Charakterologie

Charakterologie

Mit Charakterkunde, Charakteranalyse oder Charakterologie wird eine psychologische Typenlehre von Charakterformen bezeichnet. Die Charakterkunde nahm in der Psychologie bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, u. a. durch das Werk von Ludwig Klages, Philipp Lersch und Robert Heiß breiten Raum ein. Heute ist dafür der Begriff Persönlichkeitspsychologie üblich im Unterschied zur populären Menschenkenntnis und Charakterdeutung. Weiterhin werden jedoch in der psychoanalytisch orientierten (Sozial-)Psychologie das Konzept des Charakters (z. B. der Sozialcharakter im Sinne von Erich Fromm) und der ursprünglich von Wilhelm Reich geprägte Begriff autoritärer Charakter (oft synonym mit autoritäre Persönlichkeit) verwendet.

Für die Schriftstellerei, also das Handwerk des Schriftstellers für Buch und Bühne gleichermaßen, ist die Beschreibung von Charakter und Charakterzügen nach wie vor von großer Bedeutung, ebenso in der Alltagspsychologie. Dies ist einer der Gründe, weshalb in der wissenschaftlichen Psychologie heute der Begriff Persönlichkeit, den bereits Ludwig Klages in seiner Charakterkunde gleichlautend verwendete, vorgezogen wird.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Die Charakterkunde hat sich lange Zeit außerhalb der an den Universitäten gelehrten Psychologie entwickelt. In Deutschland gilt Julius Bahnsen mit seinem Buch Beiträge zur Charakterologie (1867) als der Pionier. Große populäre Verbreitung erreichte Carl Huter mit seiner Lehre, die sich vor allem auf die individuelle Formung des Gesichts und des Schädels bezog und damit Johann Caspar Lavater und dessen Physiognomik sowie Franz Joseph Gall und dessen Phrenologie folgte (siehe Charaktertypen).

Die psychoanalytische Charakteranalyse differenziert Typen hauptsächlich nach ihrer Affektivität und Triebstruktur oder nach Neuroseformen, während in der Persönlichkeitspsychologie auch biologische (genetische) Grundlagen, Temperamentsanlagen, Lernen, Selbstkonzepte und andere Perspektiven wichtig sind. Erst durch die Entwicklung der Differentiellen Psychologien und neuer wissenschaftlicher Methoden zur Beschreibung individueller Unterschiede entstanden zu Anfang des 20. Jahrhundert die Grundlagen der heutigen Persönlichkeitspsychologie und der verschiedenen Persönlichkeitstheorien.

Psychoanalytische Charakterlehre

Grundlegend für Ansätze der tiefenpsychologisch orientierten Charakterkunde im 20. Jh. ist das Programm von Alfred Adler, wie er es 1912 in seiner Studie Über den nervösen Charakter entwickelt. Es geht ihm – anders als Sigmund Freud – nicht um spekulative Modelle der Triebstruktur, sondern um die Stärkung von Charaktereigenschaften wie Mut, Geduld u. dgl.

Fritz Künkel entwickelt die Individualpsychologie Adlers weiter zu der von ihm „angewandte Charakterkunde“ genannten Theorie, die er 1928 monographisch darlegt. Als „Charakter“ gilt ihm „die Summe der Reaktionen des Einzelmenschen auf die vorgefundenen körperlichen und sozialen Bedingungen“.[1]

Franz Alexander spricht 1928 vom „neurotischen Charakter“; dieser wirke auf die Umwelt, während neurotische Symptome nur zeitweilig vorliegen und auf das Ich einwirken bzw. von diesem abgewehrt werden.

Wilhelm Reich verfasste 1933 eine Monographie zur Charakteranalyse. Im Gegensatz zu Alexander will Reich, wie er schon 1925 postuliert hatte, nicht zwischen Symptomneurosen und neurotischem Charakter unterscheiden; der Charakter werde vielmehr durch fortwährende Triebabwehr geprägt. Sein Konzept einer im neurotischen Falle blockierten Orgonenergie spielt dabei eine Rolle (es war und ist sehr umstritten, wird aber immer noch in speziellen Ansätzen der Körperpsychotherapie verwendet, z. B. Hakomi, Bioenergetik, Biodynamik.) Reichs Ansatz ist, unterschiedliche Charaktertypen bzw. „Charakterneurosen“ auf spezifische Typen von Konfliktsituationen in der Kindheit als deren Ursachen zu beziehen und durch eine „sexualökonomische“ Therapie entsprechende unterdrückte Emotionen zu befreien. Dies entwickelte Reich zu einer Körpertherapie weiter, die er auch „Vegatherapie“ nannte. Reichs Ansatz ist bis heute sehr umstritten – für weitere Informationen siehe die Artikel zur Person und Orgon.

Erich Fromm hatte in den 1930er Jahren das Konzept des Sozialcharakters (Gesellschaftscharakters) entwickelt und in Flucht vor der Freiheit (1945) die Idee des autoritären Charakters präzisiert. Die Analyse verschiedener Formen der Aggressivität und Destruktivität in seinem Werk Anatomie der menschlichen Destruktivität führte zu einer Typologie von Charakterstrukturen: spontane Destruktivität, Sadismus und Nekrophilie. Fromm porträtierte Josef Stalin als klinischen Fall von nichtsexuellem Sadismus, Heinrich Himmler als klinischen Fall des anal-hortenden Sadismus und Adolf Hitler als klinischen Fall der Nekrophilie.

Der Psychoanalytiker Fritz Riemann entwickelte 1961 eine nicht zunächst am neurotischen Fall orientierte, sondern als Normalpsychologie konzipierte Charaktertheorie. Er geht von vier Grundängsten aus: Ängsten vor Selbsthingabe, Selbstwerdung, Wandlung und Notwendigkeit; entsprechend resultierten vier Grundtypen der Persönlichkeitsstruktur: zwanghaft, hysteroid, schizoid und depressiv, die nach Riemann auch z. B. feingliedriger in Zweierkombinationen unterschieden werden können.

Die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Gerda Jun formulierte 1987 ähnlich wie Riemann eine Charaktertheorie, die vier „bipolare Potenziale (Möglichkeitsfelder) der psychischen Grundstruktur“, vier Bedürfnis- oder Antriebsebenen unterscheidet, eine elementar-vitale, eine sexuelle, eine emotional-affektive und eine rational-kognitive.

(siehe Charakter, Charaktertypen, Individualität, Konstitution, Persönlichkeit)

Einzelnachweise

  1. Sabine Siebenhüner: Fritz Künkels Beitrag … In: Alfred Lévy, Gerald Mackenthun (Hrsg.): Gestalten um Alfred Adler: Pioniere der Individualpsychologie … Königshausen & Neumann 2002, ISBN 3826021568, S. 133-156, hier 137.

Literatur

  • Julius Bahnsen: Beiträge zur Charakterologie. (2 Bände, hrsg. von Johannes Rudert) Barth, Leipzig 1867/1932.
  • Jean-Baptiste Delacour: Lexikon der Charakterkunde. Menschenkenntnis auf einen Blick. Pawlak, Herrsching 1980, ISBN 978-3720525206.
  • Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (1. Aufl. 1945) 13.–27. Tsd. Ullstein, Frankfurt a. M. 1983.
  • Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. 86.–100. Tsd. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1981, ISBN 3-499-17052-3.
  • Robert Heiß: Die Lehre vom Charakter (1. Aufl. 1936) Verlag de Gruyter, Berlin 1949.
  • Sven Olaf Hoffmann, Gerd Hochapfel: Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin. 6. Auflage. Schattauer, Stuttgart 1999, ISBN 3-7945-1960-4.
  • Ludwig Klages: Prinzipien der Charakterologie. (1910, seit 1926 Die Grundlagen der Charakterkunde. 14. Aufl.) Bouvier, Bonn 1969.
  • Gerda Jun: Charakter. 2. Auflage. Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1989, ISBN 3-333-00420-8.
  • Karl König: Charakter und Verhalten im Alltag. Hinweise und Hilfen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, ISBN 3-525-01428-7.
  • Karl König: Charakter, Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, ISBN 3-608-94369-2.
  • Karl König: Kleine psychoanalytische Charakterkunde. 7. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-45864-9.
  • Fritz Künkel: Einführung in die Charakterkunde. 18. Auflage. Hirzel 2000.
  • Philipp Lersch: Aufbau der Person. 11. Auflage. Johann Ambrosius Barth, München 1970.
  • Josef Rattner: Seelische Schwächen. Seelische Stärken. Charakterkunde und Menschenkenntnis. Krummwisch, Königsfurt, 2001.
  • Wilhelm Reich: Charakteranalyse. (1. Aufl. 1932) Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989, ISBN 3-462-01982-1.
  • Fritz Riemann: Grundformen der Angst, eine tiefenpsychologische Studie. 37. Auflage. Reinhardt, Basel 2006, ISBN 978-3-497-00749-3.
  • Hubert Rohracher: Charakterkunde. 13. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München 1975, ISBN 3-541-02383-X.

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