Systemtheorie des Rechts

Systemtheorie des Rechts

Die Systemtheorie des Rechts ist eine unter Einfluss der soziologischen Systemtheorie entstandene jüngere Entwicklung in der Rechtstheorie.

Die Hauptströmung charakterisieren die Konzepte von Niklas Luhmann und Gunther Teubner; es finden sich aber auch andere systemtheoretische Einflüsse. Weitere wichtige Beiträge kommen von Gralf-Peter Calliess, Andreas Fischer-Lescano, Werner Krawietz und Thomas Vesting.

Eine wachsende Anhängerschaft in der Rechtswissenschaft hat die Systemtheorie des Rechts besonders seit der Wende zum 21. Jahrhundert durch ihr Beschreibungspotenzial hinsichtlich historischer und innovativer Formen des Rechtspluralismus gewonnen: Zum Beispiel von trans- oder supranationalen Rechtsregimen wie dem Internationalem Strafgerichtshof, der lex mercatoria oder von NGOs.

Inhaltsverzeichnis

Recht als soziales System

Die Systemtheorie beobachtet ausnahmslos alles Beobachtbare (den Beobachter eingeschlossen) als Systeme unterschiedlicher Größe, Struktur und Komplexität. Ein System ist konstituiert durch die Unterscheidung – die sog. Leitdifferenz – von System–Umwelt, d.h. von „innen“ und „außen“. Systeme reagieren nach den ihnen jeweils eigenen Strukturen auf die von ihnen rezipierten Umweltreize – d.h. Informationen – mit einer Zustandsänderung ihrer selbst. Diese Zustandsänderung wiederum kann von einem anderen System (dessen Umwelt ja auch das vorgenannte System ist) als Umweltreiz/Information rezipiert werden, und wird damit von diesem in eine Zustandsänderung umgesetzt.

„Die jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der jeweils anderen. Personen können nicht ohne soziale Systeme entstehen und bestehen, und das gleiche gilt umgekehrt.“[1]

Diese „operationelle Geschlossenheit“ bei gleichzeitiger „informationeller Offenheit“ wird in der Tradition der Kybernetik durch zwei Konzepte beschrieben: das der Autopoiesis und das der strukturellen Kopplung (einen Spezialfall des letzteren benannte Luhmann die Interpenetration). Demnach entsteht ein autopoetisches System dann, und besteht nur solange, wie selbstreferenzielle Operationen stattfinden – deren emergente Strukturen sind das System. Beispiel: Gesellschaft besteht nur in der Kommunikation; Vgl.: eine biologische Zelle besteht im Leben. Strukturell gekoppelt sind Systeme, wenn das eine System fähig ist, die Operation eines anderen Systems als Umweltreiz informationell wahrzunehmen. Beispiel: Das Gehör reagiert auf Schallwellen in der physikalischen Umwelt; Das Rechtssystem reagiert auf eine Person, die sich als „Kläger“ an es wendet.

Die grundlegende Operation, die alle gesellschaftlichen Systeme von nicht-gesellschaftlicher Umwelt differenziert, ist Kommunikation, verstanden als Einheit von Mitteilung, Information (Sinngehalt) und Verstehen. Die Gesamtheit aller Kommunikationen ist systemtheoretisch „die Gesellschaft“.

Kein Mensch kann kommunizieren (im Sinne von Kommunikation vollenden), ohne dadurch Gesellschaft zu konstituieren, aber das Gesellschaftssystem selbst ist (eben deshalb!) nicht kommunikationsfähig: Es kann keinen Adressaten außerhalb seiner selbst finden.[2]

Die Systemtheorie des Rechts erfasst das Rechtssystem als Gesamtheit aller rechtlichen Kommunikationen, also aller Kommunikationen, die der Leitdifferenz „rechtmäßig/nicht-rechtmäßig“ folgen (d.i. Kommunikation, die Rechtsgeltung postuliert).

Autopoiesis des Rechtssystem

Das Recht wird danach als Subsystem der Gesellschaft neben anderen Subsystemen wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion etc. verstanden, die sich anhand einer spezifischen Funktion für die Gesellschaft historisch ausdifferenziert haben, d.h. sich in ihren Operationen gegenüber anderen Systemen verselbstständigt haben.

Autopoiesis des Rechts bedeutet, dass keine rechtliche Information ihre Normativität aus der Umwelt beziehen kann, sondern Geltung immer nur von Rechtskommunikation zu Rechtskommunikation weitergegeben werden kann. Dieser selbstreferentielle Verweis erfolgt in den Strukturen des konkreten Rechtssystems über Rechtstexte, Rechtsdiskussionen, juristische Literatur und Konventionen etc. Diese Strukturen wurden wiederum selbst durch Rechtsoperationen hergestellt, in dem sie erlassen, geschrieben, angewandt, kommentiert, erinnert, vergessen, bestritten, interpretiert, reformiert, abgeschafft, neuformuliert etc. worden sind. Rechtsstruktur und Rechtsoperation stehen also in einem zirkulären Referenzzusammenhang und produzieren sich gegenseitig. In diesem Sinn „erhält sich das System selbst“.

Strukturelle Kopplungen des Rechtssystem

Diese operationelle Abgeschlossenheit bedeutet aber nicht, dass sich das Rechtssystems „los löst“ von den Akteuren (Betroffene, Juristen, Politiker etc.). Im Gegenteil ist seine Existenz bedingt durch die informationelle Offenheit gegenüber dieser Umwelt. So werden erst durch das wechselseitige Bestehen von Systemen „Person“ und „Rechtssystem“ überhaupt Rechtsoperationen (Klagen, Beantragen, Schreiben eines juristischen Lehrbuchs etc.) und damit als emergente Struktur Recht möglich. Auch das individuelle Gewissen (ein Subsystem der Psyche) hat also in der Systemtheorie einen (eigenen) Platz.

Andere gesellschaftliche Systeme wie etwa Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Moral etc. weisen strukturelle Kopplungen mit dem Recht auf. Beispielsweise ist im Verfassungsrechtssystem die Politik vermittels eines Parlaments strukturell gekoppelt als Gesetzgeber an das Rechtssystem. Ein weiteres Beispiel wäre das Wirtschaftssystems, das beim Tauschakt am Markt strukturell an den Kaufakt im Zivilrechtssystem gekoppelt ist. Und im Gerichtssaal, in dem Anwälte und/oder Richter mit dem "Banner der Gerechtigkeit" argumentieren, ist das das Rechtssystem mit der Moral strukturell gekoppelt.

Luhmann bezeichnet gewisse strukturelle Kopplungen als Interpenetration von Systemen, wenn die Kopplung aus einer Gleichursprünglichkeit der Systeme entstanden ist: Beispielsweise haben sich Staat und Kirche erst mit Beginn der Neuzeit als Unterschiedenes ausdifferenziert. Bis heute weiter bestehende Kopplungen (z.B. das Staatskirchenrecht) sind daher Interpenetrationen von Recht und Religion.

Dabei erfüllen die strukturellen Kopplungen die Aufgabe, Komplexität in reduzierter Form anderen Systemen zur Verfügung zu stellen. Diese Art der "Arbeitsteilung" ermöglicht erst die Entwicklung hochkomplexer Systeme aus einer Vielzahl einfachkomplexer Systeme.

Anwendungsbeispiele der Theorie

Dieser Artikel oder Abschnitt besteht hauptsächlich aus Listen, an deren Stelle besser Fließtext stehen sollte.
  • Tania Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, 2003
  • Andreas Fischer-Lescano, Gunther Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006
  • Andreas Noll, Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann. Vom Mangel an Würde zur Würde des Mangels, 2006
  • Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung. Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2006
  • Samuel Klaus, De-/Regulierung - Eine juristische Begriffsanalyse unter Einbezug der Systemtheorie, 2007
  • Stefanie Nowak, Die Verfassung als strukturelle Kopplung von Politik und Recht, 2007

Funktion des Rechts: Teleologischer oder deskriptiver Ansatz?

Bezüglich der Funktion des Rechts für die Gesellschaft sind in der Systemtheorie grob zwei Strömungen unterscheidbar:

  • Luhmann selbst sieht die Funktion des Rechts in der „kongruenten Generalisierung von Verhaltenserwartungen in der Gesellschaft“. Er weist dem Recht somit einen teleologischen Eigenzweck (Stabilisierung) zu.[3]
  • Andere weisen darauf hin, dies sei in dieser Abstraktheit so nicht zu beobachten (innertheoretisch widersprüchlich). Die Funktion lasse sich nur deskriptiv durch Beobachtung konkreter (historischer) Rechtssystem ermitteln; also z.B. was war die Funktion der Herausbildung des modernen „Verfassungsstaats“ im 19. Jahrhundert?

Einflüsse und Genealogie

Die Systemtheorie greift sowohl konzeptionell als auch begrifflich auf kybernetische Modelle zurück, sowie insbesondere auf Modelle zur Beschreibung biologischer Systeme, die vor allem zur abstrakten Beschreibung von „Leben“, vom Fließgleichgewicht beim Stoffwechsel oder in ökologischen Modellen Verwendung gefunden hatten.

Kritik

  • Unverständliches Abstraktionsniveau
  • Auflösung des moralischen/juristischen Subjekts
  • Kontingenz bedeutet Ablehnung eines absoluten Naturrechts
  • Wert einer Theorie, die (angeblich) sagt „Es ist wie es ist“, ist zweifelhaft.

Literatur

  • Niklas Luhman, Das Recht der Gesellschaft, 1995.
  • Niklas Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems, in: Rechtstheorie 1983, 129, 137.
  • Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989.
  • Gunther Teubner, Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, in: Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255–290.
  • Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel, Ralf Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57–75.
  • Anthony D'Amato, International Law as an Autopoetic System, in: Wolfrum, Volker Röben (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, 2005, 335–399
  • Reinhard Damm, Systemtheorie und Recht. Zur Normentheorie Talcott Parsons’, 1976.
  • Thomas Huber, Systemtheorie des Rechts. Die Rechtstheorie Niklas Luhmanns, 2007
  • Thomas Vesting, Kein Anfang und kein Ende. Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik, in Jura 2001, 299–305.

Einzelnachweise

  1. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1983, S. 92.
  2. Niklas Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems, in Rechtstheorie 1983, 129, 137.
  3. Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1999.

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