Chronist der Winde

Chronist der Winde

Der Chronist der Winde (Originaltitel: Comédia infantil) ist ein Roman von Henning Mankell über die Gegenwartsgeschichte einer ehemaligen Kolonie in Afrika aus der Sicht eines Kindes. Das Buch erschien 1995 im Ordfront Verlag, Stockholm, und wurde im Jahr 2000 von Verena Reichel auf deutsch übersetzt.

Inhaltsverzeichnis

Handlung

Der Bäcker Josè Antonio Maria Vaz hört eines Nachts Schüsse aus dem Theater neben der Bäckerei. Er findet ein angeschossenes Straßenkind, den zehnjährigen Nelio, den er auf das Dach der Bäckerei trägt und dort oben neun Tage und Nächte lang pflegt. In diesen neun Nächten erzählt Nelio ihm seine Geschichte:

Die ersten Jahre seiner Kindheit lebt Nelio in einem Dorf im Grenzgebiet Mosambiks. Bei einem grausamen Überfall von Bürgerkriegs-Partisanen werden sein Vater und seine Schwester wie viele Bewohner des Dorfes bestialisch ermordet, das Dorf wird niedergebrannt und Nelio und seine Mutter werden mit weiteren Frauen und Kindern des Dorfes verschleppt. Nachdem sie das Basislager der Banditen erreicht haben, soll Nelio gezwungen werden, einen anderen Jungen aus seiner Familie zu erschießen. Er erschießt stattdessen den Banditen und kann flüchten.

Nelio trifft auf seiner Flucht den Zwerg Albino Yabu Bata, der sich auf einen seltsamen Traum hin 19 Jahre zuvor auf den Weg gemacht hat, seinen Lebenspfad zu finden. Er erlaubt Nelio, ihn einige Zeit zu begleiten und führt ihn schließlich ans Meer. Von dort aus weist er ihm den Weg in „die große Stadt am Meer“ (Maputo - der Name wird im ganzen Buch jedoch nicht erwähnt), in der Nelio fortan leben wird.

In der Stadt fühlt Nelio sich direkt heimisch, obwohl seine ersten Erfahrungen mit den Menschen dort negativ sind. In seinem ersten Nachtquartier, einem scheinbar verlassenen Grabhaus auf einem Friedhof, trifft er auf Senhor Castigo. Dieser erkennt Nelios Situation, zwingt ihn zum Betteln und benutzt ihn als Lockvogel für Taschendiebstähle. Nelio durchschaut seine Machenschaften schnell und flüchtet vor ihm. In einem Reiterstandbild, das sich von unten mit einer Luke öffnen lässt, findet er sein neues Nachtquartier. Während er tagsüber das Leben der Menschen in der Stadt beobachtet und um sein Überleben kämpft, wird ihm bewusst, dass seine Bestimmung von nun an ein Leben als Straßenkind sein wird.

Nelio schließt sich einer Gruppe von Straßenkindern an, das von dem etwa 14-jährigen Cosmos angeführt wird. Cosmos behandelt die Mitglieder seiner Gruppe gut, schlägt sie selten, schreit sie kaum an und gibt ihnen keine unnötigen Aufträge. Das Rudel wird zu Nelios neuer Familie. Die Kinder schlafen in Pappkartons (mit Ausnahme von Nelio, der weiterhin in seinem Reiterstandbild übernachtet und diesen Ort vor den anderen geheim hält) und leben von Abfällen, kleineren Diebstählen und dem wenigen Geld, das sie sich durch das Bewachen und Waschen von Autos der Reichen verdienen. Bei dieser Tätigkeit entwenden die Kinder aus Neugier einen Aktenkoffer, von dem sie sich die Lösung des Geheimnisses versprechen, welcher offensichtlich bedeutenden Tätigkeit die Reichen nachgehen. Alles, was sie in dem Koffer finden, ist eine tote Eidechse. Halb aus Schabernack und halb aus dem Wunsch nach Macht ersetzen die Kinder das tote Tier durch ein lebendiges und legen den Koffer an seinen Platz zurück. Ihr Tun gibt ihnen das Gefühl von Macht und so brechen sie in der nächsten Zeit in verschiedene Gebäude vom Kaufhaus bis hin zum Präsidentenpalast ein, stehlen jedoch nichts, sondern hinterlassen nur rätselhafte Spuren: eine gewollte Unordnung und stets eine tote Eidechse als ihr Zeichen.

Das Leben des Straßenkinderrudels ändert sich, als der Anführer, Cosmos, die Gruppe verlässt. Seine Position soll Nelio übernehmen, der das anfängliche Misstrauen der Kinder, er sei für Cosmos' Fortgang verantwortlich, schnell ausräumen kann. Ein Höhepunkt im Leben der Kinder ist der Geburtstag Alfredo Bombas, des Kleinsten aus dem Rudel. Unter Nelios Anleitung brechen die Straßenkinder in das Haus eines verreisten Entwicklungshelfers ein, in dem sie sich am Kühlschrank reichlich bedienen und die Nacht mit einem Dach über ihren Köpfen verbringen.

Eine Zeitlang wird die Gruppe der Jungen durch ein Mädchen erweitert. Deolinda, die Schwester von Cosmos, mit albinohaftem Aussehen und der bemerkenswerten Fähigkeit zu lesen, lebt so lange in der Gruppe, bis sie eines Nachts von einem der Jungen, Nascimento, vergewaltigt wird. Sie verlässt daraufhin das Rudel wieder und bleibt unauffindbar. Statt Nascimento zu bestrafen, verweist Nelio auf die Wahnvorstellungen, die ihn zu seinem Handeln getrieben haben.

In dieser Zeit geht eine Veränderung in Nelio vor. Er wird grüblerisch, aufbrausend und ungeduldig. Gedanken über das Schicksal seiner Familie und über den Tod quälen ihn und lassen sich auch nicht durch die anderen Kinder, denen er bewusst Wünsche erfüllt und damit Freude macht, vertreiben. Das Elend und die Ungerechtigkeit, die er tagtäglich sieht und erlebt, wecken in ihm existentielle Fragen. Er will die Welt verstehen, aber seine Versuche, mit Hilfe eines alten Atlanten und eines indischen Fotografen, der in solcherlei Fragen bewandert sein soll, Antworten zu finden, scheitern.

Kurz darauf erschüttert eine schwere Krankheit von Alfredo Bomba die Gruppe. Selbst im Krankenhaus kann nur seine Unheilbarkeit festgestellt werden. Nelio ist bestrebt, seinem Freund Alfredo dessen letzten Tage so gut wie möglich zu gestalten und ihm seine Angst vor dem Sterben zu nehmen. So plant er ein Theaterstück, welches das Rudel aufführt: eine Reise zu einer von Alfredo Bomba ersehnten „Insel ohne Angst“. Die verschiedenen Charaktere der Straßenkinder und das Unvermögen einiger, sich zu konzentrieren und Text zu lernen, machen die Proben nicht leicht, aber schließlich kommt es zu einer anrührenden Aufführung, deren Erfolg es ist, dass Alfredo an ihrem Ende lächelnd für immer einschlafen kann. Unmittelbar darauf werden die Kinder jedoch von den Wachleuten des Theaters überrascht, die Einbrecher vermuten. Mit einer Ausnahme fliehen alle: Nelio bewacht den Leichnam Alfredos und wird dabei angeschossen. Neun Tage später wird er seinen Verletzungen erliegen und in einem leichten Erdbeben wird für José Antonio Maria Vaz spürbar, dass sein Geist die Erde verlässt.

José selbst gibt nach dem Tod Nelios sein Leben als Bäcker auf, verlässt seine große Liebe, die Teigmischerin Maria, und die Familie seines Bruders, bei der er gelebt hat, und folgt einer inneren Berufung: Er will fortan als „Chronist der Winde“ leben und sich zur Aufgabe machen, Nelios Geschichte zu erzählen. Gegen alle Widerstände möchte er die Menschen mahnen, sich selbst, ihre Träume und Hoffnungen, die Straßenkinder und die Frage nach einer Zukunft der Welt nicht aus den Augen zu verlieren.

Diese Geschichte ist die Geschichte der Wahlheimat des Autors, Mosambiks. Eine Ex-Kolonie, von Bürgerkriegen zerrissen, von Korruption zerfressen, mit sozialen Problemen belastet und doch lebendig und lebens- und liebenswert.

Auszeichnungen

Der Chronist der Winde wurde 1995 für den August-Preis und den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Im Jahr 1996 wurde das Buch durch den schwedischen Radiosender SR P1 mit dem Sveriges Radios Romanpris ausgezeichnet.

Verfilmung

Eine Verfilmung von Comédia Infantil entstand in Maputo unter Regie von Solveig Nordlund, die deswegen 1998 beim International Film Festival Rotterdam für einen Tiger Awards und 1999 für einen Guldbagge in der Kategorie Beste Regie nominiert wurde.

Literatur

  • Henning Mankell: Der Chronist der Winde. Neuausgabe. Dt. Taschenbuch-Verlag, München 2007, ISBN 978-3-423-21003-4

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