Actio in distans

Actio in distans

Die Actio in distans (lat. actio = Handlung; distans, Part. I zu distare = entfernt sein, übersetzt als: Wirkung in die Ferne, Wirkung aus der Ferne, Wirkung durch die Ferne) ist der philosophische Fachbegriff für die Fernwirkung. Der Begriff berührt im Kern verschiedene wissenschaftliche Disziplinen: theoretische Physik, philosophische Metaphysik, religiöse Magie, christliche Theologie, alternative Medizin, Psychologie und Quantenmechanik. Das Problem der Actio in distans ist eine Folge der Kausalität. Die Beobachtung, dass Ursachen auch ohne direkte Berührung oder ohne ein vermittelndes Medium wirken, wirft die Frage auf, wie die Distanz zwischen Auslöser und Wirkungsobjekt überbrückt werden kann.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft

Actio in distans (AID) war, nicht als Begriff, aber als Phänomen schon in frühen Kulturstufen eine Lösung für unerklärliche Erfahrungen wie z. B. Übertragung von Krankheiten im menschlichen Bereich oder den Einfluss des Mondes auf Ebbe und Flut im kosmischen Bereich. Vorwissenschaftlich waren Götter die bewegende Kraft, die, auch indirekt, in die Ferne wirken konnten. Die Weltsicht der Magie ist ein komplexes System von Fernwirkungen. Götter und Geister agieren aus der unsichtbaren Distanz, im analogen Zauber kann der Schamane heilen oder schaden, wenn er bestimmte Handlungsweisen exakt ausführt. Unmittelbar wirkt dann der Schaden auf den entfernten Feind, dessen stellvertretenden Fetisch man nagelt (Voodoo).

Das Problem in der Antike

Vorphilosophisch

Der archaischen Vorstellung nach greifen die olympischen Götter ständig in das Geschick der Menschen ein. In der Odyssee (8. Jh. v. Chr.) geschieht dies unvermittelt, wenn Odysseus gewaltsam davon abgehalten wird, heimzukehren oder seine Listen und seinen Heldenmut direkt durch göttliches Wirken empfängt. Doch bereits bei Hesiod (vor 700 v. Chr.) entschärft sich die Lage: Das Schicksal der Menschen wird nicht mehr aus dem fernen Olymp gelenkt, sondern mit Öffnen der Büchse der Pandora ist die Welt voller Dämonen, die selbständig (automatoi) in den Dingen wirken. In der attischen Tragödie ist die Fernwirkung der Götter bereits fast vollständig verschwunden; der tragische Held übernimmt Verantwortung für seine freien Entscheidungen.

Die Vorsokratiker und Platon

Actio in distans als erklärtes Problem entstand erst durch die ersten Versuche einer einheitlichen Welterklärung. Die Bemühung der Vorsokratiker, Stoff und Kraft der natürlichen Entstehung zu finden, enthält bereits den Kern der Problematik der AID. Magnete z. B. wirken in die Ferne. Das Problem des Magnetismus, das über die arabische Aristoteles-Rezeption bis zum Höhepunkt bei Descartes wirkt, kann für Thales (624-546 v. Chr.) nur erklärt werden, weil etwas, das über sich selbst hinaus wirkt, lebendig sein muss; der Magnet wirkt gewissermaßen aus eigener Kraft auf das entfernte Eisen - im Gegensatz zum normalen Stein. Im Hintergrund steht die Auffassung, die Seele sei Prinzip der Lebendigkeit, da Thales, so berichtet Aristoteles[1], davon ausgeht, dass die Welt voller Götter ist und Magnete eine Seele haben. Die Vorstellung, dass Natur lebendig, geordnet und voller wirksamer Kräfte sei, hält sich bis Platon (427-347 v. Chr.). Platon dagegen beschränkt Kausalität auf die materielle, weil bewegliche (werdende) Welt. Die (seiende) Welt der Ideen ist unbeweglich und stiftet qua Partizipation der Dinge an ihren Ideen die kosmologische Ordnung. Die Wirkung der Weltseele (Timaios) ist also eine in den Dingen wirkende, da z. B. die Himmelskörper direkt an der Idee der Ordnung teilhaben. Fernwirkung ist demnach bei Platon nichts anderes ist als Streben (orexis, hormê, zetein), eine Selbstbewegung der Dinge. Das gilt auch für die sexuelle Attraktion, eine Art Seelen-Magnetismus. Der Liebende[2] ist nicht mehr wie z. B. bei Ibykos[3] oder Sophokles [4] den Reizen und der Anziehungskraft des zarten Knaben passiv ausgeliefert, sondern ist selbst Ursache und Vektor seiner Wirkung, da er durch eigenen Mangel das Schöne erstrebt. Den Eros, die eigentliche Fernwirkung, bestimmt Platon also als bloß dämonischen Mittler zwischen Menschen und Göttern. Die Kraft, die eine Wirkung in die Ferne verursacht, steckt nach Platon als Teil der Weltseele in den Dingen selbst: eine Antwort, die später, bei Newton, als Frage nach dem Ort der Gravitations-Kraft wieder auftaucht.

Aristoteles’ ‚Physik’

Aristoteles (384-322 v. Chr.) formuliert als Prinzip wissenschaftlichen Denkens das bis heute gültige Gesetz der Kausalität, das alle Ereignisse als Wirkung einer Ursache bestimmt. Das siebte Buch der ‚Physik’ beginnt folgendermaßen: „Alles was sich bewegt, muss von etwas bewegt werden.“ Hierin liegt bereits der Bruch mit Platon, da für Aristoteles Selbstbewegung nicht möglich ist. Scheinbare Selbstbewegung eines Dinges ist eigentlich die Bewegung eines Teils auf einen anderen. Die Annahme eines übertragenden Medium ist somit unsinnig, da die Ursache nicht absoluter Ausgang einer Wirkung ist, sondern selbst auch verursacht ist. Aristoteles berühmtes Beispiel des Steinwurfes meint, dass Ursache für das Fliegen des Steins, nachdem er die Hand verlassen hat, Luftverwirbelungen sind, die weiter wirken. Ein System von Ursache-Wirkung-Verkettungen ist die Antwort auf Reste einer anzunehmenden Fernwirkung, die für den ‚Naturwissenschaftlicher’ Aristoteles nicht sein darf.

Christliche Theologie

Selbst eine religiöse Weltsicht integriert das Problem der Kausalität, wenn z. B. historische Ereignisse als Einwirkung des Gottes gedeutet werden (z. B. Exodus). Auch in diesem Denksystem kann es zu einer Krise der Actio in distans kommen, wenn man an der Fernwirkung Gottes zweifelt (z. B. Hiob). Zwar wirkt im Alten Testament Gott auf das Geschehen der Menschen, doch nicht direkt, sondern aus der Ferne z. B. über das Medium des Propheten als Vormund. Gottes Werkzeuge sind dabei die Propheten durch Wort, körperliche Berührung, selten durch rationale Mittel.[5] Aber auch Plagen und Wunder müssen als vermittelte AID Gottes gedeutet werden. So kann die Entstehung des Christentums als Antwort auf die Krise der AID im Judentum gedeutet werden, da Gott seine Position als Fernwirker aufgibt, in der Gestalt seines „Sohnes“ Jesus Christus auf die Welt kommt und durch direkte Berührung wirkt, wie in den Heilungsgeschichten des Neuen Testaments dokumentiert. Diese Deutung ist vor allem durch Augustinus (354-430) vertreten, der im neunten Buch von De civitate dei das christliche Gegenmodell zur platonischen Dämonologie vorstellt. Augustin sieht in Christus, nicht in den Engeln, den einzigen und wahren Mittler (mediator[6]) zwischen Gott und seiner Schöpfung. Dadurch dass Christus freiwillig die Sterblichkeit gewählt hat, um unsterblich zu werden, ist er auf Augenhöhe mit der Schöpfung und wirkt direkt. Christus ist also auch eine Lösung auch die offenbar als bedrohlich magisch, jedenfalls nicht gewollte Annahme einer Actio in distans.

Begriffsfindung in der Scholastik

Mit der ersten lateinischen Übersetzung der aristotelischen ‚Physik’ (translatio vetus) um 1150 und der Rezeption des Kommentars des arabischen Philosophen Averroes (1126-1198), der fortan das Mittelalter hindurch als Hauptexeget der ‚Physik’ gelesen wird, ist der Startschuss für eine philosophische Diskussion über die Fernwirkung gegeben. Klassisch sind hier die Fälle der Magnetenbewegung, die Sinneswahrnehmung (nach mittelalterlicher Vorstellung verursachen die wahrnehmbaren Dinge physisch die Sinne), Gravitation und die Erderwärmung durch die Sonne. Gedanklich kommt die Scholastik nicht weiter als die Antike. Dass es Fernwirkung gibt, scheint unbestritten, da sie aber nicht sein darf, nutzt man die zeitgenössische Physik und Theologie, um sie wegzuerklären. Allerdings sorgt die Scholastik für den bis heute gültigen Begriff Actio in distans, verstrickt sich aber zunehmend in selbst erzeugte Widersprüche. An der nicht gelösten Frage einer Fernwirkung zerbricht die Welt des Mittelalters.

Avicenna, Averroes und Albertus Magnus

Der erste, der AID in Erwägung zieht, ist Avicenna (980-1037). Er nimmt eine Anziehungskraft an, die Ähnliches mit Ähnlichem verbindet. Dafür zeichnet Avicenna ein mutiges Gedankenexperiment: Körper fallen nicht auf die Erde, sondern zum Mittelpunkt des Universums (das aktuell für Aristoteles und Avicenna die Erde ist); doch nach welcher Ordnung würden die Körper im Zentrum liegen bleiben? Avicenna nimmt dafür an, dass die Körper sich ihrer Größe gemäß anziehen. In seinem Kommentar zur aristotelischen Astronomie De caelo et mundo bemerkt er die Fähigkeit der Sonne, instantan (sofort, augenblicklich) und ohne Medium auf der Erde zu wirken, indem sie Körper erwärmt.

Das Problem der AID wird auch von Averroes erkannt, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Anziehung (attractio), die Aristoteles dem Holz in Bezug auf Feuer zuschreibt (ein Passus, den Simplikios im 6. Jahrhundert n. Chr. noch kannte, der in der lateinischen Übersetzung der Physik aber fehlt), ein missverständlicher Ausdruck ist, da ein Teil im Angezogenen aus sich heraus (ex se) wirkt und nicht das, was die Attraktion ausübt. Die Erklärung der magnetischen Attraktion besteht nach Averroes (und darin folgen bis ins 17. Jahrhundert die meisten Physiker) durch eine über die Luft vermittelte qualitative Veränderung im Eisen, das dann ex se auf den Magneten zukommt. Gravitation erklärt Averroes nicht durch die Form bzw. durch die Zweckursache, sondern durch ein Medium, das wie ein Schiff einen Seefahrer mitbewegt (sicut de homine cum nave). Ein fallender Stein fällt, weil die Form seiner Schwere (forma gravis) nicht direkt wirkt, sondern die Luft ringsum veranlasst, ihn nach unten zu bewegen. Hierin folgt ihm später kaum einer.

Albertus Magnus (1200-1280), der einen der ersten lateinischen Kommentare zur ‚Physik’ verfasst hat und damit in der Texttradition eine strategisch wichtige Position einnimmt, folgt im Wesentlichen Averroes. Doch zum Beispiel erklärt Albertus die Magnetenbewegung nicht wie Averroes durch eine Veränderung im Eisen, sondern über die Ähnlichkeit der Form von Magnet und Eisen (magnes movetur ad ferrum propter similitudinem formae).

Das Wunder der Eucharistie: Thomas von Aquin

Theologisch interessant wird das Problem mit Thomas von Aquin (1225-1274), der auch die Formulierung „agere in distans“ etablierte.[7] Thomas geht vom aristotelischen Prinzip aus, dass alles, was bewegt wird, von etwas bewegt wird (omne autem corpus non movet nisi motum), leitet daraus aber ab, dass deshalb kein Körper etwas erschaffen kann. Gott, dessen Vermögen unendlich ist („Ein Wirkendes [agens] ist nämlich von umso größerer Potenz, je weiter die Potenz, die es in den Akt überführen kann, vom Akt entfernt [distans] ist“), ist deshalb die einzige Macht, die erschaffen kann. Thomas liest die aristotelische Mechanik konkordant zum katholischen Glauben, indem er davon ausgeht, dass Gott keine physikalische Größe ist. Nun gilt aber, dass Gott in allen Dingen ist. Thomas löst das Problem, dass Gott gleichzeitig über und in den Dingen sein muss, ontologisch: Gott ist in den Dingen nicht als eine ihrer Eigenschaften, sondern als Wirkung (sicut agens adest ei in quod agit), da Wirkendes und Wirkung gleichzeitig und unvermittelt sind. Seine Wirkung besteht darin, dass er die Dinge erschaffen hat und sie am Sein erhält (in esse conservantur), da Gott durch sein Wesen das Sein selbst ist (Deus est esse per suam essentiam). Gott ist daher für Thomas die einzige Ursache, die ohne jedes Medium in den Dingen wirkt, da alles andere immer über ein Medium in die Ferne wirkt. Nur so kann Thomas das Wunder der Eucharistie –der mittelalterliche Höhepunkt der Actio in distans – erklären, da dort die vollständige Anwesenheit Christi in den Sakramenten Brot und Wein postuliert ist (Transsubstantiation). Zwar ist der Leib Christi nicht örtlich im Brot, sondern ersetzt die Substanz des Brotes. Es ist also nicht so, dass Christus anstatt im Himmel im Brot ist, sondern dass er in beiden wesenhaft ist, aber nicht örtlich (quantitas dimensiva corporis Christi non est in hoc sacramento), da nichts an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Wer das Brot zum Beispiel zerbröselt, zerbröselt nicht Christus im Himmel, wer es aber teilt und isst, in dem wirkt Christus in jedem Teil.

Bedenken: Duns Scotus und Wilhelm von Ockham

Die erste metaphysische Argumentation für eine ‚actio in distans’ führt Duns Scotus (1266-1308).[8] Scouts argumentiert gegen Thomas, der von einer unmittelbaren Potenz Gottes durch sein Wesen ausging (ubi [Deus] est secundum potentiam ibi immediate est, si aliquid debet causare), indem er auf ein logisches Problem hinweist: Wenn Gott wegen seiner unendlichen Potenz unendlich in die Ferne wirken kann, folgt daraus, dass Gott immer dort ist, wo er wirkt (esset ibi ubi agit), also immer direkt auf sich selbst wirkt und nicht aus der Entfernung. Wenn man also davon ausgeht, dass Gott unendliche Macht hat, kann man nicht sagen, dass er in Dingen durch sein Wesen wirke, weil dann würde er nur auf sich selbst wirken und nicht auf etwas Entferntes. Weil Gott Ursache aller wirkenden Kräfte und überall anwesend ist, kann Duns Scotus sogar die zuletzt übrig gebliebene Enklave der AID, Gott selbst, wegtheologisieren.

Wilhelm von Ockham (1285–1349) diskutiert AID an einigen Stellen seines umfangreichen Werks. Obwohl Ockham vier umfangreiche Physikkommentare verfasste, äußert er sich zur Fernwirkung ausschließlich in seinem Sentenzenkommentar[9], also in theologischem Kontext. Ockham nimmt direkte Fernwirkung an, z. B. wenn die Sonne den Boden erwärmt, kann die Luft kalt bleiben. Oder würde der Magnet medial auf das Eisen wirken, dann müsste mit Zerstören des Magneten die Wirkung noch kurzzeitig anhalten. Es ist nach Ockham nicht nötig, dass Ursache und Wirkung Kontakt haben, nicht einmal dass beide gleichzeitig sind. Der geschossene Ball fliegt auch dann noch, wenn der Spieler längst verschwunden wäre. Dass der Ball weiterfliegt, ist also kein neuer Effekt und braucht daher auch nicht ständig einen Beweger. So, sagt Ockham, kann schließlich auch ein Engel über weite Entfernung auf einen anderen wirken, ohne auf ein Medium zu wirken. Ockhams Kritik an den gebotenen nur scheinbaren Lösungen der Frage nach der Fernwirkung zwingt ihn daher dazu, AID anzunehmen. Damit entlarvt er die Ablehnung der AID im Mittelalter als nicht schlüssig und tragbar.

Der physikalische Begriff

Isaac Newton

Der wichtigste Einschnitt in der Geschichte der Actio in distans ist durch Isaac Newton markiert, einer der Leitfiguren moderner Naturwissenschaft, die sich auch als Konkurrenz zur vorherrschenden religiösen Welterklärung etablierte. Bis Newton bestand ausgehend mittelalterlicher Theorie die Tendenz, AID abzulehnen und als nur scheinbare auszumachen, denn die Wirkung zweier voneinander entfernter Körper ist durch den zwischen ihnen gefüllten Raum (Äther) vermittelt. Nur Gott vermag sich über Naturgesetze hinwegzusetzen und in verwandelter Gestalt gleichzeitig an mehreren Orten zu wirken. Das glaubte irgendwann kein Mensch mehr.

Newton stellt die kosmologische Wirkung auf eine mathematische Grundlage, führt so aber gleichzeitig die AID wieder ein. Seine Formel für die Gravitation beschreibt das Verhältnis von Körper-Masse und gegenseitiger Anziehung. Gravitation ist nun das universelle Prinzip, eine theory of everything (TOE), die die Beziehung aller Körper im Kosmos, von der umfallenden Milchtüte bis zur Milchstraße, in einer Formel erfasst. Aber Newton selbst gibt zu, dass Gravitation nur ein Wort ist, das beschreibt, aber nichts erklärt: „I use that Word here to signifiy only any Force by which Bodies tend towards one another whatsover be the Cause“ [10] und an anderer Stelle: „sed causam gravitatis nondum assignavi“ (aber ich habe nirgends die Ursache der Gravitation angegeben[11]). Newton weiß einfach nicht, ob die Gravitation mechanisch funktioniert oder auf ausgeschickte Geister (spiritus emissos) zurückzuführen ist, es ist ihm egal. Hauptsache, die mathematische Formel funktioniert.

Indem Aristoteles die Kausalität erfindet, um die AID den Göttern zu entreißen, und das Problem der Fernwirkung erst als solche definiert, so verschärft die Gravitation, die gegen eine kirchliche Welterklärung antrat, alte Fragen um die Actio in distans. Wie ist es möglich, dass Körper aufeinander wirken, indem sie sich anziehen, Attraktion ausüben? Ist dieses Bewegungsprinzip Teil der Materie oder ist es eine Kraft, die hinzukommt. Geschieht die Vermittlung der Kraft über ein raumfüllendes Medium oder ist es echte AID?

Quantentheorie

Die klassische Physik bis 1900 versuchte die mit Newton zwar zu errechnende, aber nicht erklärte Kraft der Gravitation in Agrar-Metaphorik aufzulösen: Attraktion werde über ein „Feld“ vermittelt. Die Unterscheidung von Feld und Materie löst die Quantentheorie (Max Planck) auf. Nach 1900 verschränken sich Materie und Feld. Felder bestehen nun aus Feldteilchen, Teilchen heißen jetzt Teilchenfelder, das wirkende Medium der Gravitation besteht aus Gravitoren. Auch die nachgewiesenen Gravitationswellen packen ein Wellenpaket verschiedener Teilchenzustände. Dieses Konstrukt, die Fernwirkung der Gravitation zu erklären, hat einen Blinden Fleck, das sogenannte EPR-Paradoxon oder der EPR-Effekt. Es gibt verschränkte Photonenpaare, sozusagen Zwillingsteilchen, die sich absolut identisch verhalten, auch wenn eine räumliche Distanz zwischen ihnen herrscht. Sie agieren wie zwei Würfel, die immer dieselbe Augenzahl erwürfeln. Ergebnisse der Quantenmechanik widersprechen hier der Heisenbergschen Unschärferelation. Einstein benennt diesen kleinen Haken an seiner umfassenden Welttheorie als „spukhafte Fernwirkung“. So einfach geht es allerdings nicht. Was zunächst nur ein Gedankenexperiment war, konnte bis heute experimentell nachgewiesen werden, ein jüngstes Experiment zeigt eine spukhafte Fernwirkung zwischen LaPalma und Teneriffa. Eine quantenmechanische Verschränkung konnte über eine Distanz von 144 km nachgewiesen werden.[12] Verschränkte Photonenpaare sind ein eindrucksvolles Beispiel für eine instantane Actio in distans, die damit eine Physik eingeholt hat, die angetreten war, eine Actio in distans aus der rationalen Welt zu verbannen. Und es geht mittlerweile nicht mehr nur um Photonen, also Licht, sondern auch um verschränkte Materieteilchen. Rainer Blatt von der Universität Innsbruck gelang AID mit einem Kalziumion.[13]

Actio in distans in der neuzeitlichen Philosophie

Leibniz: Kritik an Newton

Newton begründet die moderne Physik, rief aber zunächst auch zahlreiche Kritiker auf den Plan, Gottfried Wilhelm Leibniz ist einer der prominentesten. Hauptkritikpunkt Leibniz’ ist Newtons faktische Wiedereinführung der AID („allein sie [die Fernwirkung] wird in England durch den ausgezeichneten Herrn Newton rehabilitiert“[14]). Leibniz argumentiert – dem Kontext entsprechend – theologisch. Der Erfolg und die Wahrheit der Reformation, so der protestantische Leibniz, erklärt sich darin, dass selbst das Kernstück christlichen Glaubens, die Eucharistie, ohne die Actio in distans der Transsubstantiation auskomme. „Eine richtig verstandene Analogie zwischen unmittelbarer Wirkung und Gegenwart“ Gottes im Abendmahl geschehe im „wahrhaften Glauben“ primär und erst sekundär durch die „Aufnahme der Symbole“.[15] Göttliche AID wird in der Reformation nicht nur wie in der Scholastik als scheinbare abgelehnt, sondern als symbolische umgedeutet. Damit unterstellt Leibniz Newton, dass er mit der faktischen Actio in distans der Gravitation in vorreformatorische Zeiten eines als magisch denunzierten Katholizismus, in die „sonderbaren Ansichten einiger Scholastiker“[15] zurückfällt. Obwohl sich die newtonsche Physik durchsetzt, kann der Verdacht, dass Gravitation nur ein anderes Wort für Actio in distans sei, nicht ausgeräumt werden.

Immanuel Kant

Auch Immanuel Kant nimmt eine ambivalente Haltung zur Gravitationslehre Newtons und damit zur Frage nach der Actio in distans ein. Leibniz ähnlich möchte Kant mit allen Mitteln die Annahme von AID verhindern, muss aber im Laufe seiner eigenen Überlegungen eingestehen, dass mehr Argumente für als gegen die Actio in distans sprechen. Immanuel Kant setzte sich ebenso wie Newton mit dem Wirken von Materie im Raum auseinander. Newton formuliert in diesem Zusammenhang das Prinzip der Kausalität, das auf Ursache und Wirkung beruht bzw. "actio = reactio" beschreibt. Diesem Prinzip lassen sich seine drei Axiome zuordnen, die alle im eigentlichen Sinn dieses bestätigen, und die Reaktion eines Körpers, auf den gewirkt wird, beschreiben. Dabei geht er von eigenständig von außen wirkenden Kräften aus, die z. B. den Zustand eines Körpers verändern können (Trägheitssatz) und von einer Wechselwirkung zwischen zwei Körpern, bei denen das o. g. Gesetz von "actio" und "reactio" wirkt. Es besagt genau: " Übt der Körper A auf den Körper B die Kraft FA aus, so reagiert B auf das Wirken von A mit der entgegensetzenden Kraft FB= FA. " Eben auf diese Wechselwirkung zwischen zwei Körpern geht auch Kant 1786 ein. Allerdings spricht er von Materie und nicht vom Körper, da er eben die Materie als etwas Reales, Eigenschaft-behaftetes im Raum sieht, dessen physisches Wesen einer Begründung bedarf und diese nötig hat und nicht wie bei Newton bereits in der Bezeichnung impliziert wird. Daher ist auch die "Undurchdringlichkeit" für ihn die Grundeigenschaft von Materie, durch die diese eben auch erst ihre Realität und Bemerkbarkeit erhält. Begründet wird dies von ihm durch Abstoßungs- und Anziehungskraft, die durch die Existenz der Materie begründet sind und damit ihr Wesen beschreiben. Die Repulsions- bzw. Ausdehnungskraft der Materie würde sich, wenn sie nicht durch die Anziehung gebremst würde, in die Unendlichkeit ausdehnen und könnte somit nicht im Raum existieren, dessen "Leere" dadurch hervorgerufen würde. Demzufolge ist eine entgegenwirkende Kraft vonnöten. Hierbei geht Kant nicht von äußeren Kräften oder Grenzen aus, sondern wie o. g. von der Anziehungskraft, die der Ausdehnung entgegenwirkt. Schlussfolgernd kann diese natürlich auch nicht alleine existieren. Sie würde die Materie sonst so lange zueinander bewegen, die diese sich im unendlich Kleinen verlieren würde und somit ebenfalls ein leerer Raum vorhanden wäre. Auch wenn Kant nicht von grundsätzlichen Grenzen bzw. Gesetzen im Raum ausgeht, da die grundlegenden Kräfte das Wesen der Materie beschreiben, sind Grenzen für ihn doch ein Bestandteil des Wirkens von Materie. Das grundlegende Element einer solchen Grenze ist für ihn immer die Wechselwirkung zweier Materien, so entsteht die so genannte "gemeinschaftliche Grenzen". Hier tritt wieder das Prinzip der "Undurchdringlichkeit" hervor, welche bewirkt, dass die Grenze zwar existent ist, aber weder Raum noch Masse anhaftet. Sie ist also in diesem Fall als etwas Eigenständiges zu betrachten. Ebenso spielen Repulsions und Anziehungskraft wieder eine Rolle. Während die Anziehungskraft einen solchen "Berührpunkt" erst möglich macht, da sie die Verbindung schafft, ist es die Repulsion, die ihn beschreibt, da sie dem Übergang zweier Materien entgegenwirkt und die Grenze festigt. Diese Anziehungskraft zwischen zwei Materien wirkt auch, wenn diese im größeren Abstand zueinander stehen im leeren Raum. Kant entwickelt in diesem Zusammenhang die Theorie von Actio in distans, in der er auch noch mal auf das Wesen der Anziehung selbst eingeht. Denn diese ist nicht nur "reactio" auf die repellierenden Kräfte, sondern wirkt auch eigenständig auf die Umgebung und auf andere durch den leeren Raum. Sie schafft also einen "Zwischenraum" zwischen den Inhalten des Raumes, der daher nichts anderes ist als das Medium für die Existenz von Materie. „Weil die ursprüngliche Anziehungskraft zum Wesen der Materie gehört, so kommt sie auch jedem Teil derselben zu, nämlich unmittelbar auch in die Ferne zu wirken“[16] Somit umfasst Kants Theorie zwar die gleichen Prinzipien wie Newtons, doch legt er diese anders aus und geht vom subjektiv Wahrnehmbaren und Erfahrbaren aus.

Die leibliche Basis der Metaphysik Kants

Nach Kant sind zwei komplementäre Kräfte notwendig, damit die Verbindung der Elemente erhalten bleibt, Attraktion und Repulsion. Er hält es für unlogisch, wie Newton nur von einer Anziehungskraft auszugehen, weil dann irgendwann alles in einem Punkt zusammenfiele. Da aber Körper sich durch ihre Undurchdringlichkeit definieren, ist Repulsion also eine Mechanismus zur Aufrechterhaltung der Körpergrenzen, ja der Selbstbehauptung der Körpers bei Einwirkung von außen. Aus der lebensweltlichen Erfahrung bei Berührung, Druck oder Stoß, wobei der Widerstand des Körpers gegen Druck wächst, generalisiert Kant diese Repulsion zur Grundkraft der impenetrabilitas, der Undurchdringlichkeit. Dies begründet Kant nur mit dem physikalischem Begriff und der Erfahrung der Elastizität. Nur würde diese Kraft alleine zu einer Materiezerstreuung kommen, wenn sie nicht im Zusammenspiel mit der Attraktion wirken würde. Die Körpergrenze wird dann durch ein Kräftegleichgewicht definiert, und Kant nennt dies das „Gefüge der Körper“. Es ist deutlich, dass mit dieser Auslegung die Grenze zwischen der Physik der Körper und der Philosophie des Leibes überschritten ist, d. h. „Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ (1786) sind leiblich fundiert. Der dynamischer Verband von Repulsion und Attraktion in der Körpererfahrung wird von Kant auf die Körperwelt und das Universum projiziert. Auf diese Weise geht der gespürte eigene Leib in die philosophische Grundlegung der Physik ein. Den Konflikt real entgegengesetzter Kräfte demonstriert Kant an physischen Phänomenen wie Wärme und Kälte, Plus- und Minuspol im Magnetismus und Elektrizität. Doch überschreitet er die Sphäre materialer Körper und sucht Vergleichbares in der intellektuellen, psychischen und moralischen Sphäre. z. B. Lust und Unlust, Liebe und Hass, Schönheit und Hässlichkeit, Tugend und Lasten. Dies sind alles polare Kräfte wie Repulsion und Attraktion, weil das eine nicht aufgehoben werden kann durch seine logische Negation, sondern nur durch die „Realentgegensetzung“ der wirkenden Kraft eines polaren anderen. Spekulativ setzt Kant einen Parallelismus zwischen materialen und geistigen Naturen. Begierde etwa, Lachen oder Gram wegzukommen, ist Tätigkeit, Anstrengung, Überwindung in genau der Weise, wie ein Leib arbeitend sich gegen die drückende Last stemmt. Zu Beispiel bildet Kant die Charaktere weiblicher Schönheit und männlicher Erhabenheit deutlich dem Schema von Repulsion und Attraktion nach. Der psychosoziale Charakter des Mannes liege in der vis impenetrabilitas und der repulsiv gepanzerten Abgrenzung gegen (bedrohlich weibliche) Attraktivkraft, der Charakter der Frau dagegen in der verschlingenden Penetrabilität ihrer Attraktion. Das Schöne zeigt seine Gewalt und geheime Zauberkraft in der verlockenden erotischen Anziehung der weiblichen Körpers, das männlich Erhabene in der widerstehenden Kraft moralisch abgegrenzter Selbstbehauptung des männlichen Körpers.[17]

Georg Friedrich Wilhelm Hegel

Hegel sieht, dass die bisherigen Versuche, die Frage nach der Actio in distans zu beantworten, scheitern, weil sie sich in Widersprüche verstricken. Gemäß seiner dialektischen Philosophie löst Hegel die Widersprüche der AID nicht auf, sondern erklärt sie zu ihrer Struktur. Echte oder scheinbare Berührung von Körpern, die Wirkung von Massen aufeinander stehen vor dem Widerspruch, dass der Berührungspunkt Körpergrenzen auflöst, die diese Berührung erst ermöglichen. Attraktive Wirkung führt zu dem Paradoxon im Denken von Körpern: „Ihr Fürsichsein ist nicht Fürsichsein ... zwei sind in Einem, und indem sie in Einem sind, sind sie auch nicht in Einem.“[18] Hegel nimmt auch Newtons Rede von einer allgemeinen Gravitation ernst. Wenn Attraktion, die gegenseitige Wirkung von Körpern, universales Gesetz ist, gilt es nicht nur für Planeten und fallende Äpfel, sondern für schlichtweg alle Prozesse und Bewegungen der Welt. Mit Hegel beginnt die Übertragung dieses physikalischen Gesetzes auf kulturelle, soziale, psychische Erscheinungen, ohne dass dabei das Problem der AID geklärt würde. Im Gegenteil: Es verschärft sich, da Actio in distans Verhältnisse jenseits der Physik viel nachvollziehbarer erklärt. Beispielsweise deklariert Hegel die Harmonie in der Musik als Actio in distans. Harmonischer Klang braucht eine bestimmte Menge von Einzelnoten, lässt sich aber nicht quantitativ erklären und auch nicht durch das Verhältnis abfolgender Töne. Harmonie entsteht als „eine überraschende Übereinstimmung“, eine Beziehung durch „Rückkehr“ zu längst verklungenen Tönen.[19] Harmonie ist kein „Quantum“ auf einer „Skala“, sondern ein qualitativer Sprung durch „eine actio in distans, als einer Beziehung zu einem Entfernten“.[15]

Arthur Schopenhauer

Schopenhauer stellt alle bisherigen Theorien zur Erklärung der Actio in distans auf den Kopf. Für ihn gibt es echte und instantane AID, jedoch nicht in der physikalischen Welt, sondern in der Welt des Geistes. Ursache und Kraft dieser Wirkung ist der Wille. Schopenhauer argumentiert pfiffig. Er führt Kants Einsicht konsequent zu Ende, dass Raum und Zeit keine Bestandteile der objektiven Welt seien, sondern Bedingungen der subjektiven Erkenntnis. Schopenhauer antizipiert den modernen, neurobiologisch fundierten Konstruktivismus. Er versteht Kant so, dass die „Welt ein bloßes Gehirnphänomen“ sei.[20] Damit rehabilitiert er die Magie und das „Geistersehen“ sowie den animalischen Magnetismus. Hier zeige sich wahre AID, weil „ein unmittelbares Wirken des WILLENS auf andere und in die Ferne“ auftrete. Gravitation sei dagegen nicht „der wahre der Begriff der actio in distans“, da die Wirkung in der Entfernung abnimmt. Folglich spielt die Debatte um ein vermittelndes Medium für den wahren, den geistigen Begriff der Actio in distans keine Rolle. Ob der Raum „voll oder leer“ ist, habe „durchaus keinen Einfluss auf die Wirkung“. Neben seinem Vorgriff auf die Erkenntnisse der Hirnforschung bietet Schopenhauer das theoretische Fundament für die Erfindung des Fernsehens. Denn nur wenn der Wille wirkt, weil Raum und Zeit subjektive Kategorien sind, ist „überhaupt alles Fernsehn“ kein „schlechthin unbegreifliches Wunder“ mehr und damit technisch realisierbar.

Friedrich Nietzsche

Friedrich Nietzsche kritisiert die traditionelle Auffassung von Kausalität und ihrem Zusammenhang mit der Actio in distans. Zunächst präzisiert Nietzsche den Begriff des „Willens“, der bereits bei Schopenhauer auftaucht. Nietzsche definiert diesen Willen klarer als „Willen zur Macht“, welcher jedem Menschen inne sei. Vor diesem Hintergrund nehmen wir nach Nietzsche unseren Willen oder unsere Lust stets als die Ursache für ein Geschehen an, wir projizieren dieses Gefühl als „zureichenden Grund“[21] darauf. Des Weiteren sei für jeden das Ziel nicht die bloße Konstanz der vermeintlichen Macht durch den eigenen Willen, sondern die „Akkumulation der Kraft“. Dieser psychologisch begründeten Deutung von Ursache und Wirkung setzt Nietzsche die These entgegen, Kausalität sei immer nur etwas Fiktives, vom Menschen Eingebildetes. Der Wille als Ursache sei lediglich eine „Interpretation mit Hilfe psychischer Fiktion“, er werde so also als Ursache „missverstanden“ bzw. umgedeutet. Aus dieser Behauptung ergibt sich die Frage danach, woher das menschliche Denkschema der Kausalität zwischen Ursache und Wirkung überhaupt kommt. Nietzsche bietet als Antwort hierauf zunächst die Sehnsucht nach Bekanntem, die er jedem zuschreibt, spricht aber auch von der Kausalität als syntaktischem Problem. So liege dieses Prinzip auch in der Sprache begründet, in welcher die Grammatik zu jedem Prädikat, zu jedem Tun also, auch ein Subjekt als Täter fordere. Diese Notwendigkeit eines Urhebers übertrage sich in andere Bereiche, Ursachen würden erfunden, obwohl es sie gar nicht gäbe. Somit wird für Nietzsche der Begriff der Kausalität als reines Konstrukt unbrauchbar, da sowohl Ursache als auch Wirkung und somit die „Kausalitätsinterpretation eine Täuschung“ seien. Geschehen seien stattdessen nur deshalb berechenbar, weil es sich um die „Wiederkehr identischer Fälle“ handle. Ein Geschehen ist nach Nietzsche „weder bewirkt, noch bewirkend“, woraus sich schließlich die Negation des menschlichen "Vermögen(s) zu wirken" ergibt. Notwendige Folge aus der widerlegten Kausalität muss also die Richtigkeit der Actio in distans bei Nietzsche sein.

Für Nietzsche ist also eine naturwissenschaftliche Welterklärung, die den Begriff der Kausalität zugrunde legt, großer Quatsch, eine rein gewollte Projektion, eine Illusion oder sogar billige Lüge, wenn sie damit die Annahme einer AID verhindern will. Selbstverständlich gibt es Actio in distans, denn attraktive „Frauen und ihre Wirkung in die Ferne“[22] beweisen es täglich. Nietzsches Variante einer sexuellen AID ist aber die, dass Frauen nur in der Ferne wirken und in der Nähe nicht mehr. „Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor allem - Distanz!“ Nietzsche vergleicht die Frauen mit einem großen Segelschiff, das den Betrachter beeindrucke, wenn es „schweigsam wie ein Gespenst“ dahingleitet. Wenn ein Mann aber inmitten der Brandung auf dem Segelschiff steht, dann bemerkt er dort „leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm“. Jede gespenstische Schönheit ist, aus der Nähe betrachtet, entzaubert, sei es nun ein schönes Segelschiff oder eine schöne Frau.

Hans Blumenberg

Die größte philosophische Relevanz erhält die Actio in distans bei Hans Blumenberg. Er führt die Verlagerung des Begriffs von der Metaphysik zur Anthropologie zu einem vorläufigen Ende. Kant grundiert (unbewusst) seine metaphysische Differenz von Repulsion und Attraktion in Körpererfahrungen. Schopenhauer verlagert die AID in die spiritistische Sphäre, Nietzsche beschränkt sie auf geschlechtliche Attraktion. AID heißt für Blumenberg die Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Mit seiner begrifflichen Variante, er spricht von actio per distans, erklärt Blumenberg seine Anthropologie. „Der Mensch, das Wesen, das sich aufrichtet und den Nahbereich der Wahrnehmung verlässt, den Horizont seiner Sinne überschreitet, ist das Wesen der actio per distans.“[23] Der Mensch steht auf, blickt über das Gras der Steppe – in die Ferne. Das Fernsehen verkörpert das menschliche Erfolgsrezept: Er handelt präventiv. Als „Fluchttier“ sieht sich der Mensch irgendwann der Notwendigkeit ausgesetzt, einen „körperlichen Nahkampf“ eingehen zu müssen. Die erste Actio in distans (First AID) ermöglicht einen Kompromiss, der „in der Handlung auf Entfernung, der actio per distans“ besteht. Und das heißt konkret: Waffen. „Wurfgeräte und Geschosse“ handeln in räumlicher Distanz, die Falle agiert in zeitlicher Distanz. In einer so verstandenen Actio in distans sieht Blumenberg den Ursprung von Sprache, Kultur und „Bildung von Gesellschaften“. Die Falle ist somit „der erste Triumph des Begriffs“. „Der Begriff ist aus der actio per distans, aus dem Handeln auf räumliche und zeitliche Entfernung entstanden.“[24] AID ist bei Blumenberg die absolute anthropologische Formel. Als eine Art Theorie of everything (TOE) erhält sie so wiederum metaphysische Qualität. Wenn die Falle der erste Begriff ist, ist der Begriff auch zugleich eine Falle: also Vorsicht!

Fazit

Von der antiken Metaphysik bis zur Physik der Gegenwart versucht die Naturwissenschaft hartnäckig, die Möglichkeit einer Actio in distans zu widerlegen, mit allerdings nicht vollständigem Erfolg. Eine untergründige Linie der Philosophie dagegen erkennt die AID als Prinzip der Welt.

Quellen

  • Blumenberg, Hans [1975]: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt a.M. 2007
  • Böhme, Hartmut/ Böhme, Gernot (1983): Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M.
  • Hegel, G.W.F. (1830): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Berlin
  • Hegel, G.W.F. [1831]: Wissenschaft der Logik. Bd. I. Theorie Werkausgabe Bd.5. Frankfurt a.M. 1969
  • Ihmig, Karl-Norbert (1989): Hegels Deutung der Gravitation. Eine Studie zu Hegel und Newton. Frankfurt a.M.
  • Kant, Immanuel [1786]: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Werke in zehn Bänden. Bd. 8. Darmstadt 1975
  • Leibniz, Gottfried Wilhelm [1710]: Die Theodizee. Hamburg 1968
  • Newton, Isaac [1730]: Opticks. New York 1952
  • Newton, Isaac [1726]: Isaac Newton’s Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Harvard 1972
  • Nietzsche, Friedrich (1969): Werke. Hg. Karl Schlechta. Frankfurt a.M.
  • Pollok, Konstantin (2001): Kants “Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft”. Ein kritischer Kommentar. Hamburg
  • Schopenhauer, Arthur [1851]: Versuch über das Geistersehen.

Einzelnachweise

  1. De anima, 405a19 und 411a7
  2. Symp. 202e
  3. Fr. 7
  4. Antigone 783f.
  5. Js 38,2-5; 1Kg 17,21; 2Kg 4,34; 20,7)
  6. Kap. 15
  7. Sum. Theol. I, q. 8 und q. 118, Sum. contr. Gen., cap. 20
  8. Sent., Lect 1, Dist 37, Quest. 1
  9. Sent. III, q.2 und q.4 und Sent. IV, q.7
  10. Opticks 376
  11. Principia CK, 764
  12. Nature Physics, März 2007
  13. Nature, 21. September 2006
  14. Theodizee, 48
  15. a b c a.a.O.
  16. Met. Anfangsgründe, Lehrsatz 8
  17. vgl. Böhme/Böhme
  18. Enzyklopädie § 265
  19. Wissenschaft der Logik, 657
  20. Versuch über das Geistersehn, 1851
  21. Werke III, 767
  22. Die fröhliche Wissenschaft, 60
  23. Theorie der Unbegrifflichkeit. S. 10
  24. a.a.O., S. 11

Siehe auch

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