Cretin

Cretin
Klassifikation nach ICD-10
E00 Angeborenes Jodmangelsyndrom
E00.0 Angeborenes Jodmangelsyndrom, neurologischer Typ
E00.1 Angeborenes Jodmangelsyndrom, myxödematöser Typ
E00.2 Angeborenes Jodmangelsyndrom, gemischter Typ
E00.9 Angeborenes Jodmangelsyndrom, nicht näher bezeichnet
E03.0 Angeborene Hypothyreose mit diffuser Struma
E03.1 Angeborene Hypothyreose ohne Struma
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Als Kretinismus (abgeleitet von frz. crétin: Idiot) wird das Vollbild der unbehandelten angeborenen Hypothyreose bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines, Symptome

Die kindliche Schilddrüse produziert zu wenig Thyroxin. Dadurch verlangsamt sich der gesamte Stoffwechsel, Missbildungen des Skeletts (verkürzte Extremitäten, Minderwuchs, Zwergwuchs), Sprachstörungen, Schwerhörigkeit, evtl. Taubheit. Die Kinder haben oft eine dicke Zunge und trockene Haut. Außerdem kann Kretinismus zu einer erhöhten Fettleibigkeit führen, bedingt durch den geringeren Grundumsatz bei Schilddrüsenunterfunktion.

Von besonderer Bedeutung ist die verzögerte geistige Entwicklung. Ursächlich hierfür ist, dass durch den Mangel an Schilddrüsenhormonen sowohl im zentralen, als im peripheren Nervensystem die Ausbildung von Axonen Dendriten, Nervensynapsen und Myelinscheiden verlangsamt ist.[1]

Ursachen

Eine angeborene Hypothyreose, deren Vollbild der Kretinismus ist, tritt statistisch gesehen bei etwa 0,2 ‰ aller Neugeborenen auf.[2][3] Er entsteht durch eine fehlende oder insuffizient angelegte Schilddrüse (Aplasie oder Dysplasie), eine nicht ausreichende Hormonbiosynthese oder -ausschüttung, selten auch durch eine Hormonresistenz aufgrund von T3-Rezeptordefekten. Auch Jodmangel bei der Mutter kann eine angeborene Hypothyreose des Kindes bedingen.[4] Beim Kind ist der Jodmangel weltweit die häufigste vermeidbare Ursache für Retardierung[3][1]. Anm.: Die Schilddrüse benötigt Jod zur Bildung der Schilddrüsenhormone.

Ausgelöst werden kann der Kretinismus aber auch bereits im Mutterleib durch eine Schilddrüsenunterfunktion der Mutter. Produziert die Schilddrüse der Mutter zu wenig oder gar keine Schilddrüsenhormone, besteht die Gefahr von Missbildungen und neurologischen Schäden beim Kind, da in Zeiten des Wachstums die Zellen und Organe besonders stark von den Schilddrüsenhormonen abhängig sind.

Diagnose

(→ Hauptartikel Untersuchung der Schilddrüse)

Da eine frühe Diagnosestellung über den weiteren Verlauf der Erkrankung entscheidet ist ein Hypothyreosescreening gesetzlich vorgeschrieben. Hinweise durch einen erhöhten TSH-Spiegel werden am 2.-5. Lebenstag durch Untersuchung von ein bis zwei Tropfen Blut aus der Ferse gesucht.

Behandlung

(→ Hauptartikel Hypothyreose)

Eine Behandlung sollte so früh wie möglich beginnen und ist lebenslang nötig. Dazu wird Thyroxin unter regelmäßigen Kontrollen des Hormonspiegels im Blut verwendet. Durch zu späten Beginn der Substitutionsbehandlung entstandene Hirnschäden sind irreversibel.

In Jodmangelgebieten kommt der Jodprophylaxe in Schwangerschaft und Kindheit eine besondere Bedeutung zu.

Geschichtliches

Ursprünglich wurde Chrétien (französisch: Christ) insbesondere in der Schweiz als ein beschönigender Ausdruck für geistig Behinderte aber gutmütige Menschen benutzt, um diese nicht ärgern oder sie nicht zum Gebrauch ihrer angeblichen dämonischen Fähigkeiten zu provozieren; aus chrétien wurde im Sprachgebrauch crétin.

Geschichtlich gehen aus dem Interesse einiger Ärzte für den Kretinismus die ersten Gründungen von Anstalten für „blödsinnige“ Kinder hervor. Zu nennen ist hier vor allem die erste international bekannt gewordene "Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder" des Schweizer Arztes Johann Jakob Guggenbühl[5][6] auf dem Abendberg bei Interlaken, die allgemeines Interesse in der damaligen Fachwelt erregte. Es folgten weitere Anstaltsgründungen im alpinen und süddeutschen Raum (v.a. in Württemberg). Das Vorkommen des Kretinismus wurde von den Fachvertretern besonders stark in den Alpentälern beobachtet, während das Leiden in der Höhenluft nicht mehr zu existieren schien.

Guggenbühl beschreibt die regionalen klimatischen Bedingungen und die schlechten Hygiene-Zustände in den Dörfern als Ursachen für den Kretinismus:[5]

„Kein frisches Lüftchen durchstreicht die Gemächer, der gräßlichste Gestank ist den Leuten ein wahrer Lebensbalsam; kein Sonnenstrahl kann sie erleuchten, da die ohnedies kleinen Fenster vor Schmutz ganz undurchsichtig und obendrein meist mit Papier verklebt sind. Die Stuben sind so feucht, das Cryptogamen an den Wänden gedeihn, dazu mit unsaubern Kleidern und was sonst noch stinkt behangen, so dass ein Gifthauch den Raum erfüllt, der mich [...] mehrfach zum Erbrechen reizte. [...] Nach der Geburt werden die Kinder in die Wiege eingebunden, bleiben Tage lang auf ihrem Unflath liegen; in eine Kammer eingeschlossen, ganz isoliert und sich selbst überlassen, bis die Arbeit vollbracht ist.“

Später allerdings bezeichnet Guggenbühl mit dem Begriff des Kretinismus sämtliche Formen von geistiger Behinderung. Er geht überdies noch von einer möglichen Heilung des Kretinismus durch Höhenluft, Reinlichkeit, Diät, medizinische Behandlung aber auch die richtige Erziehung aus.

Julius Wagner-Jauregg (1857-1940) führte grundlegende Studien über den Kretinismus durch und behandelte ihn mittels Schilddrüsenextrakten. [7][8]

Quellen

  1. a b Barg A.: Fälle Physiologie, 2006, Elsevier GmbH, S.91; ISBN 3437412817
  2. Uniklink Saarland: Schilddrüsenerkrankungen im Kindesalter; zuletzte eingesehen am 12. Feb. 2008
  3. a b Gerd Herold: Innere Medizin, 2007
  4. Middendorf K.: Geburtshilfe Basics, S. 79-82, Springer Berlin Heidelberg, 2006; zuletzt eingesehen am 12. Feb. 2008
  5. a b Johann Jakob Guggenbühl: Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus. In: Maltens Bibliothek der neuesten Weltkunde. Band 1, S.191 ff., Aarau, 1840 (online)
  6. Siehe Inghwio aus der Schmitten: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung, Verlag Umbruch, Werkstatt für Gesellschafts- und Psychoanalyse, Salzburg 1985
  7. Julius Wagner-Jauregg, Internetseite des Institutes für Geschichte der Medizin der Universität Wien; zuletzt eingesehen am 27.April 2008
  8. Werner E., e.a.: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 1463, Walter de Gruyter, 2004, ISBN 3110157144
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