeitig von beachtenswerten Chancen für eine Achse Washington-London-Berlin berichtete. Würde Deutschland die europäischen Probleme durch eine friedliche Verständigung mit seinen Nachbarstaaten und Großbritannien lösen können, erhoffte er sich dadurch auch eine transatlantische Zusammenarbeit. Falls das Deutsche Reich aber den kriegerischen Konflikt heraufbeschwören sollte, so stünde Amerika als einer seiner stärksten Gegner fest.[96] Auch in Amerika kam er mit einflussreichen Männern des öffentlichen Lebens zusammen, u.a. mit Außenminister Cordell Hull, dem ehemaligen Präsidenten Herbert C. Hoover, Finanzminister Henry Morgenthau sowie dem Industriellen Owen D. Young.[97]

Nach seiner Rückkehr im Januar 1938 erfuhr er in einem langen Gespräch mit den Generälen Beck und Fritsch von Hitlers Kriegsplänen, die seinen Hoffnungen auf eine politische Verständigung die Grundlage entzogen. Goerdeler versuchte, die Militärs zu einem Putsch zu bewegen, was jedoch auch dadurch scheiterte, dass General Fritsch zwei Wochen darauf im Zuge der Blomberg-Fritsch-Krise abgesetzt wurde.[98] Mitte März, unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs, brach Goerdeler zu seiner zweiten Reise nach Frankreich und England auf. In der britischen Hauptstadt hielt er vor der renommierten London School of Economics and Political Science (LSE) einen Vortrag zum Thema „Wirtschaft und öffentliche Verwaltung“, der äußerer Vorwand der Reise war. Zudem begleiteten ihn seine Frau und seine Tochter, um dem London-Aufenthalt einen „familiären Anstrich“ zu verleihen.[99] In seinem Vortrag vor der LSE unterstrich Goerdeler seine wirtschaftsliberalen Ansichten und warnte vor Lohnregulierung und dem bevormundenden Wohlfahrtsstaat. Gleichzeitig polemisierte er gegen den damals überaus populären John Maynard Keynes und dessen Vorstellungen von staatlich beeinflussten Wirtschaftsprozessen. Ein von Heinrich Brüning arrangiertes Zusammentreffen mit Winston Churchill kam auf dieser Reise nicht zustande.[100] Neben dem Anschluss Österreichs, den er sorgenvoll beobachtete[101], stand die Frage des Sudetenlandes in den Gesprächen mit dem Diplomaten Robert Vansittart, 1. Baron Vansittart auf der Agenda. Goerdeler betonte, dass er vor allem einen klaren Kurs gegenüber NS-Deutschland für notwendig halte, zweitrangig, wie die Entscheidung Großbritanniens in dieser Frage ausfallen würde.[100]

„X“-Dokumente

„Es ist eine phantastische Illusion, einen dauerhaften Frieden auf einen Pakt mit dem Teufel zu gründen.[102]

Carl Friedrich Goerdeler über das Münchner Abkommen, 1. Oktober 1938.

1938 reiste Goerdeler fünf weitere Male nach Großbritannien, um den Manager Arthur Primrose Young zu teilweise mehrtägigen Gesprächen zu treffen. Der Kontakt war über Robert Vansittart zustande gekommen. Die Gesprächsprotokolle ergaben die sogenannten „X-Dokumente“, die das Foreign and Commonwealth Office sowie über Owen D. Young US-Präsident Franklin D. Roosevelt erreichten. So war das Weiße Haus en Detail über Goerdelers Vorstellungen informiert. Im Wesentlichen forderte dieser, der in den Gesprächsprotokollen nur „X“ genannt wurde, ein entschiedenes Auftreten zumindest Frankreichs und der USA. Großbritannien betreffend kritisierte er Premierminister Neville Chamberlain, den er als „Hemmschuh“ für ein aktives Auftreten gegen den Nationalsozialismus bezeichnete.[103] Die schwache Appeasement-Politik lehnte er als unmoralisch und in höchstem Maße gefährlich ab. Die „X-Dokumente“ wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von A.P. Young veröffentlicht; sie zeichnen ein differenziertes Bild von Goerdelers Ansichten im Jahr 1938. Statt einer Kursänderung seitens der britischen Regierung zeichnete sich ein Abkommen mit dem Deutschen Reich über die Sudetenfrage ab. Noch am 11. September richtete Goerdeler eindringliche Briefe nach London, in denen er berichtete, dass Hitler fest zum Krieg entschlossen sei.[104]

Als am 30. September das Münchner Abkommen zwischen England und Frankreich einerseits und dem Deutschen Reich und Italien andererseits geschlossen wurde, sprach Goerdeler vom „Verrat von München“. Tief besorgt sprach er von einem Erstarken der „bösen Kräfte“ in Deutschland, das dieses Zugeständnis an Hitler bringen würde. Aus Sorge vor polizeilicher Verfolgung reiste er Mitte Oktober 1938 in die Schweiz.[105] Seine außenpolitischen Ansichten versuchte er auf weiteren Reisen 1938 und 1939 in alliierte und neutrale Staaten darzulegen.

Widerstand im Krieg

„Das deutsche Volk muss und wird sich selbst von einem System befreien, das unter dem Schutz des Terrors ungeheuerliche Verbrechen begeht und Recht, Ehre und Freiheit des deutschen Volkes zerstört hat.[106]

Carl Friedrich Goerdeler, Mai 1943.

Carl Goerdeler vor dem Volksgerichtshof, 1944

Im Zusammenwirken mit dem früheren Generalstabschef des Heeres Ludwig Beck entwickelte Goerdeler – ausgehend von der bereits seit 1863 in Berlin bestehenden Mittwochsgesellschaft, einem Kreis nationaler und konservativer Politiker – in den folgenden Jahren den Kern einer Widerstandsgruppe gegen die NS-Regierung. Zu diesem Kreis stießen nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs auch Sozialdemokraten wie Wilhelm Leuschner und Gewerkschafter wie Jakob Kaiser.

Ziel des Widerstands war für den Kreis um Goerdeler der Sturz Adolf Hitlers, um den Krieg zu beenden. Dabei lehnte Goerdeler persönlich die Tötung Hitlers ab und plädierte für dessen Verhaftung und einen anschließenden rechtsstaatlichen Prozess. Die Gruppe sah für die Zeit nach dem Umsturz Goerdeler als Reichskanzler vor. In dieser Eigenschaft erarbeitete er umfangreiche Pläne zu einer Verfassung und Ministerlisten, die vielen Mitverschwörern später zum Verhängnis geworden sind.

Goerdelers Verfassungspläne können als konservativ, wirtschaftsliberal und antikommunistisch bezeichnet werden. Von den jüngeren Angehörigen des Kreisauer Kreises und dem sozialistischen Widerstand wurden sie deshalb abgelehnt. Nach Saul Friedländer gehörte Goerdeler in die Reihe der „konservativen Feinde des (Nazi-)Regimes“. Einer ihrer gemeinsamen Pläne war, dass in einem „künftigen Deutschland das Bürgerrecht nur Juden gewährt werden würde, die sich auf eine lange Vorfahrenreihe im Land berufen konnten; die später Hinzugekommenen würden das Land verlassen müssen“[107]. In diesem Zusammenhang propagierte Goerdeler den so genannten Judenstaat in Kanada als „Dauerlösung“ für die europäischen Juden nach einem Friedensschluss mit den Alliierten. Auch wenn Goerdeler die zutage tretende Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten in Osteuropa vehement ablehnte, änderte sich „an Goerdelers Antisemitismus […] bis zu seinem Lebensende nichts“[108]. Andere Forschungen lehnen dagegen eine einseitig antisemitische Auslegung ab und sehen in den Schutzrechten, die auch ein jüdischer Staat über seine Bürger ausbreitet, den eigentlichen Kern von Goerdelers Konzept. Er habe darin „den Schutz der Juden einem jüdischen Staat anvertraut“ und somit „in ihre eigenen Hände“ legen wollen[109].

Mehrere Tage vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde gegen Goerdeler ein Haftbefehl erlassen. Davon durch Freunde in Kenntnis gesetzt, floh er in seine westpreußische Heimat. Dort wurde er in einem Wirtshaus von der Buchhalterin Helene Schwärzel erkannt, verraten und am 12. August 1944 verhaftet. Der „Volksgerichtshof“ verurteilte ihn wegen Verrats am Volke am 8. September 1944 zum Tode. In der Hoffnung, von ihm die Namen weiterer Verschwörer erfahren zu können, wurde seine Hinrichtung immer wieder verschoben. Schließlich wurde er, nach umfangreichen Protokollen über die beabsichtigte Neuordnung, am 2. Februar 1945 in Plötzensee enthauptet und nicht, wie die meisten anderen Verschwörer, gehängt.

Nachleben und Gedächtnis

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden nach Goerdeler zahlreiche Straßen benannt.

Sein Sohn Reinhard Goerdeler war viele Jahre Vorstandsvorsitzender der Deutschen Treuhand-Gesellschaft und der KPMG. Sein ältester Sohn Ulrich war über vier Wahlperioden Landtagsabgeordneter in Niedersachsen.

Seit dem Jahr 1999 wird der Carl Goerdeler Preis für Kommunalwissenschaft, kurz Carl-Goerdeler-Preis, verliehen. Die Prämie wird jährlich in Verbindung mit der Carl und Anneliese Goerdeler-Stiftung vergeben.

Siehe auch

Literatur

  • Günter Brakelmann, Manfred Keller (Hrsg.): Zeitansage. Der 20. Juli 1944 und das Erbe des deutschen Widerstandes. Schriftenreihe der Evangelischen Akademikerschaft Westfalen. LIT Verlag. Münster 2005.
  • Sabine Gillmann, Hans Mommsen (Hrsg.): Politische Schriften und Briefe Carl Friedrich Goerdelers. K.G. Saur. München 2003. ISBN 3-598-11631-4
  • Marianne Meyer-Krahmer: Carl Goerdeler und sein Weg in den Widerstand. Eine Reise in die Welt meines Vaters. Herder Taschenbuch Verlag. Freiburg 1989. ISBN 3-451-08553-4
  • Hans Mommsen, Der Widerstand im Dritten Reich, in: ders., Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010, S. 235-348, ISBN 978-3-421-04490-7
  • Ines Reich: Carl Friedrich Goerdeler. Ein Oberbürgermeister gegen den NS-Staat. Böhlau-Verlag. Köln 1997. ISBN 3-412-05797-5
  • Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. 4. Auflage, Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 1984. ISBN 3-421-06181-5
  • Wilhelm von Schramm (Hrsg.): Beck und Goerdeler. Gemeinschaftsdokumente für den Frieden 1941-1944. Gotthold Müller Verlag. München 1965.
  • Daniela Rüther: Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler, Schöningh: Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, ISBN 3-506-77529-4
  • Friedrich Tomberg: Weltordnungsvisionen im deutschen Widerstand. Frank & Timme. Berlin 2005.
  • A. P. Young: Die X-Dokumente. Die geheimen Kontakte Carl Goerdelers mit der britischen Regierung 1938/1939. Piper. München 1989.

Weblinks

 Commons: Carl Friedrich Goerdeler – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Kurzbiografie beim Deutschen Historischen Museum
  2. a b Reich, S.43.
  3. Meyer-Krahmer, S.12
  4. Meyer-Krahmer, S.17.
  5. Reich, S.47.
  6. a b Ritter, S.21.
  7. Reich, S.51.
  8. Vgl. Hans Dühring: Das Gymnasium Marienwerder. Von der Domschule zur Oberschule'. Würzburg 1964.
  9. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Band 2. Machtstaat vor der Demokratie. München 1991. S.637.
  10. Reich, S.55.
  11. Vgl. Zeugnis für ein anderes Deutschland. Ehemalige Tübinger Studenten als Opfer des 20. Juli 1944, in: Volker Schäfer (Hrsg.): Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen, Reihe 2. Heft 11.
  12. Reich, S.58.
  13. Reich, S.60.
  14. Goerdeler, S.22.
  15. Reich, S.63.
  16. Ritter, S.22
  17. Norbert Kampe: Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus. Göttingen 1988. S.66-67.
  18. Reich, S.65.
  19. Meyer-Krahmer, S.37.
  20. Reich, S.67.
  21. Meyer-Krahmer, S.27.
  22. Reich, S.70.
  23. Reich, S.71.
  24. a b c Meyer-Krahmer, S.28.
  25. Reich, S.72.
  26. Reich, S.75.
  27. Reich, S.80.
  28. a b Meyer-Krahmer, S.29.
  29. Vgl. Max Wolkowicz: Deutscher Ostbund, in: Lexikon zur Parteiengeschichte , Band 2. Leipzig 1984. S.221-224.
  30. Reich, S.89.
  31. Reich, S.96.
  32. Meyer-Krahmer, S.34.
  33. a b Meyer-Krahmer, S.36.
  34. Reich, S.102.
  35. Reich, S.101.
  36. a b Meyer-Krahmer, S.51.
  37. Reich, S.97.
  38. Meyer-Krahmer, S.52.
  39. Reich, S.98-99.
  40. Reich, S.100.
  41. a b Meyer-Krahmer, S.64.
  42. Meyer-Krahmer, S.67.
  43. Meyer-Krahmer, S.68.
  44. Wolfram Pyta: Hindenburg - Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. 2009, S. 702.
  45. a b Meyer-Krahmer, S.69.
  46. Meyer-Krahmer, S.70.
  47. Vgl. Reich, S.103-106.
  48. Michael Krüger-Charlé: Carl Goerdelers Versuch. S.387.
  49. a b Ritter, S.65.
  50. Reich, S.107.
  51. a b Meyer-Krahmer, S.73.
  52. Meyer-Krahmer, S.72.
  53. Horst Matzerath: Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung. Stuttgart u. Berlin 1970. S.80.
  54. Meyer-Krahmer, S.76.
  55. Vgl. Reich, S.107-110.
  56. Reich, S.110-111.
  57. Reich, S.112.
  58. a b Meyer-Krahmer, S.77.
  59. Ritter, S.74.
  60. a b Reich, S.125.
  61. Vgl. Klaus Drobisch u. Günther Wieland: System der NS-Konzentrationslager 1933-1939. Berlin 1993. S.47.
  62. So gegenüber Alfons David, dem Präsidenten des Ehrengerichtshofes in Anwesenheit des NSDAP-Bürgermeisters Haake. Reich, S.128.
  63. Reich, S.130.
  64. Vgl. Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Herausgegeben vom Comité des Delegations Juives, Paris 1934. Neuauflage Frankfurt/Main 1983. S.317.
  65. Reich, S.131.
  66. §3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums.
  67. Vgl. Hans Mommsen: Beamtentum im Dritten Reich. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 15. Stuttgart 1966. S.49 u. S.60.
  68. Reich, S.218.
  69. Carl Friedrich Goerdeler: Die Staatsaufsicht. S.296.
  70. Reich, S.209.
  71. Ritter, S.76.
  72. a b Ritter, S.75.
  73. a b c Meyer-Krahmer, S.78.
  74. Reich, S.221.
  75. Reich, S.234.
  76. a b Meyer-Krahmer, S.81.
  77. Reich, S.235.
  78. a b Reich, S.239.
  79. Reich, S.240.
  80. Reich, S.242.
  81. a b Reich, S.258.
  82. Fred Prieberg: Musik im NS-Staat. Frankfurt 1989. S.146ff.
  83. Reich, S.260.
  84. Meyer-Krahmer, S.89.
  85. Reich, S.266.
  86. zitiert nach Ritter, S.169.
  87. Ritter, S.157.
  88. Vgl. Theodor Heuss: Robert Bosch. 1. Auflage, Stuttgart u. Tübingen 1946.
  89. Ritter, S.159.
  90. a b c Ritter, S.160.
  91. Schramm, S.24.
  92. a b Schramm, S.26.
  93. Ritter, S.161.
  94. Erster Bericht Goerdelers vom 15. Juli 1937.
  95. a b Ritter, S.164.
  96. Ritter, S.164-165.
  97. Ritter, S.167.
  98. Hans Bernd Gisevius: Bis zum bitteren Ende I. S. 417ff.
  99. Meyer-Krahmer, S.102.
  100. a b Ritter, S.170.
  101. Meyer-Krahmer, S.103.
  102. Meyer-Krahmer, S.109.
  103. Young, S.76.
  104. Young, S.84.
  105. Ritter, S.204.
  106. Positionspapier für die britische Regierung, 19./20. Mai 1943, zitiert nach: Gillmann u. Mommsen, S.945.
  107. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, München 2007 (durchgesehene Sonderausgabe), S. 435 – unter Berufung auf Joachim Fest: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 2004, 152 ff.
  108. Saul Friedländer, ebd.
  109. Fritz Kieffer: Carl Friedrich Goerdelers Vorschlag zur Gründung eines jüdischen Staates. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. 125. Band. Germanistische Abteilung. 2008, ISSN 0323-4045, S. 499 f.
  110. Goerdelerdamm. In: Straßennamenlexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins (beim Kaupert)

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