Chinafeldzug

Chinafeldzug
Zeitgenössische Karikatur
Ein „Boxer“ (1900)
„Boxer“-Rebellen (1900)
Englische und chinesische Truppen

Unter dem Boxeraufstand (chin. 義和團起義 / 义和团起义, Yìhétuán qǐyì, W.-G. I-ho t´uan „In Rechtschaffenheit vereinigte Milizen“) versteht man eine chinesische Bewegung gegen den europäischen, nordamerikanischen und japanischen Imperialismus. Die Bezeichnung Boxer ist die Verallgemeinerung des Namens im Englischen und bezieht sich auf eine der ersten Boxergruppen, die sich selbst „in Rechtschaffenheit vereinigte Faustkämpfer“ (Yìhéquán) nannte. In China hat sich die später von allen Boxergruppen angenommene Umbenennung in Yihetuan durchgesetzt.

Im Frühjahr und Sommer 1900 führten die Attacken der Boxerbewegung gegen Ausländer und chinesische Christen einen Krieg zwischen China und den Vereinigten acht Staaten (bestehend aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und den USA) herbei, der mit einer Niederlage der Chinesen und dem Abschluss des sogenannten „Boxerprotokolls“ im September 1901 endete. Da die Bezeichnung „Boxeraufstand“ einseitig die imperialistische Perspektive widerspiegelt (die chinesische Regierung wurde von den Boxern ausdrücklich unterstützt), spricht man neuerdings häufig vom „Boxerkrieg“ oder verwendet die chinesische Bezeichnung.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Von chinesischen Autoren wurde unmittelbar nach dem Aufstand die These verbreitet, die „Boxer“ seien ein Ableger der rebellischen Weißer-Lotus-Sekte, die 1795 bis 1804 einen großen Aufstand organisiert hatte. Heute ist man allgemein der Auffassung, dass es sich bei den „Boxern“ um eine soziale Bewegung handelte, die sich zwischen 1898 und 1900 als unmittelbare Reaktion auf die Krisenstimmung gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete. Ihr ursprünglicher Schwerpunkt lag in der Provinz Shandong, wo sie an schon bestehende Organisationen wie die Gesellschaft der großen Messer (chin. 大刀会, Dadaohui) anknüpfen konnte. Im Frühjahr und Sommer 1900 breitete sie sich dann über weite Teile Nordchinas aus.

Beeinflusst wurden die Boxer dabei in erster Linie von der volkstümlichen Kultur und Religion, besonders von den verschiedenen Kampfkunstschulen. Kennzeichen der Bewegung waren:

  1. eine lockere Organisationsstruktur, bei der sich unabhängige Gruppen um lokale Führer scharten;
  2. kollektive Massentrancen unter dem angeblichen Einfluss volksreligiöser Götter und
  3. Unverwundbarkeitsrituale, von denen auch Schutz vor modernen Feuerwaffen erhofft wurde.

Die Entstehung der Boxerbewegung wurde im Wesentlichen durch vier Faktoren beeinflusst:

  1. den westlichen Imperialismus der Ungleichen Verträge, durch den sich alle größeren europäischen Staaten sowie die USA und seit 1895 auch Japan von China juristische und wirtschaftliche Privilegien erzwangen (besonders die Exterritorialität ihrer Staatsangehörigen);
  2. den innerchinesischen Konflikt zwischen Reformern und Konservativen am Kaiserhof, der seinen Höhepunkt 1898 in der Niederschlagung der Hundert-Tage-Reform durch die konservative Fraktion um die Kaiserinwitwe Cixi fand;
  3. die gleichfalls auf den Ungleichen Verträgen beruhende Sonderstellung der christlichen Mission im Landesinneren, wo die Missionare mit Hilfe der ausländischen Konsulen in lokale Streitigkeiten intervenierten;
  4. die durch eine Reihe von Naturkatastrophen und darauffolgenden Hungersnöten Ende der 1890er Jahre in Nordchina ausgelöste Krisenstimmung.

Ob der ausländische Handel (Import) tatsächlich viele Menschen arbeitslos gemacht und damit den Boxeraufstand mit ausgelöst hat, ist dagegen umstritten.

Gesandtschaftsviertel kurz vor dem Boxeraufstand

Die Boxer machten die Ausländer, in zweiter Linie die chinesischen Christen für die Störungen der natürlichen Umwelt und der sozialen Harmonie verantwortlich. Sie forderten, die Feinde Chinas mit Gewalt zu beseitigen, um diese Harmonie wieder herzustellen. Dabei traten sie als Unterstützer der herrschenden Qing-Dynastie (Mandschu-Dynastie) auf. Eine ihrer bekanntesten Parolen lautete: „Unterstützt die Qing und vernichtet die Fremden.“

Dennoch versuchte der kaiserliche Hof bis ins Frühjahr 1900, die Boxer zu unterdrücken. Wegen der lockeren Organisationsstruktur der Boxer scheiterten die Versuche jedoch. Erst als die Ausländer daraufhin die Regierung in Peking massiv unter Druck setzten, änderten Cixi und ein Teil der hohen Beamtenschaft ihre Meinung und begannen, in den Boxern Verbündete gegen die Ausländer zu sehen.

Der Boxeraufstand

Der Angriff der „Boxer“ auf die ausländischen Gesandtschaften

Bereits am 11. Januar 1900 hatte die Kaiserinwitwe Cixi (Tzu-Hsi), die Regentin Chinas, in einem Edikt verkündet, dass ein Teil der Boxer gesetzestreue Menschen seien. Am 27. Januar forderten die europäischen Kolonialmächte, Japan und die USA die chinesische Regierung auf, europäische Einrichtungen vor den Boxern zu schützen. Die Bemühungen, die Bewegung zu unterdrücken, dauerten an. Am 15. April wurden die Boxer verboten, doch da sich reguläre kaiserliche Truppen in Peking und Tientsin mit ihnen verbündeten, ließ sich das Verbot nicht durchsetzen. Im Mai erreichte die Bewegung die Umgebung der Hauptstadt Peking und begann mit Attacken gegen Ausländer sowie gegen die an die Küste führenden Bahnlinien. Ausschreitungen forderten allein am 18. Mai 73 Todesopfer. Die ausländischen Gesandten in Peking beorderten daraufhin rund 450 Soldaten als Gesandtschaftswachen nach Peking, die zwischen dem 31. Mai und 3. Juni dort eintrafen. In den folgenden Tagen verschärften die Boxer ihre Attacken gegen chinesische Christen sowie ausländische Einrichtungen und begannen die Bevölkerung Pekings zu terrorisieren.

Das Quartier der Gesandtschaften in Peking, 1912
Ausländische Truppen in der Verbotenen Stadt in Peking

Der erste alliierte Gegenschlag und sein Scheitern

Am 10. Juni marschierte ein 2.066 Mann starkes internationales Expeditionskorps unter dem Befehl des britischen Admirals Seymour in Tianjin ab, um die Gesandtschaften in Peking zu schützen. Es wurde jedoch von den Boxern aufgehalten (14.–18. Juni) und musste umkehren. Die rund 473 Ausländer, 451 Soldaten und über 3.000 chinesischen Christen in Peking hatten sich mittlerweile im Gesandtschaftsviertel verbarrikadiert. Hier waren sie von der Kommunikation mit den ausländischen Stützpunkten an der Küste abgeschnitten, da die Boxer die Telegraphenleitung gekappt hatten.

Angesichts dieser Situation stellten die alliierten Truppen ein Ultimatum zur Übergabe der stark befestigten chinesischen Küstenforts von Dagu. Am 17. Juni, 75 Minuten vor Ablauf des Ultimatums eröffneten die Chinesen das Feuer, und in der Folge wurden die Forts im Laufe der kommenden Tage von den Alliierten erstürmt.

Am 19. Juni verfasste die kaiserliche Regierung ein Ultimatum an die europäischen Gesandten in Peking, China innerhalb 24 Stunden zu verlassen. Am selben Tag wurde die deutsche Marineinfanterie mobil gemacht und nach China gesandt. Am 20. Juni wurde der Gesandte der deutschen Reichsregierung, Baron Clemens von Ketteler, in Peking auf offener Straße von einem mandschurischen Bannersoldaten erschossen. Sein Nachfolger als Gesandter wurde Alfons Mumm von Schwarzenstein.

Auf die Nachricht von der Erstürmung der Forts von Dagu hin erließ der Kaiserhof am 21. Juni ein Edikt an seine Untertanen, das einer Kriegserklärung an die Alliierten gleich kam. Kaiserliche Truppen kämpften nun offiziell an der Seite der Boxer. Umgekehrt erklärte keiner der westlichen Staaten China formell den Krieg. Zwar war auch nach damaligem europäisch geprägtem Völkerrecht die Erstürmung und Zerstörung von Verteidigungsanlagen eines fremden Staates und der Marsch Bewaffneter auf dessen Hauptstadt ein klarer Kriegsakt. Es war jedoch unter den Alliierten zumindest umstritten, ob das Völkerrecht auf China überhaupt angewendet werden dürfe, da China zwar auf der Haager Friedenskonferenz von 1899 vertreten war, jedoch die dort verabschiedete Landkriegsordnung nicht unterzeichnet hatte. Die fehlende Kriegserklärung stellte den Krieg in China als „Strafexpedition“ auf die gleiche Stufe wie andere Kolonialkriege, die gegen nicht staatlich organisierte ethnische Gruppen („Stämme“) geführt wurden.

Am 26. Juni musste sich Seymour geschlagen geben und zog sich nach Tianjin zurück. China versuchte am 3. Juli, Japan zum Seitenwechsel und einer Allianz mit China zu bewegen, was Japan aber am 13. Juli zurückwies.

Der Krieg in Peking und Tianjin

Trotz der unausgesprochenen Kriegserklärung trug der Krieg in der Anfangsphase den Charakter eines Staatenkriegs, da reguläre Armeen gegeneinander kämpften, wenn auch die chinesischen Truppen durch Boxermilizen verstärkt wurden. Sie belagerten das Gesandtschaftsviertel in Peking, wo sich Diplomaten, Missionare, Ingenieure und chinesische Christen verschanzt hatten. Die britische Botschaft wurde zur Kommandozentrale der rund 500 Bewaffneten, denen rund 20.000 Chinesen gegenüberstanden. Allerdings wurde die Verteidigung von den einzelnen Gesandtschaften organisiert, was zu Streitigkeiten führte und die Verteidigungskraft schwächte. Gleichzeitig wurde auch die internationale Konzession in Tianjin (Tientsin) von den Chinesen belagert. Auf der chinesischen Seite herrschte allerdings ebenfalls Uneinigkeit. Eine Reihe hoher Beamter – allen voran der Großsekretär Ronglu – lehnte das Verhalten der Kaiserinwitwe ab, die sogar mehrere Beamte wegen ihrer kritischen Bemerkungen hinrichten ließ. Beobachtungen, wonach die chinesische Artillerie zu tief schoss, sowie nach der Belagerung in Peking aufgefundene, unbenutzte moderne Geschütze lassen den Schluss zu, dass der Kampf von den chinesischen Truppen auf Veranlassung der chinesischen Friedenspartei nicht mit aller Entschlossenheit geführt wurde.

Das zweite internationale Expeditionskorps

Theodor Rocholl: Kampf um die Bergfeste Ho-phu (3. Januar 1901)
Soldaten des deutschen 1. Ostasiatischen Infanterie-Regiments mit den beim Sturm auf die Peitangforts eroberten Fahnen
Deutsche Truppen auf zeitgenössischer Postkarte
Internationales Expeditionskorps
japanische Zeichnung

In der Zwischenzeit stellten sechs europäische Staaten sowie die USA und Japan ein Expeditionskorps für eine Intervention in China zusammen. Kaiser Wilhelm II. hatte unverzüglich auf den Vorschlag einer gemeinsamen Militäraktion europäischer Staaten reagiert, weil sich darüber die verstärkte Rolle des Deutschen Reiches in der Weltpolitik demonstrieren ließ. Zu seiner Genugtuung konnte er erreichen, dass dem ehemaligen deutschen Generalstabschef Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee der militärische Oberbefehl über dieses gemeinsame Expeditionsheer übertragen wurde. Bei der Verabschiedung eines Teils der deutschen Truppen am 27. Juli hielt Kaiser Wilhelm II. seine berüchtigte Hunnenrede:

Eine große Aufgabe harrt eurer: ihr sollt das schwere Unrecht, das geschehen ist, sühnen. Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Es ist das um so empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre alte Kultur stolz ist. Bewährt die alte preußischen Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freudigen Ertragen von Leiden, mögen Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel […] Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen![1]

Sowohl Bernhard von Bülow, Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst als auch der Direktor des Norddeutschen Lloyds unternahmen Anstrengungen, die Verbreitung dieser Brandrede zu verhindern. Langfristig prägte sie aber den vor allem in England verwendeten Begriff „the huns“ für die Deutschen, der besonders in der Kriegspropaganda während des Ersten Weltkriegs eine Rolle spielte.

Die in Europa eingeschifften Truppen kamen allerdings zu spät, um noch am Entsatz Tianjins und Pekings teilzunehmen. Die ca. 20.000 Mann starke alliierte Truppe, die am 4. August in Tianjin abmarschierte, bestand in erster Linie aus britisch-indischen, russischen, japanischen und von den Philippinen nach China verlegten US-amerikanischen Truppen; Deutsche, Franzosen, Österreicher und Italiener beteiligten sich nur mit einigen Abteilungen Marineinfanterie.

Das Expeditionskorps erreichte am 13. August 1900 Peking, das bereits am folgenden Tag fiel. Am 15. August flohen die Kaiserinwitwe und ihr Rat aus Peking nach Xi'an/Shaanxi, indem sie sich auf „Inspektionsreise“ begaben. Peking wurde von den Alliierten drei Tage lang geplündert, was unter Kritikern Befremden verursachte, angesichts des hohen zivilisatorischen Anspruchs der Europäer.

Der Boxeraufstand nach der Einnahme Pekings

Nach der Einnahme Pekings wandelte sich der Charakter des Krieges. In einem Edikt vom 7. September machte Cixi die Boxer für die militärische Niederlage verantwortlich und erteilte den Provinzgouverneuren die Anweisung, erneut Regierungstruppen gegen sie einzusetzen. Am 25. September wurden in den Aufstand verwickelte hohe Amtsträger vom Kaiserhof degradiert. Gleichzeitig begannen die alliierten Truppen damit, „Strafexpeditionen“ gegen „Boxernester“ durchzuführen und so den letzten Widerstand zu brechen. Bei ihren Operationen ließen sich die alliierten Truppen brutale Ausschreitungen (Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen) gegen die chinesische Bevölkerung zuschulden kommen. Ihr Ziel bestand darin, Terror zu verbreiten und dadurch die Chinesen von einer zukünftigen Erhebung gegen die Ausländer abzuschrecken. Allerdings beschränkte sich der Truppeneinsatz auf die nordchinesische Provinz Zhili, da die Provinzgouverneure Mittel- und Südchinas mit den Ausländern Stillhalteabkommen schlossen.

Insgesamt fielen 231 Ausländer und viele tausend christianisierte Chinesen den Boxern zum Opfer. Bei den Ausländern handelte es sich überwiegend um Missionare, die in den Städten Taiyuan und Baoding auf Betreiben des Gouverneurs Yuxian umgebracht wurden. Wie viele Menschen der alliierten Kriegführung zum Opfer fielen, ist unbekannt.

Nach dem Aufstand – Das Boxerprotokoll

Das Verhalten der alliierten Interventionstruppen stieß in der Heimat nicht nur auf Zustimmung. Vor allem aus sozialistischen und liberalen, teilweise auch aus kirchlichen Kreisen wurden Vorbehalte gegen die Intervention geäußert. Nach Meinung der Kritiker hatten die Soldaten unter dem Vorwand, die Zivilisation schützen zu wollen, selbst gegen die humanitären Grundsätze dieser Zivilisation verstoßen. Besonders die Hunnenrede Wilhelms II. wurde im In- und Ausland heftig wegen der darin enthaltenen Äußerung kritisiert, kein Pardon zu geben und keine Gefangenen zu machen.

Die Unterschriften des Protokolls vom 7. September 1901
Prinz Chun bei seinem Besuch in Potsdam (Sanssouci)

Teilweise kritisierten sich die an der Militäraktion beteiligten Kommandeure sogar gegenseitig. Der amerikanische Befehlshaber vermerkte zum Beispiel: „Man kann mit Sicherheit sagen, dass auf einen wirklichen Boxer, der getötet wurde, fünfzehn harmlose Kulis und Landarbeiter, unter ihnen nicht wenige Frauen und Kinder, kamen, die erschlagen wurden.“

Parallel dazu ließ Russland 200.000 Soldaten in die Mandschurei einrücken, angeblich um die Boxer zu bekämpfen. Sie waren am 23. Juli in Aigun und am 1. Oktober in Mukden. Am 16. Februar 1901 wurde diesbezüglich ein Vertrag geschlossen, in dem Sinne, dass China die Mandschurei behielt, die russischen Truppen aber zum Schutz der Eisenbahn („railway guards“) im Land blieben.

Seit 26. Oktober 1900 verhandelte der erfahrene Diplomat Li Hongzhang als Abgesandter des Kaiserhofs über die Friedensbedingungen. Die nach Gansu geflohene Kaiserwitwe akzeptierte am 10. Januar 1901 die Bedingungen der Kolonialmächte. Am 7. September 1901 wurde das so genannte „Boxerprotokoll“ unterzeichnet. Es stellte fest, dass

  • die chinesische Regierung sich für die Morde an ausländischen Diplomaten (neben Ketteler auch der japanische Gesandtschaftssekretär Graf Sugiyama) entschuldigen und ein Denkmal für Ketteler errichten müsse,
  • Aufständische zu bestrafen seien (viele Todesurteile wurden verhängt),
  • die Beamtenprüfungen in allen Städten, in denen Ausländer getötet worden waren, für fünf Jahre ausgesetzt werden sollten,
  • China Reparationen in Höhe von 1,4 Milliarden Goldmark bis 1940 (70 Millionen Pfund Sterling) und
  • Entschädigungen an betroffene Ausländer zu zahlen hatte,
  • keine Waffen gekauft und eingeführt werden durften,
  • das Gesandtschaftsviertel in Peking ausschließlich für Ausländer reserviert und befestigt werden sollte,
  • die Dagu-Forts geschleift und ausländische Stützpunkte an der Bahnstrecke zwischen Peking und der Küste errichtet werden sollten,
  • ein modernes Außenministerium mit Vorrang vor allen anderen Ministerien eingerichtet werden musste,
  • ein kaiserliches Edikt bestätigt wurde, das ausländerfeindliche Organisationen bei Todesstrafe verbot,
  • der Kotau (tiefe Verbeugung, Ehrenbezeigung) für ausländische Diplomaten abgeschafft wurde (tiefe Demütigung, zusammen mit einer Militärparade in der Verbotenen Stadt, die nur für chinesische Beamte geöffnet war)

Ein weiterer als besondere Demütigung empfundener Punkt war, dass der mit der Sühnemission beauftragte Zaifeng, 2. Prinz Chun, Vater des letzten chinesischen Kaisers Puyi, sich persönlich in Berlin unter entwürdigenden Bedingungen für den Gesandtenmord an Ketteler entschuldigen sollte. Die chinesische Delegation errang jedoch einen kleinen diplomatischen Sieg und konnte erreichen, dass der Prinz nicht vor Kaiser Wilhelm II. niederknien musste. Daraufhin konnte der Sühneakt schließlich am 4. September 1901 im Grottensaal, Neues Palais in Potsdam, Park Sanssouci, stattfinden.

Ein gefälschtes Dokument zum Boxerkrieg: Edmund Backhouse und das „Tagebuch des Jingshan“

Der Brite Sir Edmund Backhouse verschaffte sich über die Legende eines Privatgelehrten und Sammlers historischer Texte und Dokumente seit 1898 Zugang zu den Eunuchen am kaiserlichen Hof. Seine Informationen „verarbeitete“ er nach dem Boxeraufstand zu zwei Propaganda-Traktaten, die die spätere „Strafexpedition“ nachträglich rechtfertigten („Berichte und Memoiren vom Hof in Peking“, „China unter der Kaiserin Witwe“). Als vorgebliche „Quelle“ fertigte Backhouse einen chinesischen Text – das angebliche „Tagebuch des Jingshan“, eines hochrangigen Beamten am Pekinger Hof –, der die Entschlossenheit der Pekinger Kriegspartei und besonders der Kaiserinwitwe selbst dokumentieren sollte, die Ausländer in China zu vernichten. Erst 1976 enthüllte der britische Historiker Hugh Trevor-Roper, dass es sich bei diesem Text um eine Fälschung handelte.[2] Zwar konnte Backhouse' Fälschung auf den Kriegsverlauf in keiner Weise Einfluss nehmen – schon deshalb nicht, weil ihr Autor ja selbst in Peking eingeschlossen war. Diana Preston stellt fest, es habe Jahre gedauert, bis das angebliche Tagebuch des Jingshan „ans Licht der Öffentlichkeit kam.“ [3] Es prägte jedoch über viele Jahrzehnte die öffentliche Wahrnehmung des Krieges in Europa und Nordamerika.

Fußnoten

  1. zitiert nach Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld?, Ullstein Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-548-36765-8
  2. „Die letzten Tage von Peking“, ZDF, 21. Mai 2006
    „Publizist und Historiker Giles Milton über eine gefälschte Textrolle: „Im Britischen Museum hatte Backhouses Co-Autor Bland eine chinesische Textrolle hinterlegt. Sie war mehr als ein halbes Jahrhundert lang die Grundlage für alles, was über den Boxeraufstand geschrieben wurde. Aber 1976 entdeckte Hugh Trevor-Roper, dass es eine Fälschung war. Er fand auch heraus, das Backhouse als Geheimagent für die englische Regierung arbeitete.“
  3. Diana Preston, Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands. Stuttgart/München: DVA 2001, S. 412

Literatur

  • Ralph Erbar: „Peking muß rasiert werden“. Die europäischen Großmächte und der „Boxeraufstand“ in China 1900/01. In: Praxis Geschichte 4/1994, S. 12-16.
  • Georg Hillebrecht: „Man wird wohl später sich schämen müssen, in China gewesen zu sein.“ Tagebuchaufzeichnungen des Assistenzarztes Dr. Georg Hillebrecht aus dem Boxerkrieg 1900-1902. Eingeleitet und herausgegeben von Andreas E. Eckl. Essen, Eckl Verlag, 2006, ISBN 3-939886-00-9.
  • Deutschland in China. Bearbeitet von Expeditionsteilnehmern und illustriert von Th. Rocholl, Bagel 1902, Düsseldorf
  • Julius Fehl The Germans to the front? Mit einer Batterie schwerer Haubitzen im „Boxerkrieg. Ein Tagebuch der deutschen Expedition nach China 1900 - 1901“ Herausgegeben von Gerhard und Renate Fehl, Hamburg 2002 ISBN 3-8300-0507-5
  • Peter Fleming: Die Belagerung zu Peking. Zur Geschichte des Boxer-Aufstandes. Eichborn, Frankfurt 1997 ISBN 3-8218-4155-9
  • Tilemann Grimm: Die Boxerbewegung in China 1898-1901, in: Historische Zeitschrift Bd. 224, München 1977, S. 615-634.
  • Kuo Heng-yü: Artikel Boxerbewegung, in: Wolfgang Franke/Brunhild Staiger, China Handbuch. Eine Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Ostasienkunde in Verbindung mit dem Institut für Asienkunde, Gütersloh 1974, Sp. 175-178.
  • Gerd Kaminski: Der Boxeraufstand - entlarvter Mythos. Löcker Verlag, Wien 2000, 248 S., ISBN 385409325X
  • Egbert Kieser: Als China erwachte. Der Boxeraufstand. Bechtle, Esslingen 1984 ISBN 3-7628-0435-4
  • Thoralf Klein: Sühnegeschenke: Der Boxerkrieg. In: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hg.) „… Macht und Anteil an der Weltherrschaft.“ Berlin und der deutsche Kolonialismus. Unrast-Verlag. Münster 2005, ISBN 3-89771-024-2
  • Kollektiv für die „Serie der Geschichte des modernen China“ (Hrsg.): Die Yihotuan-Bewegung von 1900 (= Geschichte des modernen China 1840-1911, Bd. 3), Peking 1978.
  • Jacobus J. A. M. Kuepers: China und die katholische Mission in Süd-Shantung 1882-1900. Die Geschichte einer Konfrontation, Steyl 1974.
  • Susanne Kuß/Bernd Martin (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand. Iudicium, München 2002, ISBN 3-89129-781-5
  • Georg Lehner/Monika Lehner: Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand“ in China, StudienVerlag, Innsbruck u. a. 2002, ISBN 3-7065-1713-2
  • Mechthild Leutner / Klaus Mühlhahn (Hg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901. Berlin 2007, ISBN 978-3-86153-432-7
  • Günter Moltmann; Jürgen Lütt, Bernhard Dahm; Tilemann Grimm: Soziale Protestbewegung in Asien in der Zeit des Imperialismus, in: GWU 6/1978, S. 345-374.
  • Diana Preston: Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands. DVA, Stuttgart 2001 ISBN 3-421-05407-X
  • Alexander Pechmann (Hg.): Peking 1900. Paula von Rosthorns Erinnerungen an den Boxeraufstand. Böhlau, Wien 2001, ISBN 3-205-99401-9
  • Bernd Sösemann: Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven, in: Historische Zeitschrift Bd. 222, München 1976, S. 343-358.
  • Richard Szippel, „A German View of the Boxer Rebellion in China: Max von Brandt and German Interests in China at the Turn of the Century“, Academia - Humanities and Social Srudies (Nanzan University) 58, 47 - 76, September 1993.
  • Verein für hessische Geschichte und Landeskunde: China 1900. Der Boxeraufstand der Maler Theodor Rocholl und das alte China. 2000
  • Gerhard Seyfried: China Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer . 2008, ISBN 978-382185-797-8

Film

Weblinks


Dokumente

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