Priesterbetrug

Priesterbetrug

Die Theorie des Priesterbetrugs (auch: „Lehre vom Priester- und Herrentrug“[1]) gehört der Gesellschaftstheorie und Staatsphilosophie der Aufklärung an und stellte im 18. Jahrhundert eine Kampfthese gegen das Ancien Régime dar. Heute wird der Begriff meist nur noch klassifizierend und ohne Wertung gebraucht, um ein bestimmtes Argumentationsmuster in der Religions- und Ideologiekritik zu kennzeichnen.

Theorien vom Priesterbetrug geben zunächst eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Religion. Dann fragen sie nach der Rolle der Religion im Leben der Gesellschaft. Während die Antwort auf die erste Frage nach dem geschichtlichen Ursprung die übernatürlichen Quellen der Religion (Offenbarungen) in Zweifel zieht, gehen Antworten auf die zweite Frage in Richtung auf eine Herrschaftskritik: wem die Religion nützt, wird gefragt, um die Interessen der Priester an Macht, Reichtum und Ansehen aufzudecken.

Inhaltsverzeichnis

Vorbilder in der Antike

Die Vorstellung eines „frommen Betrugs“ (Ovid) ist älter als das Christentum. Schon Xenophanes von Kolophon (570-470 v. Chr.) hielt die Götter des Volksglaubens im alten Griechenland für Erfindungen der Dichter. Der Vorsokratiker Kritias (ca.460-403 v. Chr.), ein Onkel Platos, suchte nach einer Erklärung für die Entstehung der Religion. Kritias beschrieb einen menschlichen Urzustand; „es herrschte rohe Gewalt“. Damals seien die Gesetze erfunden worden. Diese hätten aber nur die offene Gewalt verhindern können, nicht die heimlich verübten Verbrechen. „Da scheint mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten oder sagten oder dächten. Er führte daher den Gottesglauben ein.“ Kritias nennt ihn „die schlaueste aller Lehren.“ Das ganze Fragment hebt zwei Seiten an der Erfindung der Religion hervor, einerseits den Betrug („indem er die Wahrheit mit trügerischen Worten verhüllte“), andererseits den Zusammenhang von Furcht und Religion. Beide Aspekte dieser Religionskritik kehren in der Geschichte der Antike, der Aufklärung und der Neuzeit wieder.

Im großen Lehrgedicht des Lukrez (98-55 v. Chr.) „Vom Wesen des Weltalls“ wird hervorgehoben, wie die Priester die Furcht der Menschen ausbeuten. „Furcht umfängt die Sterblichen nämlich, weil sie so manchen Vorgang am Himmel wie auf Erden sich abspielen sehen, den sie sich nicht mit den Mitteln ihres Verstandes erklären können.“ Lukrez „möchte die Menschheit erlösen vom Zwange der Religionen“. Er malt sich aus, wie die Priester mit seinem Gedicht umgehen: „Freilich da werden schon einmal mit schreckenerregenden Worten Priester dich nötigen wollen, auf mich und mein Werk zu verzichten, viele entsetzliche Trugbilder werden sie gegen dich hetzen, um auf Vernunft gegründete Lebensprinzipien zu stürzen. Sicher, aus gutem Grunde, denn sähen die Sterblichen deutlich vor sich ein Ende des Elends, so könnten mit geistigen Waffen sie auch dem Irrwahn, dem Drohen der Priester Widerstand leisten.“ Lukrez und sein Werk gerieten in Vergessenheit, bis es Poggio Bracciolini (1380-1459) der Öffentlichkeit humanistischer Gelehrter wieder zugänglich machte.

Gegenwart

Die großen atheistischen Kritiker der Religion Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud setzen in der Religionskritik andere Schwerpunkte als die moralisierende Priesterbetrugstheorie, auch wenn sie z.B. von Nietzsche in seinem Werk "Der Antichrist" durchaus vehement vertreten wird. Aus der Philosophie ist das Thema des Priesterbetrugs verschwunden. Die moderne Weltanschauungskritik betont wie die genannten Kritiker des 19. Jahrhunderts vor allem den Unterschied zwischen „Erkenntnis und Illusion“ (E. Topitsch). Trotzdem spielen Betrugsvorwürfe bei Kritikern der Religion von außen oder von innen immer noch eine Rolle, wie manche Buchtitel zeigen: „Der gefälschte Glaube“ (K. Deschner), „Der große Betrug“ (G. Lüdemann).

Die Kritik setzt an den historischen Befunden des Wirkens der Religionen – insbesondere des Christentums – an und kommt zu dem Schluss, dass alle Religionen auf dem Boden der Furcht errichtet wurden. Die Ursachen dieser Furcht seien ursprünglich Unwetter, Donner, Stürme und andere Naturgewalten gewesen, denen sich die Menschen ohnmächtig ausgesetzt fühlten. Deshalb hätten die Menschen Zuflucht bei Wesen gesucht, die stärker waren als sie selbst.

Erst später sei durch „ehrgeizige Männer, raffinierte Politiker und Philosophen“ – so der intime Freund Friedrichs des Großen, der Marquis d’Argens in einem Sittenbild des 18. Jahrhunderts – die Leichtgläubigkeit des Volkes für den Erhalt der bestehenden Gesellschaftsordnung ausgenutzt worden.

Für diese Auffassung gibt es bereits in der griechischen Antike Beispiele. Der Sophist Kritias der Jüngere stellt beide Aspekte der Religion als willentliche Schöpfung des Menschen dar.

Religion dient für die Aufklärung der Bewältigung von Lebensangst und zur Legitimation unterdrückerischer Gesellschaftsordnungen. In der Priesterbetrugstheorie kommt ein areligiöses Bewusstsein der Herrschenden zum Vorschein, welches die Religion als Herrschaftsinstrument benutzt. Die Aufklärung unterstellt also, dass die Herrschenden sich ihrer areligiösen Haltung bewusst sind und sie mit Kalkül zu ihren Gunsten einsetzen. Es handelt sich hierbei um eine „Verfeinerung“ von Herrschaftswissen, in dem die Herrschenden der religiösen Selbsttäuschung entwachsen sind, aber dennoch die Täuschung zu ihren Gunsten weiter wirken lassen. „Dieses Wissen glaubt nicht, aber es lässt glauben. Es müssen viele die Dummen sein, damit wenige die Klugen bleiben.“ (Peter Sloterdijk in „Kritik der zynischen Vernunft“). In diesem Zusammenhang passen auch die folgenden Verse:

„Ich kenne die Weise, ich kenne den Text
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.“

Heinrich Heine

Im Unterschied zur üblichen Ideologiekritik, in der das „falsche Bewusstsein“ der anderen Seite und deren „Verblendung“ zu Sprachlosigkeit führen, enthält die Betrugstheorie den Ansatz zu einem Dialog, in dem sie dem Gegner eine mindestens ebenbürtige Intelligenz zubilligt.

Einzelbelege

  1. Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens. 2. Auflage. Luchterhand, Neuwied/Berlin 1968, S. 13.

Literatur

  • W. Cappelle: Die Vorsokratiker. Stuttgart 1968, S. 121 (Xenophanes), S. 378f. (Kritias).
  • Lukrez: Vom Wesen des Weltalls. (Dt. Übers. D. Ebener) Berlin 1994, ISBN 3-351-02279-4.
  • Claude Adrien Helvétius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung. Hrsg.v.G.Mensching. Frankfurt/M. 1972.
  • G. Bartsch (Hrsg.): Von den drei Betrügern. Berlin 1960.
  • Anonymus: Traktat über die drei Betrüger. Hamburg 1992, ISBN 3-7873-1085-1.
  • E. Topitsch: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung. Hamburg 1979, ISBN 3-455-09235-7.

Weblinks


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