Soziale Systeme (1984)

Soziale Systeme (1984)

Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (abgekürzt als Sy, SoSy, SS und SY), das erste Hauptwerk von Niklas Luhmann, geht davon aus, dass es soziale Systeme gibt, die strukturell gekoppelt sind. Zusammengenommen bilden sie Die Gesellschaft der Gesellschaft, welches der Titel seines zweiten Hauptwerks ist (1997). In Soziale Systeme zeigt der Untertitel Grundriß einer allgemeinen Theorie an, dass es dort um die Einführung in eine kommunikations-theoretische, genaugenommen um eine grundlegend philosophisch-soziologische Systemtheorie geht, die er in jenem Werk (biologisch-)autopoietisch wendet hin zu der von ihm begründeten Systemtheorie (Luhmann).

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Übersicht

Das 1984 erstmals veröffentlichte Werk beginnt mit dem autopoietischen Paradigmawechsel der Systemtheorie, durch den Systeme und ihre Umwelt nicht ausschließlich und vollständig, wohl aber universal und als eine selbstreferentielle Wirklichkeit erfasst werden sollen. Die Autopoiesis schließt soziologisch an Max Weber und Talcott Parsons und kybernetisch an William R. Ashby und Heinz von Förster an, um mit Bezügen auf Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela biologische Beziehungen auf soziale zu übertragen. Die unterscheidungslogische und paradoxie-aufhebende Begründung dieser Übertragung erfolgt gleichzeitig aufbauend auf Georg W. F. Hegel, Edmund Husserl und vor allem auf George Spencer Brown, so dass Luhmann im Ergebnis ein entsprechend abgesichertes, wirklichkeitsbezogenes und kommunikationstheoretisches Begriffsinstrumentarium darlegte, dass nicht nur Erkenntnistheorien und Gesellschaftstheorien, sondern quasi alle Wissenschaftsdisziplinen beeinflusst hat (Physik, Psychologie, Politikwissenschaft etc.).

Begriffe

Eine bekannte Einführung zu Luhmann, verfasst von Walter Reese-Schäfer, nennt als die „Schlüsselbegriffe“[1] von jenem ‚System’, ‚Sinn’ und ‚Autopoiesis’. Hauptsächlich in Bezug auf das Verständnis dieser Begriffe in Soziale Systeme folgen hier einschlägige Zitate, um dann den Theoriekern zu umreißen. Für Weiteres siehe auch Systemtheorie (Luhmann)#Weiterführende Artikel.

System
„Für die Theorie sozialer Systeme werden ihrerseits, und deshalb sprechen wir von »allgemein«, Universalitätsansprüche erhoben. Das heißt: Jeder soziale Kontakt wird als System begriffen bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit aller möglichen Kontakte.“ (Luhmann, Sy 33)
„Der Systembegriff steht (im Sprachgebrauch unserer Untersuchungen) immer für ein realen Sachverhalt. Wir meinen mit »System« also nie ein nur analytisches System, eine bloße Konstruktion, ein bloßes Modell“. (Luhmann, Sy 599)
Sinn
„Nicht alle Systeme verarbeiten Komplexität und Selbstreferenz in der Form von Sinn; aber für die, die dies tun, gibt es nur diese Möglichkeit. Für sie wird Sinn zur Weltform und übergreift damit die Differenz von System und Umwelt“. (Luhmann, Sy 95)
„Der allem Sinn immanente Weltbezug schließt es aus, dass wir Sinn als Zeichen definieren. Man muss Verweisungsstruktur und Zeichenstruktur sorgfältig unterscheiden. […] Ein Zeichen muß Sinn haben, um seine Funktion erfüllen zu können“. (Luhmann, Sy 107)
Autopoiesis
„Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence. Auf dieser Grundlage kann dann jedes (wie immer kurze) Ereignis Sinn gewinnen und Systemelement werden. Damit ist nicht so etwas wie „rein geistige Existenz“ behauptet, wohl aber Geschlossenheit des Verweisungszusammenhangs der Selbstproduktion. Insofern sind auch Sinnbewegungen in ihrer Funktion, Informationsgewinn und Informationsverarbeitung zu ermöglichen, autonom konstituiert.“ (Sy 101)
„Die eigentliche Theorieleistung, die den Einsatz funktionaler Analysen [in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft] vorbereitet, liegt demnach in der Problemkonstruktion […] Vor allem ist jedoch die Wende zu beachten, die mit dem Konzept des selbstreferentiellen, autopoietischen Systems durchgeführt ist: Es geht nicht mehr um eine Einheit mit bestimmten Eigenschaften, über deren Bestand oder Nichtbestand eine Gesamtentscheidung fällt; sondern es geht um Fortsetzung oder Abbrechen der Reproduktion von Elementen durch ein relationales Arrangieren eben dieser Elemente. Erhaltung ist hier Erhaltung der Geschlossenheit und der Unaufhörlichkeit der Reproduktion von Elementen, die im Entstehen wieder verschwinden.“ (Sy 86)

Theoriekern

Die vorgelegte Theorie (siehe auch Systemtheorie (Luhmann)) ist entlang der Begriffe ‚Soziale Systeme’, ‚Sinn’ und ‚Autopoiesis’ nachvollziehbar bezüglich ihres Bezugs (soziale Beziehungen), ihrer unhintergehbaren Form (Sinn) und ihrer polyzentristischen Anlage (Autopoiesis), die entsprechend auch für die von ihr abgeleiteten Untersuchungen gilt: Sobald eine Systemtheorie als universialistische Theorie „sich selbst als Forschungsprogramm eines Teilsystems (Soziologie) eines Teilsystems (Wissenschaft) des Gesellschaftssystems analysiert, wird sie genötigt, sich selbst als kontingent zu erfahren.“ (Sy 34) Ein stabiles Element ihrer Wirklichkeitskonstruktionen ist die Differenz von System und Umwelt, wobei Systeme auch zur Umwelt bestimmter Systeme gehören, wie etwa die Politik und die Wissenschaft als eine Umwelt des Rechts, das mit diesen Systemen strukturell gekoppelt ist. Hingegen sind die Systeme selbst davon abhängig, sich aufgrund ihrer Autopoiesis und im Zusammenwirken mit iher Umwelt immer wieder selbst zu (re-)produzieren, um weiterzubestehen zu können.

„Eine der wichtigsten Konsequenzen ist: daß Systeme höherer (emergenter) Ordnung von geringerer Komplexität sein können als Systeme niederer Ordnung, da sie Einheit und Zahl der Elemente, aus denen sie bestehen, selbst bestimmen, also in ihrer Eigenkomplexität unabhängig sind von ihrem Realitätsunterbau.“ (Sy 43) „Komplexität in dem angegebenen Sinne heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko.“ (Sy 47)

Weil nun Systeme aufgrund unterschiedlicher Komplexität und Operationsweisen füreinander unbestimmbar werden, entstehen neue Systeme zu ihrer Regulierung (Sy 53). Zum Beispiel operiere die Wissenschaft mit dem Code wahr/unwahr, während das Recht mit rechtmäßig/unrechtmäßig prozessiere, so dass das eine durch das andere reflektiert wird, Korrekturpoteniale bereit stelle und sich teilweise interpenetriere. Luhmann schließt unter anderem, dass die soziokulturelle Entwicklung durch interaktionsfreie Kommunikationsmöglichkeiten beschleunigt werde. Wie früher durch Schrift und Buchdruck kämen die Massenmedien hinzu (Sy 592). Um die Relationen mit einer zusammenhängenden Theorie begreifen zu können, entfaltet Luhmann nacheinander und systematisch aufeinander aufbauend weitere Unterscheidungspaare, die jeder ontologischen Tradition entgegen stehen und durch das Aufzeigen von Operationsalternativen die logische Dualität von richtig/falsch sprengt.

Rezeption

Das Werk wurde von einzelnen Forschern fast aller Wissenschaftsbereiche rezipiert, z.B. in der Rechtsphilosophie[2], auch z.B. in der systemischen Beratung. Ideen dieses Werks und anderer Werke Luhmanns wurden wiederholt z.B. von Jürgen Habermas kritisch diskutiert[3]. Zu einflussreichen Veränderungen und Weiterentwicklungen von Luhmanns erstem Hauptwerk zählen unter anderem Soziologische Aufklärung (sechs Aufsatzbände, 1970–1995), Monographien-Reihe über einzelne Funktionssysteme (1988 bis postum 2008) und das diese Reihe erneut verbindende, zweite Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997). Erweiterungen erfolgten dabei insbesondere bei der Erläuterung der operativen Schließung von Systemen und im Verhältnis von sozialen und psychischen Systemen.

Literatur

chronologisch und sortiert

Originalquellen

das Werk
Einführung
seine Weiterentwicklung (Auswahl)

Sekundärquellen

werkbezogen (im engeren Sinn)
  • Daniel Zolo: Reflexive Selbstbegründung der Soziologie und Autopoiesis. In: Soziale Welt 36, 1985, S. 519-534.
  • Dirk Baecker, Jürgen Markowitz, Rudolf Stichweh (Hrsg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987.
  • Hans Haferkamp, Michael Schmid (Hrsg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987.
  • Werner Krawietz, Michael Welker (Hrsg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992. ISBN 978-3-531-15177-9.
  • Georg Kneer, Armin Nassehi (Hrsg.) Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Wilhelm Fink Verlag, München 1993. ISBN 3825217515.
  • Andreas Metzner: Probleme sozio-ökologischer Systemtheorie – Natur und Gesellschaft in der Soziologie Luhmanns. Westdeutscher Verlag, Opladen 1993, ISBN 978-3531124711 (Volltext).
  • Andreas Göbel: Theoriegenese als Problemgenese: Eine problemgeschichtliche Rekonstruktion der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns. Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 2000, ISBN 3-87940-702-9 (Zugl.: Essen, Univ. Diss. 1999).
  • Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-28826-1 (Nachdruck; stw 1226)..
  • Christian Schuldt: Systemtheorie. 2. Auflage. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2006, ISBN 3-4344-6153-1..
werkbezogen (im weiteren Sinn)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Walter Reese-Schäfer: Niklas Luhmann zur Einführung. Hamburg 2001, drittes Kapitel.
  2. Gunther Teubner: Recht als autopoietisches System. Frankfurt am Main 1989.
  3. Z.B. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main 1985.

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